Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius

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Autor: Joseph Stoffels
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Titel: Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius
Untertitel: Ein Beitrag zur Geschichte der Mystik
aus: Theologie und Glaube, 2. Jahrgang
Herausgeber: Professoren der Bischöflichen philosophischen Fakultät zu Paderborn
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Erscheinungsdatum: 1910
Verlag: Ferdiand Schöningh
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Erscheinungsort: Paderborn
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[809]
Die Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius.
Ein Beitrag zur Geschichte der Mystik.
Von Repetent Dr. Jos. Stoffels, Bonn.
(Schluß.)

III. Der wahre Charakter der dämonologischen Symptome. Erklärung ihrer Genesis.

     Unsere Prüfung folgt der Entwicklung des dämonologischen Phänomens auf seinem Wege von innen nach außen. Wir beschäftigen uns also zunächst mit demjenigen Teil des Untersuchungsmaterials, welches die ins Bewußtsein tretenden, inneren Vorgänge darbietet. Es sind zunächst quälende Gedanken, die sich immer wieder, selbst während der Nachtruhe ins Bewußtsein drängen und zum Aufstehen, zum Gebet, zur vollständigen Nahrungsenthaltung mahnen, und die doch von den Mönchen als gänzlich unberechtigt erkannt werden. Sie sind aber imstande, die Aszeten zur Verzweiflung und zum stärksten Ekel am Einsiedlerleben zu treiben (c. 25). Wir kennen die gleichen Symptome in großer Zahl und Mannigfaltigkeit und nennen sie seit 1867 mit Krafft–Ebing „Zwangsvorstellungen“. „Es gibt zahlreiche Gemüts- und Nervenkranke, die darüber klagen, daß sie gewisse quälende, lästige Gedanken, deren Ungereimtheit und Ungehörigkeit sie vollkommen einsehen, nicht los werden können, daß diese Gedanken sich beständig in ihr bewußtes, logisches, assoziiertes Vorstellen eindrängen, sie in dem Ablauf desselben stören, dadurch beunruhigen, ja selbst sich mit Impulsen zu entsprechenden Handlungen verbinden, die, je nach ihrem Inhalt, der Betreffende lächerlich oder abscheulich findet.“[1] Wohl noch häufiger [810] als diese Zwangsgedanken tritt im Leben des Einsiedlers und seiner Jünger eine Gruppe verwandter psychischer Vorgänge auf, in denen ein plötzlicher Gedanke an unheildrohende Dämonen heftigen Schrecken auslöst und starke Angstgefühle wachhält. Das Untersuchungsmaterial bietet eine Menge Belege dafür. Es sei nur an die typische Angst, vom Teufel in die Höhe gehoben und herabgestürzt zu werden, erinnert (c. 42). Charakteristisch für alle diese Befürchtungen ist, daß die ruhige Überlegung sie als unbegründet erkennt. Es handelt sich also um sog. Phobien. „Es ist klar, daß die Phobien zu den Zwangsideen zu rechnen sind und nur dadurch eine besonders markante Gruppe unter denselben bilden, daß eben das sie begleitende Gefühl das der Angst und Furcht ist.“[2] „Unter allen Umständen handelt es sich da, wo solche Zwangsvorstellungen und Angsterscheinungen auftreten, um einen Zustand reizbarer Schwäche im zentralen Nervensystem, als Teilerscheinung eines temporären oder dauernden funktionellen Schwächezustandes im Gehirn (Neurasthenie). Dies gilt auch für jene bekannten, noch physiologischen Zwangsvorstellungen und Zwangsimpulse zum Hinabstürzen von Türmen oder Felsen, Hinabstürzen anderer u. dgl. Immer treten sie da auf, wo eine relative Erschöpfung durch geistige Überanstrengung, schlaflose Nacht, Nahrungsmangel usw. besteht“[3] – Ursachen, die bei den ägyptischen Aszeten in hohem Maße vorlagen. Ist sonst das Taedium vitae eine Begleiterscheinung solcher Zustände (Kr.–Ebing 209), so hier speziell das Taedium vitae monasticae (c. 25). „Auf der Höhe des Krankheitszustandes fehlen selten schreckhafte Sinnestäuschungen (Gehör, Gesicht) und schreckliche Vorstellungen drohenden Unheils, in welchen die Angst sich objektiviert“ (Kr.–Ebing 208).

     Indes, so wird mancher Leser im stillen einwenden, wenn es sich um rein psychische Vorgänge, um Zwangsgedanken und Phobien handelt, warum haben sie bei Antonius denn gerade und beständig das Treiben von Dämonen zum Inhalt. Die These wäre doch erst dann wahrhaft und allseitig begründet, wenn auch der Nachweis erbracht würde, daß die Entwicklung einer Dämonophobie für Antonius und seine Mönche im Bereiche nicht bloß der Möglichkeit, sondern auch der Wahrscheinlichkeit lag. Nun gut! Ich kann zwar in diesem Zusammenhang nicht ausführlich die außerordentliche Macht darlegen, die der Dämonenglaube über die sinkende alte Welt, in welche die junge Christenheit mit seelischer Hochspannung hineinwuchs, ausgeübt hat. Nach J. Dölgers vortrefflicher Studie: Der Exorzismus im altchristlichen Taufritual (Paderborn 1909) ist es auch nicht mehr notwendig. Er bezeichnet auf Grund zahlreicher Quellen als die gemeinschaftliche Auffassung des Urchristentums: „Mit dem Heiden und Ketzer ist der Teufel verbunden, er wohnt in ihm“ (S. 24). „Ein jedes schwere Vergehen hat zur Folge, daß der Teufel in das Menschenherz eindringt“ (S. 25). Neben dieser ethischen Besessenheit, die gewöhnlich nicht realistisch genug verstanden wird, fürchtet das christliche Altertum auch sonst noch die mannigfachsten Nachstellungen der Dämonen. Ich beschränke mich auf Zeugnisse aus Ägypten, der Heimat unseres Einsiedlers. Klemens von Alexandrien hat uns ein Exzerpt aus Theodot aufbewahrt, das folgende merkwürdige Belehrung gibt: „Eigentlich müßte man zur Taufe mit freudig erregtem Herzen hinzutreten. Allein, da es öfters vorkommt, daß [811] unreine Geister zusammen mit Täuflingen ins Wasser steigen und so mit dem Menschen des Siegels teilhaftig und dadurch unausrottbar werden, so ist damit ein Grund gegeben, warum sich mit der Freude Furcht verbindet, daß er allein und reinen Herzens ins Taufbad steigt.“[4] Das Euchologion des ägyptischen Bischofs Serapion von Thmuis, das in manchen seiner Teile in die Zeit des Antonius zurückreicht, enthält eine εὐχὴ εἰς ἔλαιον νοσούντων ἢ εἰς ἄρτον ἢ εἰς ὕδωρ. „damit sie für die, welche sich damit salben lassen oder welche diese Dinge genießen, ein Mittel werden zur Vertreibung jeder Krankheit und jeder Schwachheit, zum Gegengift gegen jeden Dämon, zur Vertreibung jedes unreinen Geistes, zum Bannen jedes bösen Geistes, zur Vertreibung jeder Fieberhitze und Fieberkälte usw.“[5] Gehen wir über die Zeit des Einsiedlers Antonius hinaus, so begegnet uns auch da die Auffassung, daß man von den Dämonen jegliche körperliche Belästigung gewärtigen müsse. Makarius der Ägypter, des Antonius Freund, erzählte seinem Jünger Evagrius Pontikus, daß die Dämonen sich verdünnen, im Innern des Mundes ansetzen und dadurch ein unnatürliches Gähnen der Mönche bewirkten. Gemäß alter ehrwürdiger Überlieferung bezeichne man deshalb beim Gähnen den Mund mit dem Kreuze. Auch weiß Evagrius aus eigener Beobachtung zu berichten, daß die Dämonen zuweilen einen ganz unnatürlichen Schlaf über die Mönche bringen, indem sie mit ihrem sehr kalten, eisartigen Leibe sich an die Stirne des Menschen legen, die Kopfwärme zu sich hinüberleiten und so die Augenlider vor Frost und Feuchtigkeit erschlaffen machen.[6] Die altchristliche Überzeugung, daß die Dämonen als ätherische, aber sehr reale Wesen die Luft erfüllen, daß sie im Heidentum als Götter triumphierten[7] und die geschworenen Feinde der Christen sind, genügte, um eine lebhafte Dämonenfurcht in gläubigen Kreisen zu erregen und zu erhalten. Antonius’ Gedanken bewegen sich ganz in dieser Welt. Er befolgt und wiederholt immer aufs neue die Mahnung des Apostels: „Zieht die Rüstung Gottes an, daß ihr stehen könnt wider die Nachstellungen des Teufels. Denn unser Kampf richtet sich nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Gewalten, gegen die Mächte, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die pneumatischen Wesen der Bosheit in den Himmelsräumen.“[8] Der Einsiedler gibt dem Schriftwort folgende Erklärung: „Wir haben gewaltige und sehr listige Gegner … Zahlreich ist also ihre Schar in der Luft um uns, und sie sind nicht weit von uns“ (c. 22). „Wenn sie an solche Leiber gebunden wären, wie wir sind, … dann könnten wir uns vor ihnen verstecken und verborgen halten, indem wir die Türen vor ihnen schlössen. Indes sie sind nicht so; sie können vielmehr bei verschlossenen Türen eindringen und sind in der ganzen Luft, sie und ihr Haupt, der Teufel. Sie sind aber böswillig und darauf aus, zu schaden“ (c. 28). Sie haben im Heidentum insbesondere durch ihre Orakel [812] die Menschen irregeführt (c. 33) und sich von ihnen göttliche Huldigung erweisen lassen (c. 78. 79). Auch jetzt noch suchen sie durch Prophezeiungen die Mönche zu betören, indem sie ihnen das Steigen des Nils (c. 32) oder die Ankunft von Reisenden (c. 31) einige Tage zuvor ankündigen.[9]

