ADB:Gerhardt, Carl Immanuel

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Gerhardt, Karl Immanuel“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 297–299, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gerhardt,_Carl_Immanuel&oldid=- (Version vom 25. April 2024, 13:43 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Gerber, Carl von
Band 49 (1904), S. 297–299 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Carl Immanuel Gerhardt in der Wikipedia
Carl Immanuel Gerhardt in Wikidata
GND-Nummer 116571411
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|49|297|299|Gerhardt, Karl Immanuel|Moritz Cantor|ADB:Gerhardt, Carl Immanuel}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=116571411}}    

Gerhardt: Karl Immanuel G. (auf den Titeln seiner Veröffentlichungen immer als K. I. Gerhardt bezeichnet), Mathematiker, geboren am 2. December 1816 zu Herzberg bei Torgau in Schlesien, † am 5. Mai 1899 zu Halle a. S. Vom Gymnasium zu Torgau aus bezog G. im Herbste 1884 die Universität Berlin, um sich dem Studium der Mathematik zu widmen. Gegen Ende 1837 doctorirte er und machte bald darauf sein Lehrerexamen. Nachdem G. während eines ihm als Probejahr angerechneten Jahres die Gelegenheit benutzt hatte, den erkrankten Lehrer der Mathematik am Gymnasium zu Eutin zu vertreten, wurde er Ostern 1839 in Salzwedel angestellt. Vom Herbste 1853–1855 war er Lehrer der Mathematik an dem Französischen Gymnasium und an der vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin, dann erhielt er Urlaub sowie ein Stipendium zu einer wissenschaftlichen Reise nach Lausanne, Mailand und Paris, von wo zurückgekehrt er 1856 als Professor nach Eisleben kam. Dem Eislebener Gymnasium gehörte G. von nun an, seit 1876 als Director, bis zum Schlusse seiner amtlichen Thätigkeit an. Dort feierte er am 29. September 1888 in voller Rüstigkeit und unter reger Theilnahme das Fest seines 50jährigen Amtsjubiläums, von dort aus trat er am 19. September 1891 in den erbetenen Ruhestand. Er wählte Halle als Wohnort, verließ aber diese Stadt wieder, als ihm dort nach halbjährigem Aufenthalte die treue Lebensgefährtin durch den Tod entrissen wurde. G. zog zu seiner mit einem Officier verheiratheten Tochter nach Mainz, von da mit ihr nach Graudenz, wo er seinen 80. Geburtstag feierte, 1897, nachdem sein Schwiegersohn den Abschied aus dem Militärdienst genommen hatte, zum zweiten Male nach Halle. Er bewahrte seine geistige Frische auch nachdem körperliche Gebrechen auftraten, deren von ihm am meisten beklagte Folge die war, daß er auf die gewohnten langen Spaziergänge verzichten mußte. Am 4. Mai 1899 war er noch bis 10 Uhr des Abends im Kreise seiner Familie, dann ging er zu Bette, am anderen Morgen fand man ihn entschlafen.

