RE:Sokrates 5

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Begründer der attischen Philosophie
Band III A,1 (1927) S. 811890
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5) Sokrates aus Athen, Begründer der attischen Philosophie.

I. Äußeres Leben. Der allgemeine Stand der Forschung.

Hierzu durchgängig zu vergleichen Zeller Philos. d. Gr. II 1⁴ 44ff. und Praechters alles Wesentliche bringende Darstellung in Überwegs Grundriß I12 129ff.; dazu tritt neuerdings Ad. Busse Sokrates (die großen Erzieher, hrsg. von R. Lehmann, VII. Bd.), Berl. 1914, und Joels ausführliche Darstellung in der Gesch. d. antiken Philosophie I 754, der die Unsicherheit der Überlieferung stark betont. H. Maiers großes Buch (Tübg. 1913) behandelt nicht das Leben, sondern ‚das Werk und seine geschichtliche Stellung‘. Hier wird es zunächst für jede Forschung der Ansatzpunkt bleiben müssen. Das Geburtsjahr wird – im groben und ungefähr – bestimmt durch die Angaben Platons: Apologie p. 17 d νῦν ἐγὼ πρῶτον ἐπὶ δικαστήριον ἀναβέβηκα, ἔτη γεγονὼς πλείω ἑβδομήκοντα; ähnlich Crit. p. 52 e ἄλλο τι οὖν, ἂν φαῖεν, ἢ ξυνθήκας τὰς πρὸς ἡμᾶς αὐτοὺς καὶ ὁμολογίας παραβαίνεις, οὐχ ὑπὸ ἀνάγκης ὁμολογήσας οὐδὲ ἀπατηθεὶς οὐδὲ ἐν ὀλίγῳ χρόνῳ ἀναγκασθεὶς βουλεύσασθαι, ἀλλ’ ἐν ἔτεσιν ἑβδομήκοντα ἐν οἷς ἐξῆν σοι ἀπιέναι. Da das Todesjahr 399 und auch der Monat durch die bekannte Beziehung auf die Rückkehr des delischen Festschiffes feststeht – nach Xen. mem. IV 8, 2 lagen zwischen Verurteilung und Hinrichtung 30 Tage – so liegt es nahe, von den Delien des J. 399 einfach erst einen Monat vor und dann 70 Jahre zurückzurechnen. Diesen Weg schlugen auch Demetrios von Phaleron und Apollodoros ein, deren Angaben Diog. Laert. II 44 ausführlich bringt. Der Geburtstag, der dort angegeben ist, der 6. Thargelion, ist wohl legendarische Verknüpfung mit dem Geburtstag der Artemis als Geburtshelferin, wie der 7. Platons und Apollons, vgl. Zeller Phil. d. Gr. II 1. 45, 1. v. Wilamowitz Arist. u. Ath. I 190. Für die Zeit der Hinrichtung Praechter Herm. XXXIX (1904) 473. Die Schwierigkeiten, die trotzdem bleiben, hat Jacoby zu Apollodors Chronik 284ff. entwickelt. Ob die Delien im Elaphebolion oder bereits im Anthesterion gefeiert wurden, ist weniger wichtig, nur verschärft der frühere Ansatz des Todes noch die Schwierigkeit, daß Apollodoros und Demetrios das Leben des S. zu kurz berechnen, wenn sie als Geburtsjahr Ol. 77, 4 = 469/8 angeben, besonders wenn man den Zusatz πλείω zu ἑβδομήκοντα nicht für so unwesentlich hält, wie Jacoby a. a. O. 289; mit dem Bodl. und d. Schol. ad Hermog. den Zusatz πλείω ganz wegzulassen, ist einfach – aber deshalb nicht zulässig. Nur zählte Apollodoros natürlich beide Jahre mit, indem er 70 Archontenjahre zurückzählte, und berücksichtigte nach antiker Sitte nicht Monate und Tage. Jedenfalls ist Jacoby zuzugeben, daß von einer durch [812] Vernachlässigung der platonischen Angaben irrigen Datierung durch Apollodoros nicht gesprochen werden darf; lediglich die ungenaue Zählungsweise der Alten muß in Rechnung gestellt werden. Wenn auch Ol. 77, 3 = 470/69 als wahrscheinliches Datum gelten darf, so ist doch durchaus festzuhalten, daß die Angaben Platons, auf denen alle späteren beruhen, nur das allgemeine Lebensalter bezeichnen sollen; eigentliche chronologische Interessen liegen ihm wie jedem Griechen seiner Zeit völlig fern.