     Dazu kommt, daß sie durch immer wechselnde Gestalten die Menschen zu erschrecken vermögen. Das sind gewiß Momente, welche eine nervöse Furcht wacherhalten können, selbst da, wo der Glaube an den Sieg Christi über die Macht der Dämonen lebendig ist. Die Dämonophobie des Einsiedlers hat indes noch einen spezielleren Grund. Antonius wurzelt tief in der alten Volksanschauung, daß die Dämonen sich vornehmlich bei Grabmälern und in der Wüste aufhalten. Sie versicherten ja auch dem Einsiedler, und zu anderer Zeit den beiden großen Aszeten Makarius von Ägypten und von Alexandrien, daß durch die Ausbreitung des Christentums ihre Bewegungsfreiheit außerordentlich bedroht sei, und daß sie ihre letzte Position, die Wüste, mit aller Energie zu verteidigen gedächten.[10] So bekommt – das klingt deutlich aus der Schrift des hl. Athanasius hervor – das aszetische Ideal des Antonius den Einschlag, er müsse durch sein Vordringen zu den Grabmälern und durch die Eroberung der Wüste den Feind aus seinem eigentlichen Gebiete verdrängen. Man vergegenwärtige sich die Situation: der Einsiedler ist weit von menschlicher Hilfe entfernt, tief in der unheimlich stillen Wüste. Sein Glaube sagt ihm, daß die ganze Luft um ihn von listigen Dämonen erfüllt ist, welche die treuen Diener Gottes zu schrecken und zu quälen trachten. In Augenblicken, wo der feste und lebendige Glaube an Christi Sieg über die Dämonen im Blickpunkt seines Bewußtseins steht, mag er die Dämonen mitleidig belächeln. Aber der einzelne Glaubensakt sinkt unter die Bewußtseinsschwelle. Das Gefühl der Schwäche, welches die kontemplative Überanstrengung oder die in Wüstenhitze, Fasten und Nachtwachen begründete körperliche Erschöpfung begleitet, überkommt ihn. Es flimmert ihm vor den Augen. Seine sensible nervöse Natur schrickt auf. Zuerst vielleicht in der Nacht, dann auch bei Tage treten ihm leibhaftige Schreckbilder entgegen und unheimliche Stimmen umrauschen ihn. Es bedarf immer wieder eines neuen Glaubensaktes an Christi Kraft und einer lebhaften Willensanstrengung, um über die Angstanfälle seiner überreizten Natur den Sieg zu gewinnen. Wer bewundert nicht die heroische Selbstbezwingung, die einen Antonius in die Wüste trieb und ihn dort ausharren hieß! Aber die Gegensätze zwischen seiner physiologisch verstärkten Dämonenfurcht und seinem Christusglauben drohen, seine Konstitution zu zerreiben, und sie hätten es getan, wenn er nicht eben ein Antonius gewesen wäre. Aber ein Opfer hat er doch den Verhältnissen bringen müssen. Es mußte sich bei ihm gerade der Zustand ausbilden, den man heute mit den Namen: Phobien und Zwangsgedanken bezeichnet: häufig [813] wiederkehrende nervöse Angstanfälle und Vorstellungen dämonologischen Inhaltes, die Antonius durch eine glaubensvolle psychische Reaktion als unbegründet immer wieder überwinden muß. Für manchen willensschwachen Menschen wären solche Zwangsvorstellungen in Wahnideen übergegangen, die ihn auch innerlich ganz in ihre Gewalt gebracht hätten. Antonius bewahrt in seinem vertrauensvollen Christusglauben und seinem heroischen Willen sich die geistige Freiheit gegenüber jenem nervösen Zwang. Hiermit ist das erste Glied des objektiven Befundes, die häufig auftretende Bewußtseinstatsache, daß dem Einsiedler Angstaffekte und Vorstellungsbilder dämonischer Angriffe innerlich gegenwärtig sind, mit Hilfe psychologischer und religionsgeschichtlicher Daten auf den wissenschaftlichen Ausdruck gebracht: Es treten im Leben des Einsiedlers Antonius Phobien und Zwangsvorstellungen dämonologischen Inhalts auf.

     Wir treten nunmehr auf dem Boden dieser Position prüfend an die übrigen Elemente des objektiven Befundes und ihre Erklärung heran. Folgendes steht auf Grund der Selbstbeobachtung des Einsiedlers fest: Er hat nach dem Auftreten von Phobien oder Zwangsvorstellungen häufig das Bewußtsein, daß er mit seinen Sinnesorganen, vornehmlich dem Gesicht und Gehör, Objekte wahrnehme, welche dem Inhalt der Phobien und Zwangsvorstellungen entsprechen. Über diesen tatsächlichen Befund, d. h. über jenen Bewußtseinsinhalt reflektiert er. Er sucht mit seinen und seiner Zeit Erkenntnismitteln den unzweifelhaften, aber nicht offenkundigen Zusammenhang zwischen den Elementen des Befundes zu konstruieren. So kommt er zu der Überzeugung, daß tatsächlich seinem Bewußtsein entsprechend äußere Objekte auf seine Sinnesorgane einwirken, daß jedoch die Objekte nur Scheingestalten sind, welche die Dämonen seinen Vorstellungsbildern nachgeformt haben. – Die neuere Psychiatrie ihrerseits erklärt auf Grund eines reichen Beobachtungsmaterials hinsichtlich der Phobien: „Auf der Höhe des Krankheitszustandes fehlen selten schreckhafte Sinnestäuschungen (Gehör, Gesicht) und schreckliche Vorstellungen drohenden Unheils, in welchen die Angst sich objektiviert“ (Kr.–Ebing S. 208). „Der von [solchen Sinnestäuschungen] Halluzinationen Heimgesuchte sieht, hört, riecht, schmeckt, fühlt mit der vollen Deutlichkeit einer objektiv begründeten Sinneswahrnehmung Dinge, die einer objektiven Begründung entbehren“ (Kr.–Ebing 101).

     Es liegen somit Erklärungen und Bezeichnungen unseres Phänomens vor, die sich widersprechen. Wir müssen darum die gedankliche Konstruktion des Einsiedlers sowohl als auch der neueren Psychiatrie prüfen, um festzustellen, welche Auffassung uns den einfachsten und geradesten Weg zu einer allseitigen Klärung des Problems führt. Antonius und die neuere Psychiatrie wissen beide, daß an dem Bewußtseinsvorgang eine Täuschung haftet. Dieses Wissen schöpfen sie zunächst aus der Erfahrung, daß die schreckhaften Objekte, die dräuenden Gestalten nicht zu Gewalttat übergehen, sondern nach einiger Zeit unverrichteter Dinge wieder verschwinden. Aber wo liegt die Täuschung? Die psychiatrische Fachwissenschaft sieht die Täuschung darin, daß das Bewußtsein eine Sinnesfunktion aussage, welche tatsächlich nicht stattfinde. Antonius dagegen glaubt der Aussage seines Bewußtseins, daß eine Sinnesfunktion vorliege. Für ihn haftet die Täuschung an dem auftretenden Sinnesobjekt. Dieses hat zwar Ausdehnung und Gestalt, aber sonst keine Realität. Es ist ein Scheingebilde, ein Gespenst.

[814]      Worauf stützt sich nun die Psychiatrie, wenn sie den Bewußtseinsinhalt des Patienten, daß er eine dämanologische Sinneswahrnehmung mache, als objektiv unrichtig bezeichnet? Sie gründet ihre Behauptung auf die Tatsache, daß nachweislich auch solche Personen, die wegen Zerstörung des Sinnesorganes oder der zugehörigen zentripetalen Nervenbahnen keine Sinneswahrnehmung mehr machen konnten, dennoch wiederholt das Bewußtsein hatten, mit aller Lebhaftigkeit Sinnesobjekte wahrzunehmen. Daraus mußte die Psychiatrie den Schluß ziehen, daß unter gewissen Umständen Vorstellungsbilder, welche an und für sich dem Menschen viel matter und unklarer bewußt sind als ein mit den Sinnen wahrgenommenes Objekt, so lebhaft ins Bewußtsein treten können, daß sie von diesem irrtümlich als wahrgenommene Bilder aufgefaßt und in die Außenwelt projiziert werden. Ziehen sucht diesen Vorgang, die sog. Halluzination im Vergleich mit der normalen Wahrnehmung folgendermaßen zu veranschaulichen:

R                   E    V 
O-------------------O----O

„Normalerweise erzeugt ein Reiz R in der kortikalen Empfindungszelle E eine Empfindung, und von dieser Empfindung bleibt in der Erinnerungszelle V ein Erinnerungsbild oder eine Vorstellung zurück. Normalerweise nimmt also die Erregung stets den Weg R E V. Bei der Halluzination kehrt sich dieser Verlauf um. Das in V niedergelegte Erinnerungsbild, die Vorstellung. versetzt E in Erregung und erzeugt hier die zugehörige Empfindung, d. h. – da ein R fehlt – eine Halluzination.“[11]

