Festpredigt und Rede gehalten bei der Einweihung des Maria-Martha-Stifts mit Altersheim

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Autor: Hermann von Bezzel
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Titel: Festpredigt und Rede des Herrn Oberkonsistorial-Präsidenten D. Dr. von Bezzel gehalten bei der Einweihung des Maria-Martha-Stifts mit Altersheim
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Erscheinungsdatum: 1912
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Erscheinungsort: Lindau i. B.
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Festpredigt
und
Rede
des
Herrn Oberkonsistorial-Präsidenten
D. Dr. von Bezzel
gehalten bei der Einweihung des
Maria-Martha-Stifts mit Altersheim.


Lindau i. B., 5. Mai 1912.


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Predigt
gehalten von dem Oberkonsistorialpräsidenten
D. Dr. von Bezzel
in Lindau am 5. Mai 1912
anläßlich der Einweihung des Maria-Martha-Stifts
in Lindau.




 In dem Herrn Geliebte! Der Name des heutigen Sonntags: Cantate, ruft uns Recht und Pflicht der Freude in das Herz. Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. Wie jeder Sonntag in sich das Geheimnis des Lichtes und des Lebens trägt, so weist jeder Sonntag auf die Kraft und die Quelle dieses Lebens zurück, da sich Lebenskraft dem Tode und das ewige Licht der Finsternis entnahm und alles was wider die Reinheit stritt, zu nichte und was wider das Leben kämpft, zu Schanden machte. Das ist das Recht der Freude; Jesus Christus lebt, das Licht siegt, Lebenskraft ist stärker als Todesmächte und Schrecknisse des Fluches, und dieses Recht der Freude greift dir als Pflicht ans Herz und ins Gewissen. Warum willst du trauern, nachdem die Freudenquelle unablässig strömt? Was soll dich kümmern, nachdem die Lebenskraft das letzte Siegeswort erhält? Wozu die Angst, nachdem Er die Welt überwunden? Nicht mehr wie in fernen Landen sollen unsere Harfen tatenlos ohne Sang und Klang hängen, – sondern preist die Treue des ewigen Erbarmens! Und als solche, denen das Leben das Beste gewährt hat und das Beste geworden ist, singen wir dem Herrn für die alte unauskündbare und unausgesungene Großtat ein neues Lied und schauen hinüber auf die Zeit, da der letzte Mißklang geschwunden und die geringste Disharmonie verklungen sein wird und danken es ihm, daß dort des Singens und Lobsagens kein Ende nehmen soll. Im Auftrag des heutigen Sonntags, als ein Knecht des ewig reichen, ewig treuen Herrn, rufe ich dich, teure Gemeinde zur Freude auf, zu der Recht und Pflicht hier besteht: Freue dich an Gott, freue dich in Gott, freue dich auf Gott.

Leucht uns selbst in jene Welt,
Du verklärte Gnadensonne,
Bring uns durch das Tränenfeld In das Land der süßen Wonne,
Da die Lust, die uns erhöht,
 Nie vergeht. Amen.

 Freue dich an Gott! Das ist das erste.