G. hat eine reiche schriftstellerische Thätigkeit, insbesondere auf dem Gebiete der Leibniz-Forschung entwickelt. Die Berliner Universität hatte als Preisaufgabe eine geschichtliche Darstellung der verschiedenen Begründungsweisen der Differentialrechnung verlangt, und Gerhardt’s Bearbeitung wurde 1837 mit dem Preise gekrönt. Von da an war die Richtung seines Arbeitens [298] entschieden. Ein Salzwedler Programm von 1840 behandelte die historische Entwicklung des Princips der Differentialrechnung bis auf Leibniz. Dann folgte 1846 die Herausgabe von Leibnizens „Historia et origo calculi differentialis“, welche G. unter dem in Hannover aufbewahrten handschriftlichem Nachlasse von Leibniz aufgefunden hatte. Zwischen beide Veröffentlichungen fallen einige geschichtliche Aufsätze im 2 und 3. Bande von Grunert’s Archiv. Wir haben weiter zu erwähnen: „Die Entdeckung der Differentialrechnung durch Leibniz“ u. s. w. (1848), „Die Geschichte der höheren Analysis“ I. (einziger) Band (1855), die Betheiligung an der Herausgabe von Leibnizens Gesammtwerken durch Bearbeitung der mathematischen, später auch der philosophischen Schriften (seit 1849). Dann gab G. 1865 das Rechenbuch des Maximus Planudes, 1871 das VII. und VIII. Buch der Sammlungen des Pappus heraus, mit welch letzterer Ausgabe ein Eislebener Programm von 1875 in Zusammenhang steht. Im Auftrage der Bairischen Akademie betheiligte sich G. an der „Geschichte der Wissenschaften in Deutschland“ durch Herstellung des 17. Bandes: „Geschichte der Mathematik in Deutschland“ (1877). Am Spätabende seines arbeitsreichen Lebens durfte G. eine neue Ausgabe von Leibnizens mathematischem Briefwechsel besorgen, deren 1. Band Weihnachten 1898 erschien, während der 2. Band bei Gerhardt’s Tode im Drucke war.

G. hat sich unzweifelhaft durch die Sichtung von Leibnizens handschriftlichem Nachlasse große und bleibende Verdienste erworben. Erst durch die bei dieser Gelegenheit an das Licht gezogenen, mit Datumsangabe versehenen Schriftstücke ist es möglich geworden genau zu erkennen, wie Leibniz der Infinitesimalrechnung schrittweise näher kam, bis er das Ziel erreichte. Auch der Wiederabdruck schon da und dort veröffentlichter Abhandlungen und Briefe war im höchsten Grade dankenswerth. Einleitungen zu den einzelnen Abschnitten erleichtern den Gebrauch, wenn sie auch das leider fehlende Register nicht zu ersetzen vermögen. Auch für das Bekanntgeben des Rechenbuches des Maximus Planudes wird man G. erkenntlich sein. Seine Arbeiten über Pappus suchten eine von keinem anderen Historiker getheilte Meinung zu vertheidigen, als habe die Sammlung des Pappus nur aus drei Büchern bestanden, dem vereinigten 3. und 4. Buche, dem 7. Buche und dem 8. Buche.

Was die „Geschichte der Mathematik in Deutschland“ betrifft, so war sie, nach unserer Meinung, ein von vorn herein verunglücktes Unternehmen, wenn der Verfasser sich nicht entschloß, die Aufgabe viel weiter zu fassen, wie es etwa Rud. Wolf im 16. Bande der gleichen Sammlung durch seine Geschichte der Astronomie (1877) gethan hat. Bei einer so völkergemeinsamen Wissenschaft, wie die Mathematik es ist, läßt sich kaum für die ältesten Zeiten eine Scheidung auf geographischer Grundlage durchführen. Die Geschichte der Mathematik zeigt uns, daß in der ganzen Wissenschaft wie in einzelnen Abschnitten derselben bald dieses, bald jenes Volk die Führung übernahm, daß die jeweils zurückbleibenden Völker jedoch lernend wenn nicht lehrend den Fortschritt mitmachten, bis sie ganz unerwartet und plötzlich an der Spitze standen. Diese Thatsache hat die Unmöglichkeit zur Folge, eine gute Geschichte der Mathematik in Deutschland zu schreiben. Ob es G. an dem Bewußtsein dieser Unmöglichkeit fehlte, ob an dem weiten geschichtlichen Ueberblick, durch welchen Wolf sich auszeichnete, und welcher dessen vorerwähnten 16. Band zu einer Zierde der ganzen Sammlung hat werden lassen, das vermögen wir nicht zu entscheiden.

Vgl. Vollheim, Geschichte d. königlichen Gymnasiums zu Eisleben von 1846–1896. Festschrift zur dreihundertfünfzigjährigen Jubelfeier (Eisleben [299] 1896). – Briefliche Mittheilungen von Oberst v. Ludwiger, dem Schwiegersohne K. I. Gerhardt’s.