     Dieser einfachen und einleuchtenden Erklärung des Problems gegenüber erscheint die Hypothese des Einsiedlers außerordentlich kompliziert und mit unnötigen Schwierigkeiten belastet. Weil seine Zeit die Tatsache, daß „Halluzinationen“ auch nach Zerstörung der betreffenden Sinnesorgane auftreten, noch nicht kannte, mußte Antonius an einer realen Sinnesfunktion und einem realen Sinnesobjekt festhalten. Beim Sinnesobjekt türmen sich nun die Schwierigkeiten seiner Konstruktion auf. Es steht auch für Antonius fest, daß reale Objekte, z. B. Ungeheuer, Löwen, Bären, ganze Rotten von Soldaten nicht zugegen sind. Es müssen also Scheinobjekte sein. Zwar sind mir, so muß sich der Einsiedler sagen, bereits gewisse Vorstellungsbilder gegenwärtig; aber anderseits wirken doch auch die inhaltlich gleichen Scheinobjekte von der Außenwelt her auf meine Sinne ein und erhöhen meine Angst und Qual. Wie gelangen nun meine schreckhaften Vorstellungsbilder als Scheingestalten objektiv vor meine Sinne? Das kann zunächst nicht eine Wirkung irdischer Kräfte, aber auch kein Werk Gottes und der Engel sein. Denn diese bringen Ruhe und Freude. Wer anders bleibt da als Urheber der schreckhaften Scheinobjekte übrig als der Teufel mit seinen Dämonen? – Zu diesem Schluß mußten den Einsiedler seine eigenen Voraussetzungen führen. Man kann aber noch weiter gehen und sagen: Antonius brauchte bloß ein Kind seiner Zeit zu sein, um sich diese Lösung des Problems anzueignen. Wir [815] betreten hiermit wieder den Boden der Religionsgeschichte. Schon der Apologet Tatian hat den Dämonen bei der Entstehung leiblicher Krankheiten dieselbe Vermittlerrolle zugedacht, wie sie der Einsiedler für die Genesis seiner dämonologischen Phänomene festhält. „In der Materie, aus der wir bestehen, kommen Krankheiten und Stauungen vor. Die Dämonen aber schreiben sich die Ursachen davon zu, indem sie hinzukommen, sobald das Siechtum eintritt.“[12] Im Organismus treten also aus natürlichen Gründen Störungen auf, wie im Bewußtsein des Einsiedlers schreckhafte Vorstellungen. Dann erst kommen die Dämonen und schreiben sich die Ursache zu. Analog lassen dieselben die Phänomene der vita Antonii auf sich zurückführen, indem sie hinzukommend die inneren Vorstellungsbilder, mit denen der Angstaffekt verbunden ist, in Scheingestalten zur objektiven Darstellung bringen und so den Eindruck erwecken, als werde der Angstzustand ursächlich von ihnen hervorgerufen. Tatian gibt in der Tat dem dämonischen Wirken den weitesten Umfang. „Heimsuchung des Dämonen ist’s, mag einer krank sein oder von Liebe reden, mag einer hassen oder sich zu rächen wünschen. An ihnen haben sie Gehilfen.“[13] Näherhin scheint er besonders epileptische Anfälle auf dämonische Ursachen zurückzuführen. „Der bewunderungswürdige Justinus hat ja mit Recht die Vorgenannten mit Räubern verglichen.[14] Wie diese andere lebendig gefangennehmen und ihren Angehörigen für ein Entgelt wieder ausliefern, so bemächtigen sich auch jene vermeintlichen Götter der Glieder gewisser Menschen, treiben sie durch Träume zu dem Wahnglauben an ihre Kraft[15] und befehlen ihnen vor aller Augen unter das Volk zu gehen. Sind sie dann des Treibens satt, so fliegen sie von den Kranken fort, umgrenzen die von ihnen betriebene Erkrankung und versetzen die Menschen wieder in ihren früheren Zustand.“ Was wir hier aus christlichem Munde hören, das lebte schon seit Jahrhunderten in dem allgemeinen Volksglauben. Man kann sich gar nicht eng genug den Zusammenhang denken, den die alte Welt zwischen Dämonen, Angstaffekten (Phobien), Trugbildern, Fieberkrankheiten herstellte. Ist Morpheus der Gott, welcher in wechselnder Menschengestalt auftritt, so erschreckt Phobetor oder Ikelos durch seine Verwandlung in alle möglichen Tiergestalten. Fit fera, fit volucris, fit longo corpore serpens (Ovid. Met. ll, 638). Den Traumdämon, dem man insbesondere die Erzeugung von allerlei schreckhaften Tierbildern zuschrieb, nennt Lucian (Vera hist. 2, 33) Ταραξίων, den Verwirrer. Antonius seinerseits bezeichnet als wichtigstes Kriterium, an welchem man das Erscheinen der Dämonen erkennen kann, die Verwirrung (τάραχος, c. 36 u. a.) Zahllos sind die Amulette und Zaubersprüche, welche jenem Volksglauben Rechnung tragen. Ein Geierherz als Amulett „verscheucht jeglichen Dämon, Räuber und Tiere“.[16] Die Haut der Robbe wendet „Donner, Gefahren, Behexung, Dämonen, Räuber und [816] nächtliche Begebnisse ab“.[17] Räuber und Tiere scheinen die Formen der nächtlichen Begegnisse und Alpträume zu sein. Die Zähne des Klippenfisches bannen „Dämonen und Scheingebilde“.[18] Ein Zauberpapyrus in London bewahrt ein geheimnisvolles Wort auf, welches „den Leib vor Dämonen, Phantasmata und jeder Art Krankheit und Leiden schützt“.[19] Der Neuplatoniker Makrobius erklärt wohl in Anlehnung an eine ältere Quelle die Entstehung eines Phantasma: „Ein Phantasma ist ein Gesicht, welches zwischen dem wachen Zustand und dem tiefen Schlafe im sog. ersten Dämmerschlaf auftritt, wo einer, der eben eingeschlafen ist, noch wach zu sein glaubt. Ihm scheint es, als ob er Gestalten, die nach Natur, Größe und Aussehen sich voneinander unterschieden, und mannigfache heitere oder stürmische Szenen auf sich eindringen oder vor sich abspielen sehe. Solcher Art ist Ephialtes, der nach allgemeinem Glauben Schläfer überfällt und die unter seiner Last fast Erdrückten plagt.“[20] Neben den Pan stellt der Volksglaube die anderen Walddämonen, Faune oder Silvane, als Urheber nicht bloß schreckhafter wandlungsfähiger Gestalten, sondern auch „verwirrender Stimmen“.[21] So soll auch die Schlacht am Walde Ardea zugunsten der Römer entschieden sein infolge einer gewaltigen „Stimme“, durch welche der Waldgott (Silvanus) den Feinden panischen Schrecken einjagte.[22] Selbst die Stimmen im Leibe des Menschen, das Bauchreden, geht vom Dämon Pytho aus. Plutarch weist allerdings diese Vorstellung als kindisch ab.[23] Dagegen erklärt Origenes, daß manche schon von früher Jugend an dem sog. Dämon Pytho, dem Bauchredner, leiden.[24] Eine besondere Rolle fällt im hellenischen Gedankenkreis den Korybanten, den Begleitern der Kybele, und der Göttin Hekate mit ihrem Gefolge zu. „Der Feldherr wurde, so erzählt Synesius, zur Nachtzeit in Schrecken gesetzt, da Korybanten, wie ich glaube, auf ihn eindrangen, und panische Schrecken erfaßten bei Tage das Heer.“[25] „Eine den Ärzten und Psychologen ganz geläufige Erscheinung war jene nach den dämonischen Begleitern der phrygischen Bergmutter benannte religiös gefärbte Wahnsinnsform des Korybantiasmus, in der ohne äußeren Anlaß der Leidende Gestalten seltsamer Art sah, Flötenklang hörte“[26] usw. Schon Hippokrates kennt die Bedeutung der Hekate im Volksglauben: „Treten in der Nacht Schrecken, Angstanfälle (φόβοι) und Irresein auf, springt man aus dem Bett oder flüchtet ins Freie, so spricht man von Nachstellungen der Hekate und Anfällen der Heroen.“[27] Porphyrius bezeichnet ausdrücklich das Gefolge, „die Hunde“ der Hekate als böse Dämonen.[28] [817] Nun ist es ein merkwürdiger Zufall, vielleicht auch mehr, daß Antonius (c. 42) und sein Biograph (c. 9) die bösen Dämonen zwar nicht „Hunde“ der Hekate, wohl aber „Hunde“ des Satans nennen und sich Bild und Ausdrucksweise der heidnischen Zeit aneignen. Wichtiger als diese äußere Verwandtschaft ist aber die Tatsache, für welche ich mit Absicht soviele Belege erbracht habe, daß nach dem allgemeinen Volksglauben des Altertums Angstanfälle, schreckhafte Scheingebilde, unheimliche Stimmen, Alpträume und Epilepsie, exaltierende Fieber und Gehirnaffektionen dämonischer Natur sind. Der zu Ehren der Fiebergottheit erbaute Tempel, welchen Plinius erwähnt, ist ein äußeres Denkmal dieses Vollksglaubens.[29]

     Wenn die bisherigen Darlegungen richtig sind, dann besteht ein starker Gegensatz zwischen unserer Anschauung von den Krankheitsursachen und dem Volksglauben des Altertums. Wir ständen dann einem weitverbreiteten medizinischen Aberglauben gegenüber, der aus der primitiven Vergötterung der Naturkräfte und -vorgänge geflossen ware. Ehe wir aber einen Schluß von solcher Tragweite wagen, bedürfte es doch zunächst des Klaren Nachweises, daß jene in Rede stehenden dämonischen Phänomene wirklich auch identisch sind mit den Fieberdelirien, Träumen und Gehirnaffektionen, welche die alte und die heutige medizinische Wissenschaft natürlich zu erklären vermag. Dieser Nachweis ist um so notwendiger, weil wiederholt die Überzeugung ausgesprochen worden ist, Gott habe während der Herrschaft des Heidentums den Dämonen eine größere Macht über den Leib des Menschen eingeräumt als in unseren Tagen.

     Nun hat man zunächst im Altertum gewußt, daß das Erscheinen der Dämonen für gewöhnlich in irgendeinem Zusammenhang mit physiologischen Vorgängen steht. Jedoch herrscht zwischen der ärztlichen Ätiologie und Therapie des Altertums und dem gleichzeitigen Volksglauben ein großer Unterschied. Ein typisches Beispiel dafür bieten die Symptome des Alpdrucks. „Der sog. Ephialtes, erklärt der Arzt Oribasius, ist kein böser Dämon.“[30] Schon rein sprachlich ist die Bezeichnung des Alpdämons als Ephialtes hergeleitet von επίαλος und bezeichnet (= βαρυχνᾶν) einen pathologischen Zustand des Magens oder von ἠπίαλος und bedeutet dann den Schauder, der dem Fieber vorangeht. „Das aus überfülltem Magen kommende und zu Kopf steigende Gefühl der Beklemmung und der Erstickungsnot im Schlaf mit ausbrechendem Angstschweiß hieß bei den Ärzten ἐφιάλτης. Es war in alter Zeit durch die Traumphantasie des Geplagten verkörpert worden in der Gestalt eines der Brust aufhockenden Dämons, der nach endlichem Erwachen verschwunden schien.“[31] „Mit den Ansichten der antiken Ärzte von der Entstehung des Alptraums stehen auch die von ihnen dagegen verordneten Heilmittel und diätetischen Maßregeln in bestem Einklang. Die meisten und wichtigsten von ihnen haben, der Grundlage der alten Medizin von den Säften entsprechend, den Zweck, die schädlichen krankhaften Säfte zu entfernen und in gesunde zu verwandeln. Diesem Zwecke diente vor allem der an erster Stelle empfohlene Aderlaß und verschiedene Abführmittel, namentlich eine Mischung von schwarzem Elleboros und dem Safte der Skammonia, mit einem Zusatz von [818] Anison, Daukos und Petroselinon, ferner die schwarzen Kerne der Paionie, ein uraltes Hausmittel, das man gegen φόβοι δαίμονες ἐπιπομπαί und kaltes Fieber, d. h. gegen Alpdruck und Delirien aller Art, anzuwenden pflegte; daher die Paionie im Volksmunde geradezu ἐφιαλτία oder ἐφιάλτειον genannt wurde.“[32] Die Verwendung natürlicher Hilfsmittel gegen außernatürliche Mächte geschieht im Altertum mit größter Unbefangenheit. „(Die Päonie) heilt auch von den Blendwerken der Faune in der Nacht.“[33] Seinem innersten Wesen nach ist, wie Soranus annimmt, jeder Alpdruck mit einem epileptischen Anfall identisch, den man wegen seiner merkwürdigen Symptome auf die Dämonen zurückführte und „die heilige Krankheit“ nannte. „Was nämlich die Epileptiker am Tage, das erleiden die Ephialtiker während der Ruhe der Nacht.“[34] Schon Jahrhunderte zuvor hatte der Arzt Hippokrates gerade bezüglich der „heiligen Krankheit“ den auffallenden Widerspruch zwischen Volksglauben und Praxis gegeißelt. Während jener die epileptischen Symptome als dämonische Wirkungen ansah, behandelte der Arzt die Krankheit mit natürlichen Mitteln. „Schuld an dieser Krankheit,“ sagt Hippokrates, „ist das Gehirn, wie es auch bei den übrigen schwersten Krankheiten der Fall ist … Wenn aber Schreckbilder auftreten und Furcht über sie kommt, so geschieht das infolge Veränderung des Gehirns … Diese Krankheit, die sog. heilige Krankheit, entsteht aus den nämlichen Ursachen, aus welchen die übrigen Krankheiten entstehen.“[35] Daß Fieber überhaupt sehr lebhafte Bilder dem Kranken vorführen, lehrt Galenus mit den Worten: „Bei den Gehirnentzündungen sehen die Leidenden die Gesichte des Schlafes so deutlich, daß man sagen kann, wegen des starken Eindrucks der Phantasmen sprängen sie aus dem Schlafe auf und schrieen.“[36] So hat bereits die alte Heilkunde die Ursachen der schreckhaften Phantasmen und „Sinnestäuschungen“ erkannt und mit natürlichen Mitteln dem körperlichen Übel und zugleich dem Auftreten der Dämonen gesteuert. Die Tierarzneikunde des Vegetius (6. Jahrhundert) bewahrt sogar das umfangreiche Rezept eines Riechmittels, dessen Dampf durch Nase und Mund einzuatmen ist und welches „abgesehen von der Tierkur die anstürmenden Anfälle der Menschen heilt, Hagel abwehrt, Dämonen vertreibt und Schatten(wesen) verscheucht“.[37] Umgekehrt kann man auch mit natürlichen Mitteln das „Erscheinen der Dämonen“ bewirken. Psellus (11. Jahrh.) überliefert, wie jemand von einem fahrenden Libyer in die magische Kunst eingeführt wurde. Derselbe gab ihm auf eigentümliche Weise ein Kraut zu essen, überstrich seine Augen mit Salbe und gewährte ihm so eine Menge Dämonen zu sehen.[38] Man weiß im Altertum, daß die Anwendung gewisser (narkotisch wirkender) Mittel, z. B. des Weines, Efeus (Hanfs?) die Entstehung von Phantasmen begünstigt, d. h. im Volksglauben, das Erscheinen von Dämonen veranlaßt. Während die alte Heilkunde den „dämonischen“ [819] Symptomen eine natürliche Erklärung und Behandlung zuteil werden läßt, kann sich auch die Volksanschauung den Tatsachen nicht verschließen, daß gewisse natürliche Zustände wirklich Vorbedingung für das Wirken der Dämonen im Menschen werden. Der Volksglaube weiß nun für diese Tatsache eine Erklärung, die an kühner Konsequenz nichts zu wünschen übrig läßt, aber bei einem Vergleich mit der damaligen ärztlichen Auffassung des Problems nicht ernstlich in Frage kommen kann. Weil der Genuß von Wein oder von Bohnen und schwerverdaulichen Speisen Blähungen und unruhige Träume, d. h. nach dem Volksglauben dämonische Wirkungen hervorbringt, deshalb müssen in gewissen Früchten Dämonen sich aufhalten. Plinius berichtet, daß sich nach alter Vorstellung in den Bohnen die Seelen der Abgeschiedenen, d. h. schlimme Dämonen befänden. Bohnenbrei sei nach altem Ritus den Göttern heilig, weil er die Sinne schlaff mache und Träume errege.[39] Klemens von Alexandrien führt das pythagoreische Verbot des Bohnengenusses auf jene physiologischen Wirkungen zurürck.[40] Die ausführlichste Begründung für den Volksglauben gibt Porphyrius: „Auch die Leiber wahrlich sind von ihnen (den Dämonen) angefüllt. Sie freuen sich ja vor allem auf gewisse Speisen. Wenn wir nämlich speisen, kommen sie heran und vereinigen sich mit dem Körper. Deswegen nimmt man auch die Reinigungen vor, nicht so sehr der Götter wegen, sondern um jene zu entfernen. Vor allem verlangen sie nach Blut und Unreinigkeiten und genießen dieselben, indem sie mit in die Speisenden eindringen. Denn kurz gesagt, das Verweilen unserer Lust bei etwas und der Drang des Geistes zur Begierde könnte anderswoher nicht so mächtig sein, als wegen ihrer Anwesenheit. Sie nötigen auch den Menschen undeutliche Töne und Blähungen auf, indem sie gemeinsam mit ihnen genießen. Denn wo der Druck eines ausgedehnteren Pneumas ist, sei es nun, daß der Magen durch Wohlleben angefüllt, oder die Stimmung durch Zuwachs an Freude gestiegen ist und sehr nach außen drängt, da wird die Anwesenheit solcher Pneumata offenbar.“[41] Aber auch für die Tatsache, daß man mit Arzneimitteln die dämonischen Einflüsse beseitigen kann, weiß der Volksglaube seine Erklärung. Die Dämonen sind es nämlich, welche der Mixtur die Heilkraft geben. Tatian, der christliche Apologet, kennt auch die Tendenzen der Dämonen, wenn sie mit natürlichen Mitteln aus Wurzeln, Sehnen, Knochen und anderen Zusätzen Heilkraft verbinden. Sie wollen dadurch die Kranken vom Gottvertrauen ablenken und durch die Darbietung natürlicher Mittel in ihren Sklavendienst bringen.[42] So spricht er denn in seinem Eifer gegen die Dämonen das Wort aus: „Die Arzneikunst und alle ihre Zubehör ist ein und derselbe Trug.“[43]