 Ich lebe! Lebenskraft – Unfaßbares Wort, kaum erklärt, in Begriffen nur aus den Gegensätzen von Finsternis und Tod etwa zu ahnen, nie einem andern faßlich, als dem, der im Leben steht. Aber das ist es eben, worüber wir uns freuen und worauf wir stolz und stark sind. Licht ist das Gewand einer edlen Persönlichkeit und Kraft ihre Rüstung. Darum spricht unser Text von einem Vater der Lichter. Nicht| ein holder Begriff, ein hoher Gedanke, noch eine reine Phantasie, nicht ein Traum, köstlicher, geträumt zu werden, als im Erwachen, wo er die Seele enttäuscht, sondern eine Wirklichkeit ohne Maß und Ende. Wir haben einen Vater der Lichter. Dieser ewige Vater, in dem alles Licht urständet, aus dem es in Strömen über die Welt zieht, Helle auf Helle, Kraft um Kraft, hat einmal ein Wort gesprochen, von dem ein alter Denker sagt, es sei das größte, das je gesprochen worden sei, und diesem Erdenrunde mit dem Wort sich genaht: „Es werde Licht“. Da haben die Mächte der Finsternis geschwiegen und alle Feinde des Lichts sind zurückgetreten und alle Schatten geflohen. Ueber diese Welt strömte das Licht, Lebenskraft, Lebensbedingung und Lebensfülle und als dieses natürliche Licht, das Gott aus der Finsternis hervorkommen ließ, verblaßte, da sich die Störung und Verneinung seiner Kräfte von unten her einstellte, hat er, damit mans wisse, wie es ihm ums Licht zu tun sei und wie er des Lichtes eingedenk ist, seines einigen Wesens Abbild und Kraft, Licht vom Licht, Leben vom Leben, wahren Gott von wahrem Gott auf die Welt gesandt und die Gemeinde sinkt anbetend vor diesem Wunder nieder.

Das ewig Licht geht da herein,
Bringt der Welt ein’n neuen Schein,
Es leucht’t Wohl mitten in der Nacht
Und uns des Lichtes Kinder macht.

 Dieses Licht des eingeborenen Sohnes, sein persönliches Leben und Liebesgedenken hat nicht eine neue Weltanschauung herabgebracht, daß wir mühsam an ihr korrigieren müßten, sondern dieses Licht hat eine neue Welt geschaffen, in Forteroberung aus sanftmütiger und demütiger Treue sie erhalten und bewahrt. Weisheit ist Torheit, Torheit ist Weisheit, Unkraft wird Kraftfülle und Macht wird zur Ohnmacht; wer herrschen will, unterliegt, wer gewaltig sein will, der gehorcht, wer siegen will, der verleugnet sich selbst. Dieses Licht ist dann damit man seine Kraft und Treue erprobe, mit allen finsteren Gewalten in den Kampf getreten, hat der Sünde unheimliche Macht in sein Reich einbezogen und alle lähmenden und ermüdenden Gewalten des Unrechts in seinen Bannkreis genommen. Dann haben ihn der Undank verlassen, die Untreue verraten und die Verneinenden gekreuzigt. Am Grabe haben der Hölle Gewalten triumphiert und der Erde bezeugt, daß das Nichtsein größer sei als das Leben und die Nacht stärker als das Licht.

 Aber so preist die Gemeinde, so verkündet der Glaube, so bezeugt die Tat: Am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten. Das Licht ist stärker als die Finsternis und das Leben größer als der Tod. Dieses Licht, meine Geliebten, hat einen hellen Schein in die Herzen gegeben. Pfingsten steigt herab, der heilige Geist mit dem Glanze der Verklärung, mit dem Feuer der Erneuung kehrt zu den Brüdern ein, und der Gott, den der Apostel einen Vater des natürlichen, einen Vater des ewigen Lichtes heißt, wird fortan zum Vater der Lichter. Nun hebt die große Geschichte aller erlauchten und erleuchteten Persönlichkeiten an: Fischer werden zu Aposteln, einsame Fährleute steuern hinaus auf das weite Meer der Welt, Zöllner bieten ihre kostbarsten Schätze an, aus einem Saulus wird ein Paulus, der Mann, dessen Gedächtnis diese Kirche geweiht ist, leuchtet vor seinen Feinden in Engels-Klarheit und Gestalt, die großen Väter schreiten einher, die treuen Bekenner folgen ihnen nach und über diese Gaue hin gehen die ersten Missionare, die treuen Zeugen, ein Gallus, ein Pirmin und späterhin ein Schnepf und ein Zwick, der Dichter des herrlichen Himmelfahrtsliedes, der Sänger eurer Kindergesänge, und die treuen Namen eurer Geistlichen, Du evangelische Gemeinde Lindau, vorab ein Gaßner, leuchten in dieser Stunde aus dem verklärten Zuge der Zeugen und preisen den Vater der Lichter. Hinfort gibt es nicht mehr Menschen, sondern Persönlichkeiten, nicht mehr Zahlen, sondern Charaktere, nicht mehr enteilendes Leben, sondern Gestalten, in denen Christus sich auswirkt, Männer und Frauen, die des Evangeliums von Christo, des einfachen Evangeliums, nicht sich schämen.

