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Aus der Welt jugendlicher Verbrecher in Berlin

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Textdaten
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Autor: Theodor Krause
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Titel: Aus der Welt jugendlicher Verbrecher in Berlin
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 153–155
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Aus der Welt jugendlicher Verbrecher in Berlin.

Von Theodor Krause in Rummelsburg.

Die folgenden Mittheilungen haben nicht den Zweck, ähnlich der gegenwärtig vielbegehrten Gerichtssaal-Literatur flüchtig zu unterhalten. Sie fordern ein tieferes, nachhaltigeres Interesse, welches zu entzünden schon der Ueberschrift gelingen sollte. Es muß bewiesen werden, daß für keinen Zweig der öffentlichen Erziehung so wenig gethan wird und so viel zu thun erübrigt, als für die Rettung sittlich-verwahrloster Kinder, und daß weitaus das Meiste dessen, was geschieht, hervorgegangen ist aus der Religiosität oder der Humanität Einzelner, aber nicht aus der Verpflichtung Aller. Vor dem Bemühen, diese allgemeine Verpflichtung zum Bewußtsein zu bringen, treten zunächst alle Fragen nach den Ursachen jener Interesselosigkeit und nicht minder alle etwaigen Vorschläge für die beste Lösung der großen Aufgabe in den Hintergrund. Jedes Rettungshaus, gleichviel ob „rauhhäuslerisch“ oder „zuchthäuslerisch“ organisirt, ist als Abschlagszahlung auf die öffentliche Schuld Jedermanns der Anerkennung und Unterstützung würdig. Wir wünschen Propaganda nicht für eine Richtung, sondern für die Sache zu machen, welche zunächst allerdings den Staat angeht. Der Pflicht, für die Sicherheit der Staatsbürger zu sorgen, wird gewiß nicht damit genügt, daß man die der Gesellschaft feindlichen Elemente zeitweilig ausstößt. Man muß sie vielmehr derselben versöhnt zurückgeben. Das ist Sache der Erziehung. Mit Erfolg läßt sich aber nur die Jugend erziehen, darum beginnt jene Schutzpflicht des Staates schon mit Rücksicht auf die Jugend, und es ist falsch, den Stadtgemeinden diese Pflicht zuzuschieben. Sollte sich unsere Beweisführung der exacten Jurisprudenz gegenüber nicht stichhaltig erweisen, so wird ein Appell an die öffentliche Meinung um so sicherer gelingen.

Tausende von Familien, und nicht ausschließlich der ärmeren Classe, kennen die herzbrechende Last eines mißrathenen, eines verlorenen Sohnes. Sie alle wissen es, welch’ reißende Fortschritte das Laster in dem Kinde macht, trotz der Mutter Milde und Thränen, trotz des Vaters Autorität und Strenge. Einige Wenige können voll Dankbarkeit den Tag preisen, der in ihnen den Entschluß zur Reife brachte, das noch junge Kind einer Rettungsanstalt zu übergeben. Viele aber bereuen es, zu diesem Entschlusse „zu spät“ oder gar nicht gekommen zu sein. Die Frage nach der Nothwendigkeit eines besonderen Erziehungsapparates wird tausendstimmig bejaht werden. Eine andere Frage ist, ob die Massenerziehung in Anstalten, oder mehr die Einzelerziehung in Familien einen günstigen Erfolg sichert. Die letztere Form hat unerreichte Vorzüge, wenn – man die geeigneten Familien gefunden hat, in welchen die Erziehung der verwahrlosten Kinder gleichmäßig von Mann und Frau mit liebevoller Hingabe und peinlicher Treue von vorn angefangen wird. Das einzig-sichere Besserungsmittel bleibt ja unter allen Umständen die Neugewöhnung. Gegenüber der Verwahrlosung durch Armuth, Charakterschwäche oder böses Beispiel hat aber nur ein Jahr einer nach festen Grundsätzen geordneten Erziehung noch nicht einmal den Erfolg der Aussöhnung mit den neuen Verhältnissen. Darum sei wiederholt auf das drohende „zu spät!“ verwiesen.