Wir begnügen uns mit dieser Gegenüberstellung der ärztlichen Ätiologie [820] der schreckhaften Phantasmen und der Volksanschauung von denselben. Es handelt sich um die gleichen Symptome, nur die Erklärung derselben ist eine geradezu entgegengesetzte. Der Volksglaube sieht Dämonenwerk, wo die Heilkunde eine einfachere natürliche Erklärung zu geben weiß. Wenn ähnlich wie Tatian auch Athenagoras und der Einsiedler Antonius den Dämonen eine außerordentlich komplizierte Vermittlerrolle zur Objektivierung der Phantasiegebilde zuschreiben, während die neuere Psychologie die gleichen Vorgänge als Halluzinationen einfach zu erklären imstande ist, so werden wir die Ansicht des Einsiedlers seiner Zeit zugute halten, sie aber neben unseren heutigen Erkenntnissen nicht mehr als richtig gelten lassen.

     Auf Grund der vorangehenden naturwissenschaftlichen und religions- bezw. kulturgeschichtlichen Erörterungen dürfen wir den dämonologischen Erfahrungen des Antonius den wissenschaftlichen Ausdruck: Halluzinationen auf der Grundlage von Dämonophobien und Zwangsgedanken geben. Indes ich höre einen Einwand, welcher im Munde eines religiösen Katholiken durchaus verständlich und an sich berechtigt ist. „Soll man vielleicht dem Psychiater oder dem Historiker das letzte Wort lassen, wo doch die Überzeugung des Heiligen selbst mit so vielen Fasern in seinem erleuchteten religiösen Denken wurzelt?“ Ohne Zweifel kann das Urteil des Psychiaters, wie wir später sehen werden, nur für eine Seite des Lebens und zwar gerade für die, welche uns jetzt beschäftigt, in Betracht kommen. Anderseits stimme ich gerne bei, daß auch die Theologie zu dem Dämonentrug der vita Antonii Stellung nehme.[44] Sind denn die Plagedämonen des Einsiedlers identisch mit den gefallenen Geistern, von denen die Theologie redet? Diese kennt nur immaterielle Wesen, Antonius spricht nur von ätherischen, deren luftartiger Leib mit großer Schnelligkeit räumliche Entfernungen überwindet und die Möglichkeit zu immer wechselnden Scheingestalten und Trugbildern bietet. Gegenüber den reinen Geistwesen der Theologie erscheinen und wirken die Dämonen des Antonius gespensterhaft. – Ferner ist nach theologischer Lehre das Bestreben der gefallenen Geister in erster Linie darauf gerichtet, dem Menschen ethische Versuchungen zu bereiten und ihn in Sünden zu verstricken. Man traut aber seinen Augen kaum, wenn man unter diesem Gesichtspunkte die vita Antonii liest. Gewiß finden sich dort einige kümmerliche Andeutungen über Versuchungen zu irdischem Sinne und zu sexuellen Sünden. Aber man vergißt sie, wenn man Seite für Seite immer nur von neuen Schreckbildern und Schikanen durch die Quälgeister liest, die des Charakters ethischer Versuchungen gänzlich entbehren. Die starken seelischen Depressionen, in denen Widerwille gegen das aszetische Leben auftrat, waren natürliche Folgen der Phobien und der nervösen Erschöpfung, deren Wirkung durch die Phantasmen und Stimmen nur verstärkt wurde. Man kann sagen, die Dämonen der [821] vita Antonii besinnen sich auf ihr eigentliches Interesse, die ethischen Versuchungen nicht. Ja noch mehr, sie übernehmen begierig die denkbar ungereimteste, unwürdigste und törichteste Rolle. Die stolzen Dämonen treten als gehorsame Diener der furchterregten Phantasie des Mönches auf. Seine Vorstellungsbilder reproduzieren sie getreu, und wenn sie selbst eine ganze Rotte bewaffneter Soldaten oder eine Horde wilder Tiere in Scheingebilden darstellen müssen. Sie machen sich diese Mühe auch da, wo bei der seelischen Verfassung des Heiligen ihr Gebaren ihn nur nach mehr zur Vervollkommnung anspornen muß. Anderseits verschwinden sie, wenn auch zähneknirschend, sobald eine seelische Reaktion des Einsiedlers gegen seine Zwangsvorstellungen erfolgt. – Aber was erreichen sie mit ihrem Verwandlungsapparat und sklavischen Gehorsam? Der Schluß der Szene ist ja immer derselbe: der Einsiedler erneuert seinen Mut, lacht sie aus, verhöhnt sie, daß sie seit Christi Ankunft kraftlos seien, und sie verschwinden voll Wut und Scham, daß sie nicht den Heiligen, sondern sich selbst genarrt haben. Man sollte glauben, wenn es sich um jene gefallenen Geister handelte, denen die Theologie doch immer noch eine dem Menschen überlegene geistige Kraft zuschreibt, sie würden nach einigen solchen Erfahrungen gewitzigt von ihrer Selbstverhöhnung abgelassen haben. Indes diese Dämonen verdienen sich mit staunenswerter Ausdauer den Titel „Dumme Teufel“, den das Mittelalter, in der Auffassung des Antonius befangen, ihnen beigelegt hat. Ist es denkbar, daß die gefallenen Geister solch eine ungereimte, sklavische und törichte Rolle sich selbst freiwillig oder auch nur aus blinder, neiderfüllter Wut auserwählt hätten? Nein. Aber wird denn nicht Gott ihnen eine solche Aufgabe zur Strafe zugewiesen haben? Diese Aufgabe entspricht weder unserem Gottesbegriff noch findet sie in der vita Antonii irgend eine Stütze. So führt uns denn auch die theologische Betrachtungsweise zu der letzten und einzigen Möglichkeit, daß diese sklavisch gehorsamen und törichten Scheingestalten in Wahrheit Gespenster, Kreaturen der erregten Phantasie des Einsiedlers, Sklaven seiner überreizten Nerven sind. Die vita Antonii schildert also den langen schweren Kampf des Antonius mit seiner Furcht vor Gespenstern und Stimmen, die im Volksglauben sowohl als in seinen eigenen Sinnestäuschungen einen fruchtbaren Boden fand. Dieses gespenstische Treiben erscheint dem Einsiedler in religiöser Beleuchtung, weil er irrtümlich hinter seinen Halluzinationen jene Dämonen vermutete, von denen die neutestamentlichen Schriften sprechen. Ohne Zweifel haften indes seiner Dämonenvorstellung Elemente an, die in den heil. Schriften sich nicht finden, vielmehr aus einer heidnischen Unterströmung dämonischen Gespenster- und Verwandlungsspuks emporgestiegen sind.