 Das ist der Vater der Lichter. Freut euch an ihm, daß er nicht in starrer Einsamkeit, in weltferner Selbstgenüge an sich hält, sondern daß er unermüdliche| Tatkraft seiner Welt verleiht. Wenn aber die eine oder andere Seele in dieser Stunde sagen, wenn insonderheit unsere Jugend, auch die stadtfremde, einwenden wollte, es sei ihr von all dem wenig oder gar nichts bekannt, weil die Geschichte auch der Kirche vorüberzieht, wie die der Welt und niemand achtet ihrer, so ruft ihr jede erfahrene Seele zu: Hast Du nicht gehört, wie es am Eingang des heutigen Textes heißt: „Geliebte Brüder.“ Das Wort ist entwertet, die Kirche sucht wieder der klaren, unentstellten Münze Glanz und Gabe, denn das Wort ist vertraut und von Herzen gesprochen. Erweckt wieder, meine Teuren, die ganze Größe und Fülle dieses Wortes. Nicht bin ich meinem Gott fremd, sondern sein Licht hat mein Leben erworben[.] Nicht stehe ich fern von ihm, sein Licht hat meinem Leben sich geweiht. Er hat uns erzeugt, niemand konnte ihn zwingen, er hat uns wiedergeboren, niemand kann ihn nöten, aus freier Gnade durch sein Wort, auf daß wir wären Geliebte in Christo. Freust du dich an dieser Großtat deines Gottes, der dich durch Jesum aus der Sünde erkauft hat, frohlockst Du darüber, daß Dein Name im Himmel angeschrieben ist? Gott schenke es Dir und mir, daß wenn es in uns finster und Nacht werden will, wir dieses einzige große Licht fest ins Herz prägen und ins Leben nehmen: Ich bin erlöst, erkauft. Ich bin dem Vater des Lichtes teuer und wert.

 Dieser Vater der Lichter, Gemeinde des Herrn, hat in seinem ganzen Wesen einen Zug, den ihr im Wechsel der Tage, im Wandel der Tagesmeinungen nicht hoch genug schätzen könnt. Er ist sich selbst treu, bleiben wir nicht treu, so bleibt doch er treu, er kann sich selbst nicht leugnen. Bei ihm ist kein Wechsel. Hunderte von Jahren haben ihn den Vater der Lichter geheißen. Welcher Zeit war es gestattet, bei ihm einen Wandel seines Wesens zu finden? In der Stunde, in der er sein Wesen wandelt, hört er auf, der ewige Gott zu sein, löst sich in Begriffe, Begriffe in Schatten und dann Schatten in Träume auf. Bei ihm ist keine Veränderung des Lichtes noch der Finsternis, keine Ueberschattung und Trübung, spricht Jakobus, der Apostel. Welten gehen vorüber, Jahrhunderte streichen vorbei, Menschenleben sinken dahin. Wie unsere Väter zu ihm flehten, zu dem Vater der Lichter, so heben wir unsere Hände auf zu ihm, dem rechten Vater über alles, was Kinder heißt im Himmel und auf Erden und schauen ängstlich in sein gnadenreiches durch Jesum Christum entwölktes Gesicht. „Hast du einen anderen Zug jetzt in dir? Bist du durch die Forschungen der Neuzeit geändert worden?“ Ja, sie haben in dein heiliges Bild fremde Züge eingegraben und in deine ewige Treue ihre Anschauungen hineingeprägt. Aber diese Zeichnungen verwittern, ehe der Griffel der zeichnenden Hand entsinkt, und diese Bilder vergehn, ehe ihre Bildner zu Grabe steigen, und unverändert und ewig treu leuchtet das Angesicht des Erbarmers. Bei ihm ist keine Abschattung, die durch den Wechsel geschehen, als ob Jahrhunderte durch ihre Last und Schuld bei ihm gleichsam Schatten niederlegten und niederließen. Jahrhunderte mit ihrer Sünde sind getragen, Jahrtausende mit ihrer Schuld sind vergeben, die Lebensformen in Erbarmen beschlossen und in sein heiligstes Wesen ist kein Schatten hineingetreten. St. Jakobus möchte es uns recht deutlich sagen: Nicht eine Wendung von Schatten, nicht ein Schatten von Wendung. Wenn ein einzelner Schatten auf ihm läge, so würde er dir vielleicht gelten und wenn ein einzelner Zug des Erbarmens im Laufe der Jahrhunderte sich geändert hätte, würde er dir vielleicht nicht antworten und du wärest in ständiger Angst: Ich lebe unter dem Schatten seines Angesichtes, mir droht die Veränderung seines Wesens.