Was die Mittheilungen selbst anbelangt, so beruhen sie durchweg auf eigenen Erlebnissen des Verfassers, der als Lehrer in der bekannten Anstalt Rummelsburg bei Berlin fungirt. Jeder romantische Aufputz ist verschmäht in der Annahme, daß das Leben in seiner wahren Gestalt eine eindringlichere Sprache redet, als das kühnste und gelungenste Phantasiegebilde. Mit der objectiven, fast protokollarischen Fassung sollte die drohende Klippe pädagogischer Problemhascherei und Wahrsagerei umsteuert, das Nachdenken und ein thatkräftiges Gefühl für die Rettung verwahrloster Kinder aber um so unmittelbarer angeregt werden. Wie weit dies gelungen – der Leser mag’s entscheiden.


1. Matthias.

Die Glocke am Eingange des Rettungshauses läutete auffallend stark und anhaltend. Von allen Seiten, aus den Wohnräumen, vom Arbeitssaal, von der Gartenthür her richteten sich neugierige Blicke auf die Pforte. Gleichzeitig öffnete sich diese, und ein Schutzmann, mit kräftiger Faust einen etwa dreizehnjährigen schlanken Burschen vor sich her schiebend, wurde sichtbar. Er verlangte zum Director geführt zu werden. Ich, als dessen zeitweiliger Vertreter, ging ihm entgegen. Er überreichte mir ein [154] Actenfascikel, empfahl, auf seinen jungen Begleiter deutend, im Auftrage seines Chefs die größte Vorsicht und entfernte sich militärisch grüßend. Ich führte den Knaben in mein Zimmer und begann ein kurzes Examen. Das Ergebniß desselben war eine Wiederholung der düstern Geschichte, die wir von fast jedem der uns zugeführten Kinder hören müssen. Auch unser Neuling kam direct aus dem Polizeigefängniß, wo er für Diebstahl im dritten Rückfalle eine vierzehntägige Gefängnißstrafe verbüßt hatte. Ehe ich ihn zu reden nöthigte, ließ ich meine Augen eine Weile prüfend auf seinem Gesicht ruhen. Er begegnete meinem Blick und erröthete. Dies war mir das erste Zeugniß über sein inneres, und im Andenken an meine täglichen Erfahrungen mußte ich es ein günstiges nennen, obwohl mich die grauen Augen mit den bläulichen Schatten unangenehm lauernd maßen. Sie füllten sich schon bei den ersten Worten der Erzählung mit Thränen. Unter Schluchzen bekannte er seine Diebstähle, ergriff endlich meine Hand und gelobte ernstliche Umkehr und Besserung.

Ich war vor anderthalb Jahren, erfüllt von heiligem Eifer und warmer Theilnahme für die verwahrloste Jugend, nach Berlin gekommen, hatte bisher nicht vergeblich gearbeitet, diesen Erfolg aber mir selbst durch die Annahme erklärt, daß die Vorgeschichte meiner Zöglinge, wie es in vielen Fällen erwiesen war, durch die eigenen Angehörigen übertrieben schlimm dargestellt, daß das Werk der Rettung also nichts Unmögliches sei. Die soeben erlebte Scene war mir nun durchaus neu, denn Aufnahme und Einweisung der Knaben gehörten naturgemäß zu den Obliegenheiten des Directors. Zudem befand sich das amtliche Schriftstück in bester Uebereinstimmung mit dem mündlichen Bericht, und so war ich geneigt, die Reue des Knaben zunächst für echt und jene Warnung des Schutzmanns für überflüssig zu halten. – Abends erschien der Director, um meine Mittheilungen entgegen zu nehmen. Er war wie immer für die mildeste Auslegung des Falles geneigt und hatte schon nach wenigen Tagen von Matthias, wie der Knabe genannt wurde, eine auffallend günstige Meinung gewonnen. In der That überflügelte dieser an geistiger Begabung, gutem Anstande, entgegenkommender Dienstfertigkeit und körperlicher Gewandtheit alle seine Genossen. Bald machte sich sein Einfluß bemerklich. Damit verdoppelte sich unsere Aufmerksamkeit. In den nächsten Conferenzen spielte Matthias eine nicht geringe Rolle. Ich erklärte auf Grund scheinbar unbedeutender Vorkommnisse offen mein Mißtrauen und mahnte, den Knaben vor der Hand noch unter besondere Aufsicht zu stellen, ihn aber keinesfalls auszuzeichnen. Ich fand kein Gehör, denn die geistige und körperliche Kraft des Knaben hatte, wie ich bemerken mußte, nicht nur den Zöglingen, sondern auch den Aufsehern und Dienstboten imponirt. Der Director faßte den Plan, dieses Uebergewicht zum Besten der Ersteren walten und wirken zu lassen.