     Meinem langen Verweilen bei dieser Einzelfrage wird man vielleicht mildernde Umstände zubilligen, wenn ich darauf hinweise, daß selbst neuste Literatur über mystische, insbesondere dämonologische Probleme den naturwissenschaftlichen und religionsgeschichtlichen Tatsachen noch nicht die nötige Beachtung schenkt. Auch Poulains Handbuch der Mystik bewegt sich viel zu sehr in den Bahnen überlieferter aprioristischer Konstruktionen. Es begnügt sich in unserer Frage mit folgender Erklärung: „Was die Natur der äußeren oder körperlichen Vision angeht (göttliche sowohl als teuflische), so können sie auf vierfache Weise entstehen. Die erste Art ist objektiv. Der Körper ist wirklich der jener Person, die uns erscheint. Seine Substanz wirkt auf unsere Augen ein. So können natürlich Engel und abgeschiedene Seelen sich [822] nicht zeigen, weil sie keinen Körper haben... Die zweite Art ist auch noch objektiv. Ein Körper erscheint wirklich, aber es ist ein angenommener Körper. Dann nimmt man meist an, daß er mit Hilfe der Engel gebildet sei. Gott bedient sich ja gerne der geschaffenen Kräfte, soweit sie ausreichen. Die dritte Art kann man halb objektiv nennen. Der wahre Körper erscheint nicht mehr, aber es erscheint doch wenigstens noch etwas Materielles, von dem die Lichtstrahlen ausgehen und einen Körper erscheinen lassen. Engel bringen nämlich diese Lichtwellen hervor, wie sie es auch bei den Schallwellen für das Gehör tun würden, und lassen sie von dem Orte ausgehen, wo der Gegenstand erscheint... Die vierte Art ist ganz subjektiv. Die Engel bringen unmittelbar auf der Netzhaut das Bild des Gegenstandes hervor“ (Poulain II. 24 f.). In einer Anmerkung wird eigens beigefügt, daß der hl. Thomas an die dritte Erklärungsart wegen der Lichttheorie damaliger Zeit nicht denken konnte. Wollten wir versuchen, die Auffassung des Antonius in die Kategorien Poulains einzugliedern, so würde uns zum Bewußtsein kommen, daß diese vier Klassen noch nicht ausreichen. Nur mit der Einschränkung, daß Antonius die Phänomene in seiner subjektiven Phantasie entstehen läßt, könnte man die irrtümliche Auffassung der vita Antonii der zweiten Gruppe einverleiben. Das Axiom indes, mit welchem Poulain die zweite Erklärungsart motiviert: „Gott bedient sich ja gerne der geschaffenen Kräfte, soweit sie ausreichen,“ eignen wir uns gerne an, mit dem sachlichen Unterschiede jedoch, daß unserer Untersuchung gemäß geschaffene Kräfte physiologisch psychologischer Art zur Erklärung der „Dämonenkämpfe“ unsers Einsiedlers völlig ausreichen.

     Beim Abschluß dieses Teiles unserer Untersuchung empfiehlt es sich, einen Augenblick zu unserer Orientierung Halt zu machen. Nachdem wir die Phobien und Zwangsgedanken im Innenleben des Aszeten herausgestellt hatten, waren wir vor die Wahl gestellt, den objektiven dämonologischen Befund mit Antonius und dem Volksglauben des Altertums auf eine unnatürlich komplizierte Weise zu erklären oder uns für die neuen Erkenntnisse der physiologischen Psychologie zu entscheiden. Die naturwissenschaftliche Betrachtung des Problems, die historische Analyse der alten Volksvorstellung, wie auch die theologischen Gesichtspunkte drängten uns immer schärfer zu einer Ablehnung des Erklärungsversuchs, den der Einsiedler unternommen hatte. Jetzt bleibt uns nur noch die Aufgabe, auf dem Boden der neuzeitlichen psychiatrischen Wissenschaft die einzelnen Formen des objektiven Befundes zu klassifizieren. Wenn sich dabei herausstellt, daß wir es mit typischen Symptomen von „Sinnestäuschungen“ zu tun haben, so ist damit zugleich die Probe auf die Richtigkeit der vorangehenden Untersuchung gemacht.

     Der Halluzination sind zwei Momente eigen: die Überzeugung von der Objektivität der Erscheinung und die Lokalisation der Erscheinung in den Raum mitten zwischen die umgebenden Gegenstände.[45] Im Gegensatz zu den eigentlichen visionären Ekstasen des Einsiedlers (c. 60, 65, 66) lokalisiert er die uns beschäftigenden Phänomene auf ein begrenztes Gebiet, gewöhnlich zwischen die Wände seiner Verschanzung. Hinsichtlich des Inhalts der Halluzination betont Krafft–Ebing, daß derselbe vielfach dem jeweiligen Inhalte des Vorstellens konform sei. „Es stellt plastisch gewordene visuelle, laut gewordene [823] auditive Vorstellungen dar. Nur so begreift es sich, daß zuweilen Halluzinationen von gleichem Inhalt epidemisch vorkommen bei Menschen, die von demselben Vorstellungskreis präokkupiert waren und sich dabei in emotioneller Erregung befanden.“[46] So erklärt sich, daß auch die aszetischen Besucher des Einsiedlers am Berge Cholzim „verworrenes Getöse und Stimmen wie von einer ganzen Menge und Geklirr wie von Waffen hörten und den Berg bei Nacht voll wilder Tiere sahen“ (c. 51).

     Es tritt freilich auch zuweilen eine Inkongruenz zwischen dem Gegenstand der Halluzination und dem augenblicklich bewußten Vorstellungsinhalt hervor, z. B. wenn eine neu auftretende Vorstellung sogleich halluzinatorisch und nicht erst als bloße Vorstellung zum Bewußtsein kommt. Hinsichtlich derjenigen Art aber, die Antonius selbst so klar beschreibt (c. 42), nämlich hinsichtlich der assoziativ entstandenen Erinnerungsvorstellung, die zur Halluzination wird, stellt Krafft-Ebing fest, daß sie sich in den Gang des konkreten bewußten Vorstellens einfügt. „Sie braucht jedoch nicht in der originalen identischen Form aufzutreten, erscheint vielmehr häufig in veränderter phantastischer“ (S. 105). Antonius gibt dementsprechend seinen Eindruck mit den Worten wieder: „Was wir aus uns selbst denken, das schmücken sie weiter aus“ (machen sie mit Beiwerk, c. 42).

     Auch die Bedingungen für das Auftreten von Halluzinationen liegen im Leben des Aszeten ganz ausgeprägt vor. Sie lassen sich wesentlich dahin zusammenfassen, „daß sie eine intensive Erregung und Konzentration des Vorstellens bewirken. Funktionell geschieht dies durch affektartige Zustände (Affekte der Furcht, des Schrecks, der Begeisterung), sowie durch Steigerung der Aufmerksamkeit (Erwartungsaffekte, lebhafte Vertiefung in einen Gegenstand), Mangel äußerer Sinnesreize (Dunkelheit, Einsamkeit usw.)“.[47] Antonius, in der Dunkelheit seiner Behausung, in dem eintönigen Schweigen der Wüste, unter den historisch und psychologisch motivierten Zwangsgedanken der Dämonenfurcht ist augenscheinlich für Halluzination hervorragend disponiert. Dazu kommen dann noch „innerliche organische Reizvorgänge in sensorischen Rindenfeldern“[48]: Ernährungsstörungen durch strenge Fasten, Reizbarkeit der Gehirnzellen infolge Unterdrückung des Schlafes und geistiger Überanstrengung in der Konzentration. Es ist eine Tatsache, daß der körperlichen Erschöpfung häufig Halluzinationen folgen.

     Wir wenden uns nun den einzelnen Gebieten der Halluzinationen zu und beginnen mit denen des Gehörs. Antonius hört häufig Psalmengesang, Schriftrezitation, prophetische Stimmen, welche das Steigen des Nils oder die Ankunft von Reisenden voraussagen. Er vernimmt deutlich fromme Mahnungen und Vorwürfe, aber er sieht die Sprecher nicht. „Indes – so hat ihn die eigene Erfahrung gelehrt – man darf ihnen ein für allemal kein Gehör schenken“ (c. 25). Störring teilt einen ähnlichen Fall des „Gedankenlautwerdens“ mit, in welchem ein protestantischer Geistlicher von allen Richtungen Stimmen hörte, wenn er darauf achtgab. Es waren seine eigenen Gedanken, die er irrtümlich als von außen kommende Stimmen dachte.[49] [824] Verwandt mit dem Gedankenlautwerden ist das Doppeldenken. „Vom Doppeldenken spricht man meist da, wo dem Kranken derselbe Gedanke einmal so, wie er in der Norm vorhanden ist, und sodann auf Grund einer Gehörshalluzination als Gehörswahrnehmung, also doppelt gegeben erscheint. Am häufigsten und deutlichsten tritt dieses Doppeldenken beim Lesen und Schreiben hervor, und zwar verhält sich die „Stimme“ beim Lesen meist so, daß sie alles, was der Kranke liest, nachspricht.“[50] Damit vergleiche man die Erfahrung der Mönche, daß sie beim Lesen die Worte wie ein Echo, sogar wie ein mehrfaches Echo wiederholen hörten (c. 25). Daß die stille Wüste Gehörshalluzinationen begünstigt, ist Tatsache. Seit alters kennen die arabischen Wüstenwanderer solche Stimmen. Sie führten dieselben auf den Hâtif (Rufer), eine besondere Art der arabischen Gespenster, der Ginn zurück, die man gewöhnlich nicht sieht, deren laute Rufe bedeutungsvollen Inhalts und unbekannten Ursprungs man aber hört. Auch diese Araber wissen, freilich etwas anders als Antonius die Vorhersagungen solcher Dämonen zu erklären. Dieselben sollen nämlich den vorausgeworfenen Schatten des Ereignisses spüren.[51]

     Die visuellen Scheingebilde der vita Antonii fügen sich ganz in den Rahmen der Gesichtshalluzinationen ein. „Bei einigen erscheint bloß ein flächenhaftes Bild, anderen hingegen die körperliche Wirklichkeit, aber diese wiederum entweder ganz solid, die übrigen Gegenstände verdeckend, oder aber durchscheinend, geisterhaft… Bewegt der Halluzinant seine Augen, so folgen die Erscheinungen den Augen oder aber sie verschwinden.“[52] Im Leben des Einsiedlers sind beide Arten aufgetreten. Die wilden Tiere erkennt er gewöhnlich gleich als Scheingebilde. Einmal erscheint ihm der Teufel in Mönchsgestalt sogar mit Scheinbrot. In solchen Augenblicken hat er etwas Flächen- oder Geisterhaftes geschaut. Bei anderen Gesichten ist er im Zweifel, ob er nicht die körperliche Wirklichkeit sehe (z. B. beim Gold in der Wüste c. 12). Wenn sich aber Halluzinationen des Gesichts-, Gehör-, und Tastsinnes kombinieren, dann hat er den eintretenden Satan als solide, nicht durchscheinende körperliche Wirklichkeit gesehen. In diesen Fällen verschwindet der Satan entweder plötzlich oder allmählich. Wenn die Halluzination langsam abklingt, wird die solide Gestalt immer mehr durchscheinend und erweckt den Eindruck, als ob sie sich in Rauch auflöse. Das Untier in Pansgestalt, halb Mensch, halb Esel, stürzt in eiliger Flucht und verendet (c. 53). Ein andermal bekommt Satan das Brennen und verschwindet (c. 41), ein drittes Mal zieht er sich wie Rauch durch die Türe hinaus (c. 40). „Wenn wir also den Feind verachten wollen, so laßt uns die Gedanken ständig auf den Herrn richten und den Geist in freudiger Hoffnung erhalten. Dann werden wir die Trugbilder der bösen Geister ähnlich wie Rauch vergehen sehen“ (c. 42). Als Antonius vor den Dämonen, die in finsterer Nacht mit blendendem Lichte zu ihm kamen, die Augen schloß und betete, war sogleich das Licht der Bösewichter ausgelöscht (c. 39). – „Bei Wanderungen in der Wüste wird der Geist durch die elastische Luft ungemein angeregt; da die Umgebung aber zu monoton ist, um neue Bilder zu schaffen, werden vergangene Eindrücke lebhaft reproduziert.“[53] Die Araber kennen unter ihren Ginn nicht bloß den [825] Hâtif, den Rufer, sondern auch den Ragl, auf den sie die Wüstenvisionen zurückführen. Die Gesichtstäuschungen in der Wüste werden durch nebelhafte Dünste und die Brechung des Lichtes begünstigt. Für andere Gesichtshalluzinationen liegt die Ursache deutlich im Organismus, z. B. wenn dem Einsiedler während seines Fastens der Teufel mit Scheinbrot entgegentritt (c. 40). Dem von langem Fasten erschöpften Makarius, dem Alexandriner, führt der Teufel sogar ein ganzes Kamel vor, dessen Rücken mit Speisen beladen ist.[54]