 II. Darum, Gemeinde des Herrn, freue dich in deinem Gott, denn bei ihm ist keine Veränderung. Vater und Mutter verlassen dich, Weltanschauungen flüchten an dir vorüber, je länger je schneller; aber, den unsere längst heimgegangenen Väter anriefen, auf den sie hofften, ohne zu Schanden zu werden, das ist der alte treue Gott und doch nicht veraltet. Denn, so fährt unser Text weiter, von diesem tiefgründigen und unerschöpflichen Quell des Lichtes steigt jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk herab. Als eine gute Gabe preise ich in diesen Stunden die evangelische Gemeinde Lindau; was sie unserer Kirche an Handreichung und Treue geleistet hat, wie sie mit ihren Geistlichen innig sich zusammenschloß, Treue um Treue vergeltend, sei ihr gedankt. Als eine gute Gabe begrüße ich, ein| Diener meiner armen Kirche, alle diese reichen Anstalten und Bemühungen christlichen Ernstes in euren Mauern. Ihr habt dem fremden Wanderer die Herberge bereitet und herbergt gerne. Ihr seid gastfreundlich ohne Murmeln. Ihr habt der nachdrängenden weiblichen Jugend Schulen gebaut, in denen Erdenwissen ihnen vermittelt und im Meister alle Weisheit ihnen gezeigt wird, habt für die künftigen Hausfrauen eurer Kirche, für dieses heißbegehrte, aller Bemühungen würdige Wesen Großes gewagt. Ihr habt ihnen Häuser gebaut, in denen sie in aller weiblichen Zucht und Arbeit unterwiesen werden mögen. Ihr habt eure Alten und Verlassenen nicht vergessen, damit es um ihren Lebensabend Licht werde. Das sind gute Gaben. Gott sei Dank dafür, daß er in dieser teuren Gemeinde solche lichte Gedanken geoffenbart hat. Die Kirche segne dich, evangelische Gemeinde, daß du ein Gefäß der göttlichen Barmherzigkeit und ein Werkzeug seiner Gnade werden willst und geworden bist. So vertrauen wir euch ein gutes Stück unserer Zukunft. Lehrt sie die Freude am Herrn als ihre einzige Stärke, zeigt ihnen die Treue gegen das reformatorische Bekenntnis als Ehre des christlichen Namens und als Schmuck jungfräulicher Würde, damit nicht am Traualtar versäumt werde, was der Konfirmationstag versprochen und gelobt hat. Das sind wahrhaft gute Gaben, und wenn nun diese Jungfrauen und Mädchen, welche der Anstalt anvertraut werden, in allerlei Not und Angst sich befinden, wenn, teure Lehrerinnen, der Erfolg nicht entspricht und sorgende Arbeit nur Dornen und Disteln erntet, hört, Geliebte, es gibt ein vollkommenes Geschenk, das heißt Vergebung der Sünde, und wo Vergebung der Sünde, da ist Leben und Seligkeit. Ja, liebe Jungfrauen meiner Kirche, die ihr hier in allem Großen, Reinen und Guten unterwies[e]n werdet, nehmt dieses große Geschenk in euer Herz: So wir sündigen, haben wir einen Fürsprecher beim Vater, Jesum Christum, der gerecht ist. Teure Lehrerinnen, zumeist aus einer Anstalt entsprossen, die wir als eine gute Gabe unserer Landeskirche seit jetzt 58 Jahren verehren und ehren, wenn ihr in eurer Unterweisung fehlt, statt Liebe die Erregung regiert, wenn das Gleichmaß in der Arbeit auch entfällt, Er ist euer Friede, eurer Unvollkommenheit antwortet seine Gnadenfülle ein vollkommenes Geschenk. Nehmt das mit Freuden auf, dieses Wort, welches euch und eure Seelen selig machen kann. Denkt daran, daß ihr schnell seid, zu hören, wo euch sein Wort begrüßt, in allerlei Gestalt und Form des Erdenwirkens an euch kommt. Seid schnell zu lernen, wo euch sein Wort geboten und geheiligtes Beispiel euch vor die Seele tritt, und seid langsam zu reden, in all euren Worten still und gelassen, in eurem Leben gezüchtet und geheiligt und langsam zu aller Schärfe und Zorn, denn des Menschen Zorn verwirkt die Gottesnähe.