Drei Wochen that Matthias seine Schuldigkeit. Schon war ich geneigt, jener milderen Anschauung das Feld zu räumen, da – es war am Morgen eines Sonntags und Alles zum Kirchgange gerüstet – wurden Matthias und gleichzeitig Rock, Stiefel und Geldbeutel des kleinsten der Aufseher vermißt. Bald war die Stelle der Gartenwand gefunden, die dem Flüchtling für den Rückzug geeignet erschienen war. Doch nicht lange sollte er seiner Freiheit sich freuen. Der Telegraph trug den Befehl, auf ihn zu fahnden, nach allen Polizei-Stationen, seine Photographie war schon früher mitgetheilt und schon am nächsten Morgen wurde er uns von demselben Schutzmanne zugeführt, der zum ersten Male sein Begleiter war. Sein Weg ging jetzt ohne Weiteres in das Carcer, eine einfenstrige geräumige Stube des dritten Stockwerks, welche ihrer eigentlichen Bestimmung nur äußerst selten übergeben und gewöhnlich zur Schneiderei benutzt wurde. Der Director ordnete an, daß Matthias in diesem Raume bis Ende der Woche wie ein Gefangener behandelt, das heißt zur Arbeit von früh bis spät angehalten und, so weit dies möglich, nie ohne Aufsicht gelassen werden sollte. Die Woche verging. Sonnabend Abend war Conferenz. Ich warf, ehe ich das Conferenzzimmer betrat, noch einen Blick durch das auf demselben Corridor befindliche Flurfensterchen des Carcers. Matthias lag schon im Bette. Der wachhabende Aufseher meldete mir, sein Schützling habe über Kopfweh geklagt und sei schon um sechs Uhr zur Ruhe gegangen. In meiner Neigung zum Mißtrauen hielt ich das Kopfweh für simulirt, trat in den Raum und fühlte Matthias nach Puls und Stirn. Ich mußte sein Befinden für normal halten. Der Umstand aber, daß er, der sonst so leise schlief, bei meiner Berührung nicht erwacht war, gab mir einen weiteren Verdachtsgrund. Ich untersuchte genau Ofen, Thür und Fenster. Letzteres war mit starken Eisenstäben vergittert, dies jedoch in ungewöhnlicher Weise so, daß sich von oben viertelkreisförmige und von den Seiten gerade Stäbe nach außen schwangen. Die so entstehende Oeffnung nach unten füllte ein schwerer hölzerner Fensterladen aus, welcher geschlossen oben nur eine Oeffnung von neun Zoll ließ, geöffnet aber von den umgebogenen Enden der krummen Stäbe aufgefangen wurde. Die unter der Brüstung außen eingegypsten Charniere waren sehr dauerhaft. Eine Flucht durch dieses Fenster im dritten Stockwerk war schlechterdings undenkbar. Das Thürschloß jedoch fand ich lose in den Schrauben. Auf meine Mahnung wurde noch ein Vorlegeschloß angebracht und so hielten wir unsern Gefangenen für hinlänglich verwahrt.