     Die Sinnestäuschungen treten laut der vita Antonii häufig in der Nacht, teilweise wenigstens im Schlafe auf. Tatsächlich ist auch der Zusammenhang zwischen Phobien und Angstträumen ein recht inniger. „Die Gefühle des Tages rufen Träume hervor, und diese verstärken und vertiefen die Gefühle.“[55] Grade „die Schlaftrunkenheit ist ein fruchtbarer Boden für Sinnestäuschungen aller Art“.[56] Zwar berichtet Athanasius nicht jene charakteristische Form des Alpdrucks, wo sich der Dämon in Gestalt eines Tieres auf die Brust des Schläfers hockt und ihn würgt, bis dieser durch eine Bewegung die Atmungshemmung beseitigt. Aber manches einzelne Element, das vom Alptraum her bekannt ist, kehrt bei Antonius wieder. Wie beim Alptraum, sieht auch der Einsiedler die Schreckensgestalten zum Ansprung wider ihn ansetzen, jedes Tier ganz nach seiner Art. Ähnlich wie im Alpdruck taucht vor Antonius die Gestalt eines Dämons auf, der in die Höhe wächst bis an die Decke seiner Behausung und sich gewaltig in die Breite ausdehnt. Ein solches Bild erklärt sich leicht als Ausdruck einer wachsenden Atmungsbeschwerde, welche zur Folge hat, daß sich die Kohlensäure und die anderen erstickenden Produkte unseres Stoffwechsels im Blute sammeln und das Nervensystem reizen. So erklärt wenigstens Binz[57] die Entstehung von Alpträumen durch eine akute Vergiftung. Radestock führt unruhigen Schlaf und lebhafte Träume auch auf die Unterdrückung der Hauttranspiration zurück.[58] Nun erwäge man, daß der Heilige trotz des Wüstenstaubes und der Tropenhitze nie den Körper durch ein Bad erfrischte. Man bedenke, daß er den innersten Winkel einer längst verlassenen Verschanzung, die, wie es scheint, nur von oben her zugänglich war, bewohnte, und am Boden, von der schwersten verdorbenen Luft umgeben, schlief. Dann wird man seine häufigen Angstträume, die ohne Zweifel einerseits mit seinen Zwangsgedanken in engem Zusammenhang stehen, auch physiologisch leicht erklären können.

     „Der Teufel, der Elende verstand sich sogar dazu, bei Nacht die Gestalt eines Weibes anzunehmen und es in allem nachzuahmen, um Antonius zu betören“ (c. 5). Ähnliche Berichte sind aus dem Altertum nicht selten. Augustinus gibt referierend die weit verbreitete Meinung wieder, daß Silvane und Pane, die man gewöhnlich incubi nennt, sich oft frivol den Weibern gezeigt und ihr Beilager verlangt und erlangt hätten. Einige Dämonen, welche die Gallier Dusii nennen, versuchten und verübten ständig solche Unlauterkeit.[59] Auch Philostratus erzählt im Leben des Apollonius von Tyana [826] von einem Satyr, der in einem äthiopischen Dorf unweit der Nilkatarakte eine Frau zu vergewaltigen suchte, nachdem das Gespenst schon zehn Monate lang es auf die dortigen Frauen abgesehen und zwei, die es besonders liebte, ermordet haben sollte.[60] In Träumen von Männern treten analoge Sensationen auf. Ob wir in der erwähnten Stelle der vita Antonii eine Hindeutung auf einen derartigen Vorgang sehen müssen, mag ich nicht entscheiden. Es würde sich in einem solchen Falle um eine Gefühlshalluzination handeln. Zwar ist im Zusammenhang dieser Stelle auch von der Erregung sexueller Gefühle durch den Teufel die Rede (c. 5). Aber es ist nach dem Wortlaut immerhin möglich, daß bloß eine Gesichtshalluzination vorliegt. Andere Täuschungen des Tastsinnes aber lassen sich unzweifelhaft aus Antonius’ Munde feststellen. Hierin gehören die Schläge, welche er von den Dämonen zu leiden hatte, und die einmal wenigstens eine lange Ohnmacht mit sich brachten. „Wie oft, so erzählt er selbst (c. 40), haben sie mich mit Schlägen traktiert! Ich aber sprach: Nichts wird mich von der Liebe Christi scheiden (Rom. 8, 39). Dann schlugen sie vielmehr sich selber nieder. Jedoch nicht ich gebot ihnen Einhalt oder nahm ihnen die Kraft, etwas auszurichten. Das hat der Herr getan, welcher gesprochen hat: Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Luk. 10, 18). Die Selbstvernichtung der Dämonen ist das äußere Merkmal für das Abklingen der „Sensation“ (Täuschung des Tastsinnes). Sie steht als solches in einer Reihe mit dem Verenden des dämonischen Untiers oder mit der Auflösung Satans in Rauch. „Sensationen“ setzen gewöhnlich ernstere nervöse Störungen voraus. Hier sind sie durch die ungewöhnliche Erregung motiviert, welche mit dem Vordringen des Einsiedlers in die Domäne der Dämonen verbunden war. Störungen der Hautsensibilität treten bei der Neurasthenie in ganz hervorragendem Maße auf.[61] „Die Cariben fühlen den Schmerz, den ihnen die Schläge des Dämons Maboya im Traum verursachen, am Morgen noch.“[62]

     Es könnten schließlich Bedenken darüber aufsteigen, ob solche Vorgänge, in denen der Satan den Heiligen besucht und mit ihm sich in Wechselrede auseinandersetzt, bis er schließlich verschwindet, als einheitlich kombinierte Sinnestäuschungen überhaupt möglich seien. Ein Beispiel mag diese Bedenken heben. Koch berichtet über einen Herrn, der allerdings periodischen Störungen unterworfen war, folgendes Beispiel auffallender Sinnestäuschung: „Einmal sah er, wie er mir erzählte, in Stuttgart ein altertümlich und prächtig gekleidetes vornehmes Frauenzimmer dahinschreiten. Er vermutete, dies werde wohl eine Halluzination sein [denn er hatte früher die Erfahrung gemacht, daß die halluzinierten Menschen auffallende, bunte und altertümliche Kleider trugen], ging darauf zu und bat um die Erlaubnis, die Dame begleiten zu dürfen. Darauf erwiderte sie etwa: ‚Aber das paßt sich nicht, daß man ein unbekanntes Fräulein anspricht und begleitet.‘ Nun war er seiner Sache ziemlich sicher und meinte: „Ach was, bei uns beiden geht das schon.“ Er begleitete sie eine Straße hinab und unterhielt sich mit ihr. „Da haben Sie schöne Federn auf ihrem Hute“, sagte er unter anderem, „da könnten Sie mir wohl eine davon abtreten“, und trotz ihres Widerspruchs nahm er ihr ein kleines Federchen vom Hute und steckte es unter seinen Siegelring, zwischen [827] Ring und Finger. Dort sah und empfand er die Feder, bis sie am Ende der Straße zugleich mit der Dame verschwand.[63] Das plötzliche Verschwinden Satans bei seinen Begegnungen mit Antonius ist ein Anzeichen dafür, daß es sich auch in diesen Fällen um Sinnestäuschungen kombinierter Art gehandelt hat.

     Die Untersuchung hat ergeben, daß die vermeintlichen Angriffe der Dämonen auf den Einsiedler Antonius auf „Sinnestäuschungen“ beruhen. Diese Tatsache ist hier vielleicht nicht zum ersten Male ausgesprochen. Sie mag schon früher auf Grund eines flüchtigen Überblickes über die Symptome von der neueren Psychiatrie vertreten worden sein. Die vorliegende Studie aber ruht auf einer bisher unbeachteten und zugleich unerschütterlichen Basis, auf dem ganz klaren Selbstzeugnis des Antonius, daß die dämonologischen Phänomene nicht aus einer anderen Welt stammen, sondern in seiner erregten Phantasie ihren Ursprung haben. Erst als ich den subjektiven Charakter jener Dämonenplage erkannt hatte, habe ich mich zu einer näheren Untersuchung entschlossen. Da zeigte sich dann ganz deutlich, daß Antonius unter dem Einflusse der zeitgenössischen Dämonenfurcht und auf Grund physiologischer Ursachen unter Phobien und Zwangsgedanken dämonologischen Inhalts litt. Nun glaubte der Einsiedler zwar, daß die Dämonen in einer umständlichen Vermittlerrolle die Gebilde seiner erregten Phantasie vor seinen Sinnesorganen objektivierten. Diese Annahme entsprach durchaus der damaligen Volksanschauung, aber sie litt nicht weniger unter naturwissenschaftlichen als unter theologischen Ungereimtheiten. Sie war eine unvollkommene und unrichtige Art, die in Rede stehenden Phänomene zu erklären, die sich voll und ganz als dasjenige ausweisen, was die neuere Psychologie mit den Worten Halluzination und Illusion bezeichnet. Der Aufbau unseres Beweisganges gibt, so scheint mir, dem Ergebnis die denkbar größte Gewißheit.

     Von der Untersuchung waren ihrem Zweck und Thema entsprechend ausgeschlossen die visionären Ekstasen des Heiligen (c. 60, 65, 66), die Austreibung der Dämonen aus Besessenen sowie die wunderbaren Krankenheilungen, welche die vita Antonii berichtet. Ein sicheres Urteil in diesen Fragen ist heute außerordentlich erschwert. Der Forscher, welcher den unzweifelhaft wunderbaren Charakter sowohl der Ekstasen als auch der Wirksamkeit des Heiligen nachweisen will, muß zunächst eine scharfe und sichere Grenzlinie gegenüber analogen Erscheinungen in der Heidenwelt ziehen. Der Inhalt der Ekstasen berührt sich mit den Vorstellungen von der Himmelsreise der Seele, wie sie im Gnostizismus aus verschiedenen orientalischen Religionen zusammenströmten. Die Untersuchung über die von Antonius vollzogenen Dämonenaustreibungen müßte das einschlägige Quellenmaterial aus dem heidnischen und christlichen Altertum, welches Tambornino jüngst wenigstens für das griechische und lateinische Sprachgebiet gesammelt hat, in Rücksicht ziehen. Hinsichtlich der Krankenheilungen muß der Beweis erbracht werden, daß unser Bericht von dem Einfluß der in Ägypten beliebten aretologischen Literaturgattung, den hellenistischen Wundererzählungen, frei ist. In der späteren Mönchsliteratur sind jedenfalls Spuren jener Aretologie nachweisbar.