 Meine Teuren, freut euch in dem Herrn, sagt es euch täglich, daß ich bin und daß ich arbeiten, lehren und lernen darf, sage du, teure Gemeinde, daß ich schenken und schirmen darf, ist eitel Gabe, ist lauter Gnade, sagt: „Es ist ja, Herr, Dein Geschenk, gib ihm Wachsen, Blühen und Fortdauer.“ So nehmt und freut euch, so gebt und frohlockt und seid dankbar, daß ewige Güte und ungeminderte frische Gaben und Geschenke niedersteigen auf Erden. Aus dieser Fülle nehmt Gnade um Gnade und aus dieser Stärke nehmt Kraft um Kraft. Wenn ihr aber sagt: Woher kommt das Unkraut, da ich doch Weizen säete, woher kommen die Schatten und Enttäuschungen, da bei ihm doch lauter Licht ist, woher kommt Unfriede, Angst und Streit und das Weh des Lebens, die man deutlich sehen kann? Nur gute, nur vollkommene Gabe kommt von oben herab. Irret nicht, sagt nicht, die Schuld liegt an Ihm, sondern gesteht es, daß nachts der Feind kam, als die Leute schliefen, das hat der Verräter gewirkt, als ich nicht wachte. Das ist mein böser Eigenwille, der sich ihm nicht ergab, als er gefordert ward und meine Sünde, die nicht zu zählen und zu verstehen ist. – Aber „All’ Sünd’ hast Du getragen, wir müßten sonst verzagen, erbarm Dich unser, o Jesu!“ So sei die Freude meine Kraft zur Arbeit, treu im Empfangen und im Geben!

 III. Und mit einem letzten Gruß soll das Evangelium, soll die Epistel des Tages euch beglückwünschen. Das Evangelium redet von einem Zurückströmen des Lichtes zu dem, von dem es ausgegangen, von einer rückwärts und damit doch heimwärts gehenden Geschichte.