Die Sechs-Uhr-Glocke hatte den Anbruch des Sonntags noch nicht verkündet, als mich auffallendes Laufen und Lärmen auf dem Hofe weckte. Ich fuhr an’s Fenster und: „Matthias ist ausgerückt!“ war das Erste, was ich hörte. Nach fünf Minuten war ich in der leeren Zelle. Die Flucht war durch das Fenster erfolgt. An einem der runden Stäbe hing ein langer, geknoteter Streifen Leinwand: das zerschnittene Betttuch. Matthias hatte es zur Vergrößerung der Haltbarkeit in seinem Nachtgeschirr angefeuchtet. Wie aber war der Bursche über den unversehrten Fensterladen und wie war er bis hinunter gekommen? Ein Knabe fand die Erklärung. Sie lautete: Matthias hat den Fensterladen aufgezogen, den leinenen Streifen befestigt, sich durch die neunzöllige Lücke gedrängt und dann bis zum Fenster des ersten Stockwerks hinabgelassen. Hier hat er mit den Füßen die Scheiben eingestoßen und das Fensterkreuz umfaßt, endlich das dünne Weinspalier erreicht und an diesem die Flucht fortgesetzt. Die Stäbe desselben sind gebrochen und Matthias ist herabgestürzt. Zahlreiche Spuren an der Hauswand und im Sande des Gartens bezeugten die Richtigkeit dieser Auslegung. Matthias war verschwunden. Alle Versuche, seiner habhaft zu werden: Nachfragen bei den Verwandten, Verhöre der Knaben, welche Matthias ausgezeichnet hatte, Anzeigen bei in der Stadt zerstreut wohnenden Freunden der Anstalt und schließlich bei der Polizei – blieben erfolglos. Die Aeußerungen zweier Knaben lenkten meine Aufmerksamkeit auf zwei Orte, welche Matthias möglicherweise zu seinem zeitweiligen Aufenthalte nehmen konnte: ein Kaffee-Local niedersten Ranges in der Klosterstraße und ein berüchtigter Keller am Alexanderplatz. Hier erschien ich wiederholt zu verschiedenen Tageszeiten, in jenem Keller allerdings nur in Begleitung eines Schutzmannes. Meine Gänge waren vergebliche. Fünf Wochen vergingen. Jede Spur von dem Knaben schien verloren.

Da, eines Sonnabends – es war Jahrmarkt auf dem Dönhofsplatz – ging mir’s durch den Kopf, daß Matthias im Gedränge des Marktverkehrs leichte Arbeit für seine langen Finger erhoffen, er selbst also auf dem Markte zu finden sein würde. Von diesem Gedanken ganz erfüllt, beurlaubte ich mich unter Angabe meiner Aussicht beim Director schon ein Uhr Mittags. Bis vier Uhr patrouillirte ich zwischen den Buden auf und ab. Als ich merkte, daß die Menschenmenge sich lichtete, wählte ich den nächsten vom Dönhofsplatz nach den nördlichen Vorstädten führenden Weg über den Hausvoigteiplatz, den Werderschen Markt und den Schloßplatz nach der Königsstraße, machte beim Hegel’schen Bilderladen (Poststraßen-Ecke) Halt und beobachtete genau die Vorüberziehenden. Später machte ich Kehrt und setzte meine Beobachtung im Spiegel der großen Schaufensterscheiben fort. Etwas abgespannt, verließ ich halb sechs Uhr meinen Posten, um, dem Menschenstrome entgegen, auf dem vorher zurückgelegten Wege den Dönhofsplatz wiederzugewinnen. Ich kam bis zur sogenannten „gleichgültigen“ Ecke.[1] Hier winkte ganz in der Nähe das Schauspielhaus. Shakespeare’s „bezähmte Widerspenstige“ war angekündigt, und ich beschloß, meine Schaulust nicht zu bezähmen. Bei Bothe u. Bock aber lagen einige musikalische Novitäten aus, und ich blieb stehen, sie zu mustern.