     So erhebt unsere Studie nicht den Anspruch, alle außerordentlichen Vorgänge aus dem Leben des Heiligen in ihren Bereich zu ziehen, noch viel [828] weniger möchte sie der Anschauung Nahrung geben, als ob das vorliegende Quellenmaterial eine rein natürliche Deutung dieses Lebens zulasse oder gar verlange. Während wir uns nach dieser Seite vor Verallgemeinerungen hüten, glauben wir anderseits aus unserer Untersuchung ein sicheres Kriterium für die Beurteilung dämonischer Angriffe auf gottesfürchtige Personen gewonnen zu haben. Dasselbe lautet: Wenn in der Geschichte christlicher Heiligen oder ehrwürdiger Personen auf Grund bestimmter organischer und seelischer Vorbedingungen dämonische Angriffe auf die verschiedenen Sinnesgebiete als objektiv empfunden und berichtet werden, ohne daß solche Vorgänge den Sinnen anderer unbefangenen Zeugen objektiv erkennbar werden, dann spricht die Präsumption dafür, daß es sich um Halluzinationen bzw. Illusionen handelt. Unter den bestimmten seelischen Vorbedingungen verstehen wir einen dämonologischen Vorstellungskreis, wie er seit der vita Antonii zunächst im orientalischen Mönchtum und dann mit Hilfe der alten Mönchsliteratur in der späteren religiösen Entwicklung des Abendlandes nachgewirkt hat, einen Vorstellungskreis, welcher die Entstehung und Verstärkung dämonologischer Phobien und Zwangsgedanken zu begünstigen sehr geeignet war. Es müßten ferner die organischen Vorbedingungen gegeben sein, welche zu Phobien, Zwangsgedanken und Sinnestäuschungen disponieren, insbesondere eine erhöhte Reizbarkeit der Gehirnrinde infolge Entkräftung und Erschöpfung des Organismus durch strenge Aszese, Fasten und Nachtwachen in Verbindung mit angestrengter Kontemplation. Da beide Bedingungen für viele Heilige zutreffen, fällt auch ein großer Kreis mystischer, insbesondere dämonischer Vorgänge unter das genannte Kriterium. Wenn etwa die hl. Magdalena von Pazzi, und zwar sie allein, zu einer Zeit stärkster seelischer Depression, wo sie Ekel an allen religiösen Übungen empfand und unter schweren Glaubenszweifeln litt, im Chore fortwährend Blasphemien hörte, so liegen hier Gehörshalluzinationen auf der Grundlage von Zwangsgedanken vor. Wenn der Karmelit Dominikus von Jesu Maria einst am Krankenbette seine eigene Gestalt sich selbst gegenübersah, dann begegnete ihm dasselbe wie Göthe, der seine eigene Gestalt in hechtgrauem Anzug auf dem Wege nach Sesenheim hoch zu Roß an sich vorüberreiten sah, oder wie Nikolai, der sich bei seiner abendlichen Rückkehr selbst an seinem Schreibtische sitzen sah. Wenn der hl. Franziska von Rom weiße Täubchen erschienen, die sich plötzlich in reißende Ungetüme, Wolf, Drache, Löwe verwandelten und den Rachen gegen sie aufsperrten, ohne ihr zu schaden, so hatte sie ähnliche Gesichtstäuschungen wie Antonius. Oder wenn der Jesuitenpater Sebastian del Campo, dem die Dämonen bald das Meßbuch versteckten, bald die Buchzeichen darin verwirrten – Zeichen seiner Nervosität –, einen Regen von Steinen aushalten mußte, der ihm zwar große Schmerzen, aber keine Verletzung brachte, so lag eine Sensation, eine Täuschung im Gefühlssinn vor. Solcher Fälle ließen sich eine große Zahl namhaft machen. Die Einwendung, jene Heiligen hätten vielfach nicht wie Antonius zunächst die Entwicklung von dämonologischen Vorstellungsbildern in der eigenen erregten Phantasie beobachtet, sondern das Bewußtsein gehabt, nur äußere objektive Wahrnehmungen aus einer anderen Welt zu erfahren, ist nicht beweiskräftig, weil tatsächlich auch Halluzinationen zugleich mit plötzlich auftauchenden Phobien zum Bewußtsein kommen und Selbstbeobachtungen, wie sie der Einsiedler Antonius machen konnte, ausschließen.

     Der Stand unserer religionsgeschichtlichen und physiologisch-psychologischen [829] Erkenntnisse drängt mit Macht darauf hin, daß wir Katholiken im Interesse der kirchlichen Seelsorge die mystischen Phänomene im Leben unserer religiösen Heroen einer neuen, vertieften und allseitigen Prüfung unterziehen. Zahn schließt den Abschnitt über die sogenannte „dämonische Mystik“ mit den Worten: „Wer nicht gleichgültig ist gegenüber dem wahren Wohl der Gläubigen und der Ehre der Kirche, wird jedenfalls dringend wünschen, daß die kritiklose Weitergabe aller möglichen Spukgeschichten der Vergangenheit angehöre.“[64] Aus den gleichen Erwägungen heraus wäre auch die kritische Umarbeitung gewisser Abschnitte des weitverbreiteten mystischen Handbuchs von Poulain sehr erwünscht.

     Es ist eine der kirchlichen Frömmigkeit abträgliche Erscheinung, daß, abgesehen von rühmlichen Ausnahmen, die „Heiligenleben“ in Deutschland ohne historische Kritik ein Milieu repristinieren, daß dem heutigen Menschen längst fremd geworden ist und welches Auffassungen in sich birgt, über die selbst der einfache Mann unserer Tage hinausgewachsen ist. Die Folge davon ist, daß die Frömmigkeit und die Eigenart der Heiligen unverstanden bleibt und absonderlich wirkt, sodaß die Begriffe „sonderbar“ und „heilig“ im Sprachschatz bereits einen engen Bund eingegangen sind. Damit wird das Ziel kirchlicher Frömmigkeit, das Ideal katholischer Heiligkeit immer größeren Mißdeutungen ausgesetzt und für einen großen Teil der Gläubigen unwirksam. Und doch ist eine Renaissance wahrer sittlicher Größe so notwendig. Die Heiligen müssen auferstehen in ihrer genialen religiösen Kraft und in ihrem Heroismus an Glauben, Demut, Hingabe und Liebe, zu neuen Apologeten der kirchlichen Form christlichen Lebens werden. Ihre seelische Grundstimmung und ihr Lebensziel, ihre hochgemuten, oft die Grenzen körperlicher Kraft nicht achtenden Anstrengungen und die Reaktion des leiblichen Organismus wider dieselben und schließlich nach einer schweren Sturmperiode das besonnene, geduldige Wirken und Leben nach dem Geiste, oft bei schwerstem körperlichem Elend, kurz die Höhenlage ihrer Gesinnung und Willenskraft über den Regionen des kleinlich irdischen Denkens und jenseits des Machtbereichs tyrannischer Nerven – das ist der Gegenstand der Hagiographie. Drum möge man nicht vor dem Gedanken bangen, daß auch die Pathologie den Heiligen ihre Aufmerksamkeit widmen muß. Der Heilige, in dessen Bild die Passionsblumen schwerer seelisch-körperlicher Leiden eingewoben sind, die seine stürmische Aszese und vielleicht irrtümliche dämonologische Befürchtungen herbeigeführt haben, steht dem Menschen immer viel näher als ein Heiligenleben, das nach der kritiklosen Darstellung des Biographen mit unverständlichem Dämonenspuk drapiert erscheint. Was wir im Leben eines hl. Antonius und so vieler Heiligen sehen, ist mit geistiger Gesundheit durchaus vereinbar. Auch ein Göthe und Napoleon haben ihre Sinnestäuschungen gehabt. Allerdings besteht für manche Neurastheniker die Gefahr, daß Zwangsgedanken, die sie anfangs noch als unbegründet abweisen, allmählich zu Wahnideen übergehen, deren [830] Inhalt vom Individuum dann für Wirklichkeit gehalten wird. Häufige Halluzinationen, insbesondere „Stimmen“ können den Übergang von Zwangsgedanken in Wahnideen beschleunigen. In Antonius aber begegnet uns eine Persönlichkeit, deren gesunder Sinn und Willensgröße sich von dem dunkeln Hintergrunde, den unsere Untersuchung zeichnen mußte, gradezu leuchtend abhebt. So sehr er auch in dem Banne des Volksglaubens und der allgemeinen Dämonenfurcht lebte, so sehr ihn auch die aszetische Strenge seines Lebens zu nervösen Zwangsgedanken disponierte, und so oft er auch die Macht der Sinnestäuschungen erfuhr, Antonius’ heldenmütiges Gottvertrauen siegt über jede Phobie und jede Sinnestäuschung. Er bewahrt sich die volle geistige Freiheit gegenüber solchen Einflüssen und lernt sich auf eine psychologisch richtige Art gegen dieselben zu schützen. Und noch ein anderer Triumph des Geistes und der sittlichen Kraft verklärt dieses Kampfesleben der Wüste. Der Neurastheniker, der Melancholiker stehen unter der Tyrannei der Nerven und Launen. Willensschwach werden sie zur Plage für sich selbst und ihre Umgebung. Der Einsiedler bewahrte sich jedoch bei aller nervösen Erschöpfung ein rücksichtsvolles, verbindliches Wesen, das eine auffallende Anziehungskraft ausübte. Die Sarazenen, welche die Wüste durchzogen, kamen absichtlich am Berge Cholzim vorüber und brachten dem Einsiedler mit Freuden Brot, weil sie an seiner heiteren Frömmigkeit Gefallen hatten (c. 50). Der alexandrinische Metropolit und Freund des Heiligen findet das Eigentümliche, das sein Wesen auszeichnete, in der durchsichtigen Reinheit seiner Seele, so daß ihre Freudigkeit und Abgeklärtheit sich in seinem Antlitz und selbst in den Bewegungen des Körpers widerspiegelte (c. 67). Wenngleich er im Gebirge herangewachsen und dort alt geworden war, hatte er keineswegs ein rauhes Wesen an sich, sondern war freundlich, ja von städtisch höflichen Manieren (c. 73). So bricht aus seinem Wesen der Sieg des Geistes und der Selbstzucht über alle Schwächen der Nerven und alle Bequemlichkeit des unbeobachteten Lebens hervor. Um dieser Tatsachen willen wird die Psychiatrie im Leben unseres Heiligen, so wertvoll uns ihre Hilfe auch war, nicht das letzte Wort erhalten. Mag sein Organismus auch die Symptome der Neurasthenie an sich tragen, es gibt einen Unterschied zwischen Neurasthenie und Neurasthenie, zwischen einer Neurasthenie, die ihr Entstehen zum guten Teil auf Willensschwäche zurückführt und ihr wiederum die Wege ebnet, und einer Neurasthenie, die der ungestümen Willenskraft ihr Dasein verdankt und ihrer Überlegenheit sich immer zu unterwerfen gezwungen bleibt. In Antonius’ Leben zeigt sich die tiefste Berührung zwischen Natur und Gnade. Wo der Mensch in unbeirrter Aszese seine unfreie, begrenzte Natur Gott zum Pfande gibt, da erhält er eine geläuterte begnadete Natur zurück, die zwar dem Leibe nach an gewisse Grenzen gebunden bleibt, aber doch eine bewundernswerte, das Leben geistig umgestaltende Freiheit ihr eigen nennen darf. In dieser Freiheit des konsequenten glaubensmutigen Denkens und der unerschrockenen Hingabe an die Gottes- und Menschenliebe liegt das Vorbildliche der Heiligen für den Alltagschristen. Es tritt ihm aber erst nahe, wenn zuvor kritische Arbeit den Vorhang mystischer Heimsuchungen gelüftet und die Seele eines Heiligen in ihrer starken unbeirrten Haltung gegenüber den schwersten Prüfungen enthüllt hat.