|  Der vorhin verlesene Text spricht von den Reben, die am Weinstock immer mehr sich nähren, damit am Tage der Ernte Reben und Weinstock sich bewähren und unser Text sagt von dem Vater der Lichter, zu dem alles Licht wieder zurückströmt. Irrlichter sinken in den Sumpf, dem sie entstammen, Truglichter werden dem Ort wieder zuströmen, dem sie entwichen, aber Gottes liebe Persönlichkeiten kehren heim zu dem, der sie gemacht hat. Gemeinde des Herrn! Wenn die Kirche nicht lehren würde: aufgefahren gen Himmel und das Evangelium nicht bezeugen würde, daß er vor seinen Jüngern zum Himmel sich erhoben hat, so müßte in der Natur des Lichtes gebunden die Gemeinde seine Himmelfahrt als logischen, innerlich organischen Prozeß in Jesu Leben behaupten und bezeugen. Alle Quellen kehren zurück, woher sie gekommen, alle Lichter kommen zu dem, von dem sie stammen. So ist der Herr Christus heimgekehrt, reicher als er vom Vater geschieden: mit erlösten Seelen, mit eroberten Welten, mit besiegten Feinden, mit errungenen Gnaden. Es ist geschehen, was Du gesagt hast. So sind die Apostel heimgezogen mit den erworbenen Pfunden. Siehe, Dein Pfund hat andere getragen und haben den Lohn der Treue empfangen und keine, keine christliche Persönlichkeit kehrt mit leeren Händen wieder heim, der eine hat das, der andere jenes gewonnen, alle aber streben heimwärts, auf daß sie dem Vater zeigen, daß sie gearbeitet haben. Teure Amtsbrüder in der hiesigen Gemeinde! Wenn eure Zeit um ist, die der Wirksamkeit und des Schaffens am hiesigen Orte, sollte es dann für euch etwas höheres geben, denn daß ihr mit ausgenützter Gelegenheit – mit erworbenen Seelen zurückkehrt? Kein anderer Erfolg gleicht dem: Siehe hier bin ich und die, die Du mir gegeben hast, kein anderer dem Sieg, als daß durch sein Wort etliche glauben werden. Teure Lehrerinnen! Der Beifall eurer Schülerinnen, ihr Lob, ihre Liebe, ihre Anhänglichkeit sind entschwindende Größen, der Wandel zu schnell; aber nicht entfällt, was man mit heißem Gebet erobert hat. Gott verleihe euch aus Gnaden, daß ihr nicht mit leeren Händen und beschwertem Gewissen heimkehrt. Liebe Schülerinnen, wenn ihr in eurem schönen Lindau hinüberseht zu den Bergen, hinüber über den herrlichen See, dann hebt eure Augen weiter zu den Bergen, von welchen allein Hilfe kommt, aufwärts zur Heimat und gedenkt bei des Sees Wellen des Friedens, den Er verheißen hat, der Treue wie „des Meeres Wogen“. Indem ihr das Heimweh im Herzen bewahrt, heiligt ihr euch, gleich wie er heilig ist, denn ein jeder, der solche Hoffnung trägt, reinigt sich. Teure Gemeinde! In dem Einen wollen wir eins bleiben, so verschieden unsere Wege sind auf dem einen fröhlichen Heimweg, Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt’ Gott, ich wär in Dir. Daß wir uns nicht auf Illusionen freuen, nicht an hohe Ideale denken, sondern daß wir uns auf Gott in Jesu Christo freuen dürfen, das sind einigende heiligende Gedanken. Mit dem Halleluja dessen, was er an uns getan hat, haben wir begonnen. Ich freue mich des Herrn und meine Seele ist freudig und fröhlich in meinem Gott. Das Halleluja ist die Kraft unseres Lebens; soviel lebt der Mensch, als er sich freut, ich will den Herrn allezeit preisen, sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein. Das letzte aber, wenn alles vergangen sein wird, bleibt die Freude und der Freude Gesang, für den er uns das Recht und der Freude Wahrheit gegönnt hat, zu dem hin, der die Freude zur Wirklichkeit unseres Lebens einst machen will. Gott sei Dank, daß allen irdischen treuen Gemeinden ein Kantate als ein himmlisches und ewiges folgt. Gott sei Dank, er hat uns ein neues Lied verheißen. Herr, tue unsere Lippen auf, daß unser Mund einst ewig Deinen Ruhm verkünde.
Amen. 




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Rede
Seiner Exzellenz des Oberkonsistorial-Präsidenten
D. Dr. von Bezzel
gehalten am 5. Mai 1912 bei der Einweihung des Maria-Martha-Stifts in Lindau..