Unwillkürlich benutzte ich die Fensterscheiben wieder als Spiegel, ein Blick und – drüben auf dem Trottoir ging Matthias [155] Arm in Arm mit zwei Burschen seines Alters. Einen Augenblick traute ich meinen Augen nicht. Das in den fünf Wochen langgewachsene Haar und der feine modische Anzug entstellten den jungen zu seinem Vortheil. Im nächsten Augenblick jedoch hatte ich ihn erkannt. Mich durchzuckte es ganz eigenthümlich. Obwohl ich mich freute, der Anstalt einen Dienst erweisen zu können, überwog doch das unheimliche Gefühl meiner halbpolizeilichen Mission. Enfin – es galt den Burschen zu fassen! Ich drehte mich nicht gleich um, sondern ließ die Drei, welche ganz und gar mit ihren Cigarren beschäftigt schienen, fast bis zur Ecke kommen. Sie schwenkten ab, um die Jägerstraße rechtwinklig zu schneiden und der Oberwallstraße zu folgen. In demselben Augenblick sah und erkannte mich Matthias, ließ seine Begleiter los und war pfeilschnell in der Wallstraße verschwunden. Ich ihm nach. Er gebrauchte die Schlauheit, auf dem Trottoir zwischen den Menschen zu bleiben, so daß ich ihn aus den Augen verlieren mußte. Ich wählte mit mehr Vortheil das Pflaster, wo ich nicht auszuweichen hatte. In der Nähe des jetzigen Telegraphen-Amtes erreichte ich ihn. Sogleich suchte ich seine rechte Hand zu fassen, weil mich eine verdächtige Bewegung derselben nach der Tasche auf eine Messer-Vertheidigung gefaßt machte. Ein kurzer Kampf entspann sich. Matthias befreite seine rechte Hand, fuhr damit in die Tasche und – hob sie einen Augenblick darauf mit allerlei Silbermünzen gefüllt schreiend in die Höhe: „Das Geld habe ich gestohlen! Ein Schutzmann soll mich arretiren!“

Die ganze Scene hatte genügt, einen Knäuel von etwa zweihundert Menschen um uns zu versammeln. Wie auf ein gegebenes Zeichen drängten sich unheimliche Gestalten in unsere unmittelbare Nähe und suchten unter Drohungen den Knaben meiner Hand zu entwinden. Aber diese saß wie eine eiserne Klammer am linken Handgelenk meines Gefangenen. Mit wenigen Worten hatte ich einige anständige Herren in’s Interesse gezogen, diese bildeten eine schmale Gasse durch die Menge, ich ließ plötzlich die Hand des Knaben los, umklammerte aber in demselben Augenblicke seinen Nacken, schob ihn vor mir her, setzte mich, als Raum gewonnen war, mit ihm in schnelle Gangart und stürmte das Endstück der Französischen Straße entlang dem Werder’schen Markte zu. Hier standen Droschken. Einer der Kutscher hatte die Scene von Weitem beobachtet, merkte, als ich ihm zuwinkte, meine Absicht, öffnete den Wagenschlag und saß zum Abfahren bereit, als ich mit Matthias ankam. Kopfüber warf ich diesen in den Wagen, sprang hinterdrein, und fort ging es durch die gaffende Menge hindurch dem Rettungshause zu. Das Ganze war das Werk weniger Minuten und Matthias durch die überraschende Schnelle des Vorgangs etwas verblüfft. Aber bald hatte er die Situation erkannt, stürzte mir zu Füßen und bat mich weinend und händeringend, ihn nicht in die Anstalt, sondern zur Stadtvoigtei zu bringen, vorher aber ihm sein Geld abzunehmen. Auf die letzte Forderung ging ich ein. Er mußte mir Alles zuzählen. Aus großen und kleinen Silbermünzen wurden bald gegen dreißig Thaler. Er gestand ohne Weiteres, daß er dieses Geld gestohlen und zwar nur aus Damentaschen. Mit gleicher Offenheit beschrieb er die ganze Manipulation.[2] Mit größerer Dringlichkeit kam er auf seine erste Bitte zurück. Als ich unerbittlich blieb, wurde er still. Ich blieb ebenfalls still, denn die eben gemachte Erfahrung nahm mir jede Hoffnung, den bald vierzehnjährigen Knaben im Rettungshause zu halten und zu bessern: er war schon jetzt für eine Correctionsanstalt reif.