  1. R. von Krafft–Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie6, Stuttg. 1897, S. 59.
  2. Jul. Beßmer S. I., Störungen im Seelenleben, Freibg. 1907, S. 71 f.
  3. Krafft–Ebing S. 61.
  4. Exc. ex Theod. 83, MSG. 9, 696, vgl. Dölger 113.
  5. Wobbermin, Altchristl. Stücke aus d. Kirche Ägyptens. Leipzig 1892, S. 13 f. (TU. XVIII. NF. II, 3b); vgl. Dölger 91.
  6. Evagr. Cap. pract. ad Anat. 56, MSG. 40, 1240. Vgl. Stoffels, Makarius der Ägypter auf den Pfaden der Stoa (Tübinger Quartalschrift 1910, S. 92 f.).
  7. Ps. 96 (95), 5; I. Kor. 10, 14–21; Vita Antonii c. 33. 78. 79.
  8. Eph. 6, 11. 12; vgl. 2, 2: In denen (sc. Sünden) ihr einst gewandelt seid gemäß dem Äon dieser Welt, gemäß dem Fürsten der Macht dieser Luft; dazu vita Ant. c. 65, wo berichtet wird, daß der Einsiedler in einer Vision die Tragweite des paulinischen Wortes erschaute.
  9. Antonius weiß diese Prophezien natürlich zu erklären. „Was ist Wunderbares daran, daß sie, die feinere Körper besitzen als die Menschen, vorauseilen und es anmelden, wenn sie Reisende aufbrechen sahen!“ (c. 31). Auch Augustinus erklärt die dämonischen Prophezien aus der Schnelligkeit ihres ätherischen Körpers. „Daemonum eam esse naturam, ut aerii corporis sensu terrenorum corporum sensum facile praecedant, celeritate etiam propter eiusdem aerii corporis superiorem mobilitatem non solum cursus quorumlibet hominum vel ferarum, verum etiam volatus avium incomparabiliter vincant“ (August. De divinatione daemonum III 7, ed. Zycha, CSEL 41, 603).
  10. Siehe S. 724 f.
  11. Psychiatrie, Berlin 1894. S. 32 f.; vgl. B. Heyne, Über Besessenheitswahn bei geistigen Erkrankungszuständen (Seelsorger-Praxis XIV) Paderborn 1904, S. 5. – Unsere Studie faßt unter dem Ausdruck Halluzination den Tatbestand der eigentlichen Halluzination und den Vorgang der Illusion zusammen, da auf Grund der vita Antonii nicht festzustellen ist, ob der „Sinnestäuschung“ irgendein falsch gedeuteter Sinnesreiz (Illusion) zugrunde liegt oder nicht.
  12. Tatian. Orat. ad Graecos c. 16, ed. Schwartz (Texte u. Unters. IV 1, Leipzig 1888, pg. 18).
  13. Tatian. l. c.
  14. Vgl. zum Ausdruck „Räuber“ auch vit. Ant. 36. 42 und die noch folgenden Zauberformeln.
  15. Tatian. c. 18 pg. 20: οἱ νομιζόμενοι θεοὶ τοῖς τινων ἐπιφοιτῶντες μέλεσιν, ἔπειτα δι’ ὀνείρων τὴν εἰς αὑτοὺς πραγματευόμενοι δόξαν δημοσίᾳ τε τοὺς τοιούτους προϊέναι κελεύσαντες κτλ.
  16. Cyranides III, 3, 5 ed. de Mély et Ruelle, Les lapidaires grecs (Paris 1898) 87, 1; vgl. Tambornino 19. Das Werk stammt aus der Zeit Mark Aurels.
  17. Cyranides IV 21, 3 ed. de Mély 121, 3 (Tamb. 19).
  18. Cyranides IV 9, 6 ed. de Mély 111, 10 (Tamb. 19).
  19. Pap. Lond. 121 ed. C. Wessely (Denkschr. Wien. XLII, 1893) v. 589 sq. (Tamb. 15).
  20. Zum Somnium Scip. I, 3, 7 vgl. W. H. Roscher, Ephialtes, eine pathologisch-mythol. Abhandlung über die Alpträume und Alpdämonen des klass. Altertums (Adh. d. phil.-hist. Kl. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss. XX 2, Leipzig 1900, S. 22).
  21. Vgl. Dionys. Calicarn. Ant. Rom. 5, 16 (B. Teubn. II 163): ἢ φοναὶ δαιμόνιοι ταράττουσι τὰς ἀκοὰς τούτου φασὶν εἶναι τοῦ θεοῦ τὸν ἒργον.
  22. Val. Max. I 8, 5 (B. Teubn. pg. 47).
  23. Plutarch, De defectu oracul. 9 (B. Teubn. Mor. III 81).
  24. Origenes, De princip. III 3, 5 (MSG. XI 318): Alii a prima aetate daemonem, quem Pythonem nominant, id est, ventriloquum passi sunt.
  25. Synesius, De provid. 136 B (Tambornino 23).
  26. E. Rohde, Psyche² II 47.
  27. Hippocrates, De morbo sacro ed. Wilamowitz, Lesebuch I 2 pg. 271.
  28. Eusebius, Praep. ev. 4, 23, 7. 8 (B. Teubn. I 207 sq.).
  29. Plinius, Nat. hist. 2, 16 (B. Teubn. I 132).
  30. Oribasius, Synops. 8, 2 ed. Bussemaker et Daremberg, Paris 1873, V pg. 402 (Roscher, Ephialtes 22).
  31. Pauly–Wissowa, Realenzykl. d. klass. Altertumsw. [1905] zu Ephialtes Sp. 2847 f.
  32. Roscher, Ephialtes, 26.
  33. Plin. Nat. hist. 23, 29 (B. Teub. IV 125): [Paeonia] medetur et Faunorum in quiete ludibriis; 27, 87 (B. Teubn. IV 256): Grana nigra paeoniae auxiliantur et suppressionibus nocturnis.
  34. Oribasius l. c. (Roscher, Ephialtes, 22).
  35. Hippokrates sämtliche Werke übers. u. kommentiert von Rob. Fuchs, München 1897 II 553. 562. 564.
  36. Galen (ed. Kuehn) XVI pg. 221
  37. Vegetius, Mulomedicina III 12 (ed. Lommatzsch, B. Teubn. 259 sq.).
  38. Psellus, De operat. daemon. XV (Tambornino pg. 53).
  39. Plinius, Nat. hist. 18, 118 (B. Teubn. III 175).
  40. Clem. Alex. Strom. 3, 435 D (Sylb.) ἀπαγορεύουσι κυάμῳ χρῆσθαι ὅτι πνευματο ποιὸν καὶ δύσπεπτον καὶ τοὺς ὀνείρους τεταραγμένους ποιεῖ τὸ ὄσπριον (Roscher, Ephialtes 27).
  41. Porphyrius, De philosophia ex oraculis haurienda ed. Wolff pg. 147 sq. (Tamb. 22 sq.).
  42. Tatian. Orat. c. 17 pg. 18.
  43. Tatian. Orat. c. 18: φαρμακεία δὲ καὶ πᾶν τὸ ἐν αὐτῇ εἶδος τῆς αὐτῆς ἐστιν ἐπιτεχνήσεως. – Makarius der Ägypter tadelt es an den Einsiedlern, wenn sie in Krankheitsfällen von Heilkräutern und Ärzten statt vom glaubensstarken Gebet Hilfe erwarten (hom. 48, 6).
  44. Bei einer solchen theologischen Beurteilung der Dämonologie des Einsiedlers ist m. E. die Glaubenslehre von dem geistigen, d. h. immateriellen Charakter der Engelwelt zugrunde zu legen, selbst wenn die Behauptung Turmels (Hist. de l’angélologie, Revue d’hist. et de litt. rel. III 295, Paris 1898) in vollem Umfange zuträfe, daß man dem Teufel in den ersten fünf Jahrhunderten einen subtilen Leib zugeschrieben habe. Die Annahme, daß erst allmählich unter dem Einfluß vertieften philosophischen Denkens die Unklarheit, welche dem Begriff des πνεῦμα im Altertum noch anhaftete, überwunden wurde und daß damit erst die immaterielle Daseinsweise der Engelwelt, deren Existenz und Willensrichtung die Glaubensquellen klar bezeugen, von aller Zutat frei erscheint, dürfte keine ernstlichen dogmatischen Schwierigkeiten in sich schließen.
  45. Vgl. Beßmer, Störungen S. 30.
  46. Krafft-Ebing S. 105.
  47. Ebenda S. 102 f.
  48. Ebenda S. 103.
  49. Störring, Vorlesungen über Psychopathologie in ihrer Bedeutung für die normale Psychologie, Leipzig 1900, S. 42 ff. (Beßmer S. 31 f.).
  50. Störring S. 45.
  51. Wellhausen, Reste arabischen Heidentums (Skizzen und Vorarbeiten) III1 138 f.
  52. Beßmer S. 30 f.
  53. Paul Radestock, Schlaf und Traum, Leipzig 1879, S. 64.
  54. Hist. Monach. XXVIII ed. Preuschen (Palladius u. Rufinus 1897, S. 87).
  55. Radestock S. 151.
  56. C. Cubasch, Der Alp, Berlin 1877, S. 25.
  57. C. Binz, Über den Traum, Bonn 1878, S. 26.
  58. Radestock S. 119.
  59. August. De civit. Dei XV 23 (ed. Hoffmann, CSEL. XL 110). Vgl. zu Silvanos et Panes, quos vulgo incubos vocant, bei Hieronymus, vita Pauli c. 8: gentilitas Faunos, Satyrosque et Incubos vocans colit.
  60. Vita Apollonii VI 27 (B. Teubn. I 241 sq.).
  61. J. Beßmer S. I., Die Grundlagen der Seelenstörungen, Freiburg 1906, S. 103.
  62. Radestock S. 126.
  63. Kurzgefaßter Leitfaden der Psychiatrie, Ravensburg 1889, S. 24.
  64. Jos. Zahn, Einführung in die christliche Mystik, Paderborn 1908, S. 444. – Das Ergebnis unserer Untersuchung weckt auch den dringenden Wunsch, es möchten die Kriterien für „die Unterscheidung der Geister“, in deren Geschichte die vita Antonii einen Markstein bildet, und welche für die Leitung kontemplativer Orden und frommer Gläubigen noch heute große Bedeutung haben, einer neuen Prüfung unterzogen werden, bei welcher die vertieften Erkenntnisse über die Gesetze des psychischen Lebens besondere Beachtung fänden.