 Verehrte Anwesende!

 Es gereicht beim Blicke auf alle die bebauten und bebaubaren Gebiete des Lebens, in denen wir stehen, der Kirche zur hohen und ernsten Genugtuung, wenn sie sieht, wie das von oben her erzeugte Leben allerlei Gestalten und Formen gewinnt, welche vergangene Zeiten weder kannten noch kennen wollten. Ich muß ja hier gestehen, daß ich der anstaltlichen Entwicklung, welche die Werke der inneren Mission allenthalben annehmen, mit einer gewissen Sorge gegenüberstehe. Es liegt in allem Anstaltlichen ein ganz bestimmter Mangel, die stillschweigende Anerkennung dessen, daß die Nächstberufenen und die sie vertretenden Faktoren nicht mehr ausreichen, die hohe Aufgabe zu erfüllen, welche die Kirche je und je ihren Gliedern gestellt hat und stellen muß. Aber, verehrte Anwesende, ehe diese Aufgabe, zu deren Lösung eben die nächstgeborenen Faktoren nicht mehr hinreichen, ganz ungelöst bleibt, ist es doch fördersamer und der evangelischen Nüchternheit mehr entsprechend, wenn die Anstalten der inneren Mission, deren Anstalten dieses eben geweihte Werk ergänzt, nicht gänzlich erstarren und eintrocknen. Von diesem Gesichtspunkte aus darf ein Diener der Kirche, darf jemand, der wenigstens das eine für sich beanspruchen kann, daß ihm das Wohl seiner Kirche unablässig am Herzen liegt, das neue Werk in der Gemeinde Lindau von ganzem Herzen begrüßen.

 Gestern vor 15 Jahren ist der unvergeßliche Präsident D. von Stählin, mein günstiger Gönner, aus dieser Zeitlichkeit abgerufen worden. Ich bin nicht der Erbe seines milden und sonnigen Optimismus geworden, um den ich ihn im Geiste oft beneide, aber ein Wort aus seinem Munde hab ich doch gemerkt, habe mir’s bis auf diese Stunde durchgerettet und es soll mich durchretten in all dem Schweren, das uns befohlen ist: „Es geht vorwärts.“ Wenn der Augenblick froher Stimmung dieses Wort prägte, gilt es nicht schwer. Es ist eine liebenswürdige Selbsttäuschung über den Ernst der Dinge und über die Wirkung der Wirklichkeit. Wenn aber ein von Gott so geheiligter und in den Tiefen seines Glaubens so bewährter Mann wie der selige Stählin solch ein Wort brauchte, war es nicht das Ergebnis hoher Erregung, nicht das Geschenk einer Stunde, die man dadurch festzuhalten sucht, sondern der treue, gottgesegnete Niederschlag all der hoffenden, harrenden, glaubenden Erinnerungen, die aus der Geschichte der Vergangenheit tatkräftig in die Zukunft hineinreichen[.] Von dieser Betrachtung aus, verehrte Anwesende, begrüße ich den heutigen Tag als einen Merk- und Markstein der ewigen Gottesgnade und sage aus tiefer Befriedigung für all die unverdiente Güte unseres Herrn: Es geht vorwärts. Wahrlich nicht blind gegen allen Rückgang und gegen alle Schäden erblicke ich in dem, was ich hier sehen durfte, doch den Ernst, mit dem Prüfung über den Wert gefordert wird, und die Aufrichtigkeit, mit der gemeint wird, das zu behalten, was wir haben.