Der Wagen hielt. Der Kutscher zog die Anstaltsglocke. Es war gerade die Zeit des Arbeitsschlusses. Alle Knaben waren auf dem Hofe oder in der Nähe desselben. Als ich mit Matthias erschien, erhob sich von allen Seiten ein jubelndes Rufen: „Matthias ist wieder da! Herr K. hat ihn gefangen!“ Die Knaben wußten, wie sehr uns die Sache interessire, so war ihr Interesse mit erwacht, allerdings aus ganz verschiedenen Beweggründen. Einige Wenige zeigten aufrichtiges Bedauern, daß uns der Junge so viel Arbeit mache –; Andere hielten es für ehrenrührig und schändend für’s Haus, wenn Matthias ferner unter uns lebe, wieder Andere hatten nur die Frage erwogen, ob es uns gelingen würde, ihn zu fangen oder nicht; die Letzten endlich freuten sich unverhohlen über die Bravour ihres Cameraden und stellten neue, schlimmere Streiche in Aussicht. Allen aber imponirte es, daß ich Mittag ein Uhr mit der ausgesprochenen Absicht, Matthias zu fangen, die Anstalt verlassen und nun mein Versprechen gelöst hatte. Sie glaubten mich mit der geheimen Polizei in Verbindung, und mit dieser Annahme war manches Project zum „Ausrücken^ aufgegeben.

Matthias blieb ganz gegen Erwarten ruhig in der Anstalt. Er hatte seinen Plan geändert und machte eine besondere Aufsicht nach und nach überflüssig. Ein halbes Jahr hielt er aus, dann wurde er auf sein Drängen von seinen Verwandten reclamirt und entlassen. Er ist mir nicht aus den Augen gekommen. Noch Anfang December sprach ich ihn – im Zellengefängniß, wo er für Theilnahme am Raubmord eine fünfzehnjährige Einzelhaft verbüßt. Ein von ihm geschnitzter Brodteller mit der Randschrift: „Unser täglich Brod gieb uns heute!“ steht täglich vor mir.



  1. Bei der Kreuzung von Oberwall- und Jägerstraße ist auf der einen Seite die bekannte Parfümerie von Treu u. Nuglisch, auf der andern das vielbesuchte Wurstgeschäft von Niquet. Der Berliner sagt nun: „Auf der einen Seite ist mir alles Wurscht, auf der andern alles Pomade!“
  2. Die beiden anderen Knaben waren seine Compagnons. Der erste geht dicht an einer schon vorrher beim Einkauf beobachteten Dame vorüber und überzeugt sich durch schnelles, leises Betasten, daß das Portemonnaie etwa in der rechten Kleidtasche ist. Der zweite drangt jetzt unter irgend einem Vorwande von der andern Seite gegen die Dame, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Im gleichen Moment escamotirt der dritte das Portemonnaie und steckt es dem zurückkehrenden ersten blitzschnell zu. Dieses letzte Manövre hat für den Fall der Ertappung in flagranti den Vortheil, daß das corpus delicti nicht gefunden wird. Matthias hatte als der Gewandteste stets die Rolle des Dritten gehabt.