|  Wenn einmal eine Kirche in ihren Bräuchen erstarrt, geht es eben nicht vorwärts, und wenn sie an dem geschichtlich gewordenen Namen der Vorzeit sich genügen läßt, ohne ihn zu durchleben, geht es auch nicht vorwärts. Es ist eine starre, abgeschlossene Festigkeit, etwas Imposantes, aber nichts Evangelisches. Wenn also in dem großen Ringen der Geister, nicht um ein fremdes, sondern um ein ideales Kleinod, in der großen Lebensfrage der Seelen, nicht um ein Neuerworbenes, sondern um ein Altvertrautes und ein Altgeschenktes, sich das Leben zeigt, das Formen bildet und verwirklicht, so begrüßen wir es von ganzem Herzen. Als evangelische Christen, denen die Hoffnung ins Herz gegeben ist, sagen wir: es geht vorwärts. So können wir auch das Anstaltliche, wenn es auch nur mit gewissen Bedenken von uns angesehen werden kann, doch in der Freude ansehen: hier bildet die Kirche neue Gestaltung, hier sucht sie die Förderung aller vorhandenen Lebenskräfte durch innerliche Vertiefung und durch Arbeit unter Einzelstehenden auch dem anstaltlichen Leben zu dienen.

 Mein Wunsch an die evangelische Gemeinde Lindau kann nicht so unmittelbar sein, verehrte Anwesende, wie es die Wünsche meiner in Gott ruhenden Vorgänger gewesen sind. Beide waren schwäbischen Stammes und mit ihren Wünschen und allen Sorgen ihrer schwäbischen Heimat besonders verwandt. Aber dankbar im Andenken an viele Freundlichkeiten, die in früheren Zeiten ich hier erfahren habe und eingedenk der Pflicht, die mich alle mit gleicher Treue umfassen heißt, wünsche ich der evangelischen Gemeinde Lindau, daß sie am heutigen Tage, an dem sie ein neues Blatt ihrer reichen Geschichte beschreiben wird, segensvoll immer vorwärts schreiten und das Panier des guten Glaubens in allerlei Fährnissen bewahren möge[.] Wenn ich unserer evangelischen Gemeinde wünsche, es möge vorwärts gehen, so wird es nicht unbescheiden sein, sondern auf der ganzen Linie der Dinge liegen, wenn ich angesichts des verehrten Oberhauptes der hiesigen Stadt wünsche, es möge auch in dem Gemeindewesen Lindau immer vorwärts gehen. Es ist evangelische Glaubensart, in dem, was sie besitzt, etwas zu sein, nicht nur in dem, was sie wünscht und ersehnt, ein Dank auch für die große Treue, mit der die Stadt Lindau durch Jahrhunderte die evangelische Gemeinde beherbergt hat und zur herzlichen Vergeltung für all diese Herbergsgüte, mit der die Gemeinde sie erfreut hat. Ich wünsche und glaube es im Auftrage, jedenfalls aber im Sinne dieser Gemeinde, von ganzem Herzen, daß Gott der Herr die Stadtgemeinde Lindau weiterhin blühen und gedeihen und es in ihr und mit ihr vorwärts gehen lassen möchte. Wenn wir so wünschen, wünschen wir der Stadt Bestes und indem wir so hoffen, gönnen wir ihr die Sonne der Tage, die in Freundlichkeit und Güte über ihr leuchtet. Freilich, verehrte Anwesende, das sei mein letztes Wort, die Wünsche, Gebete, Gedanken haben immer etwas sehr Subjektives, der Moment diktiert sie, die Erwägung vertieft sie, die Geschichte erst muß sie erfüllen und berechtigen. So möge es mein Wunsch bleiben, daß, wenn längst unsere Tage dahin sein werden, und unsere ganze Arbeit dem unbestochenen Urteil dessen, was wir jetzt Zukunft nennen, anheimgefallen sein wird, man von diesem Teil der Geschichte unserer Landeskirche, der Gemeinde Lindau und ihrer Stadt sagen möge, es ist vorwärts gegangen. Denn die Treue hat Wurzeln geschlagen, Vertrauen hat den Stamm umhegt und umschirmt und der Segen hat es den Aufrichtigen gelingen lassen. Ja, der die Gegenwart gnadenreich gesegnet hat, läßt die Zukunft besser, reicher, reiner werden, sie bleibt dann als Kind der Gegenwart deren bester Dank und bleibender Segen.




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Buchdruckerei Stoffel & Wachter, Lindau.