Von sicheren Angaben über ihn sind nur noch überliefert: sein Vater Sophroniskos war Bildhauer und seine Mutter Phainarete Hebamme, Diog. II 18; über die Hebammenkunst der Mutter auch Plat. Theait. 149 aff. Daß er selbst eine Zeitlang den Beruf seines Vaters ausgeübt hat, und daß in einer am Eingange der Akropolis aufgestellten Gruppe bekleideter Grazien sogar ein Werk von seiner Hand gestanden hat (Diog. II 19. Paus. I 22, 8. IX 35, 7. Suid. s. Σωκράτης) ist nicht sicher; handwerkliche Betätigung freilich ist mit seinem ganzen Leben und seiner Lehre wohl vereinbar (über den ,Meistergeist‘ des S. gut Joel 780), wenigstens für den jungen S.; der ältere scheint ja gerade durch die zunehmende, mit den wirtschaftlichen und geistigen Einwirkungen der Kriegszeit zusammenhängende Vernachlässigung jeder Erwerbstätigkeit in die ,unendliche Armut‘ geraten zu sein, von der Plat. Apol. 23 b und vor allem die Komödie übereinstimmend sprechen. Die gelegentlichen Angaben über Landbesitz, und die Erbschaft von 80 Minen, deren Verlust beim Ausleihen (Dem. Phal. bei Plut. Aristid. c. 1. Liban. Apol. Socr. III 7 R. = V 23 Foerst., dazu Gercke N. Jahrb. I 593, 2), sind alle unsicher, wenn auch bei der Annahme allmählicher Verarmung nicht unmöglich; für früheres bürgerliches Auskommen spricht sein Militärdienst als Hoplite, worauf v. Wilamowitz I 96 nachdrücklich hinweist. Diese Überlieferung wegen des entgegenstehenden Bildes vom Hungerleider S., das die Komödie entwirft, anzuzweifeln (so H. Gomperz Psychologische Beobachtungen an griech. Philosophen, Leipz. 1924, 56. 196), geht zu weit. Xenophon und Platon scheinen den S. nur als armen, genauer im Kriege verarmten Mann gekannt zu haben; Xenophon läßt ihn Oec. II 3 seine ganze Habe einschließlich des Hauses auf fünf Minen veranschlagen. Platon läßt ihn Apol. 38 B den Antrag auf die Buße einer Mine stellen: erst auf den Wunsch der Freunde und ihr Anerbieten der Bürgschaft erhöht er die Summe auf 30 Minen. Die anderen Daten des äußeren Lebens des S. sind alle aus Platon bekannt. An drei Feldzügen hat er teilgenommen: Potidaia (in den Jahren von 432-429, Plat. Symp. 219 e und Charm. 153 a), Delion (424, Symp. 220 e. Lach. 181 a) und Amphipolis (422, Diog. Laert. II 22/23). Seine Rettung des Alkibiades bei Potidaia Symp. 220 d; großmütiger Verzicht des S. auf den Siegespreis, der Alkibiades zuteil wird. Chronologisch bedenkliche Variante zu dieser Rettung des Schülers bei Diog. Laert. II 22, wo S. den vom Pferde gefallenen Xenophon rettet. Woher diese Variante kommt, zeigt die Version des Antisthenes (frg. 51, 10 Winck.), der den Alkibiades bei Delion gerettet werden läßt; durch Verteilung [813] auf die beiden Schüler glaubte man alles vereinigen zu können (Dittmar Aischines von Sphettos 86 und Anm. 63. Joel Gesch. d antik. Philosophie I 756). Von seinem sonstigen politischen Auftreten in der Öffentlichkeit wissen wir sicher nur das, was u. a. die platonische Apologie erzählt: Widerstand gegen die Ungerechtigkeit des Demos beim Arginusenprozeß (p. 32 b) und unter der Oligarchie der Dreißig, Weigerung an der ungerechten Verhaftung des Leon aus Salamis teilzunehmen. 399 wurde S. von Meletos, Anytos und Lykon (Plat. Apol. 23 e) wegen ἀσέβεια angeklagt. Die Anklageschrift will Favorinus noch im Staatsarchiv zu Athen gesehen haben. Der Wortlaut (Diog. Laert. II 40) stimmt im wesentlichen mit dem in Xenophons Memorabilien (11) mitgeteilten überein, und dürfte nach Schanz (Ausgabe d. plat. Apologie, Leipz. 1893 Einl. 16) gelautet haben: Μέλητος τοῦ δεῖνος Πιτθεὺς Σωκράτει Σωφρονίσκου Ἀλωπεκῆθεν ἀσεβείας. τίμημα θάνατος. ἀδικεῖ Σωκράτης, οὓς μὲν ἡ πόλις νομίζει θεοὺς οὐ νομίζων, ἕτερα δὲ καινὰ δαιμόνια εἰσφέρων, καὶ ταὐτὰ ταῦτα τοὺς νεοὺς διδάσκων. Bei Schanz auch alles weitere über den Verlauf, über die Abstimmung; S. wird mit 30 Stimmen Mehrheit schuldig gesprochen; über den Widerspruch von Diog. II 41 gegen Plat. Apol. 36 a vgl. Schanz z. d. St. Hier auch die verschiedenen τιμήματα; an dem Antrag auf Speisung im Prytaneion ist nicht zu zweifeln. Über den Prozeß des S. P. Bizoukides Ἡ δίκη τοῦ Σωκράτους, Berlin 1918, weiteres bei Praechter. Über die Gründe der Verurteilung v. Wilamowitz Platon I 153ff., s. u. S. 826ff.; zur Polykratesrede v. Wilamowitz Platon II 95ff. A. Gercke Einl. z. Plat. Gorgias. Neuaufl. von Sauppes Kommentar, Berl. 1897 XLIII. H. Gomperz N. Jahrb. 1924, 172. Über Libanios und Polykrates H. Markowski De Libanio Socratis defensore, Bresl. philol. Abhdlg. 40. Die Befragung des delphischen Orakels durch Chairephon (Kratinos frg. 202 K. Eupolis frg. 165 K.), einen der ältesten Freunde des S., wird Plat. Apol. 21 a. Xen. Apol. 14 berichtet; in einen größeren Zusammenhang ordnet dies R. Herzog ein im Anhang zu E. Horneffers Buch: Der junge Platon -. Das delph. Orakel als ethisch. Preisrichter. Vgl. auch W. Nestle Sokr. u. Delphi, Korr. f. d. höher. Schulen Württemb. 17, 81–91. Höchst unsicher ist alles, was über die Ehe des S. erzählt wird. Auf Aristoteles περὶ εὐγενείας führt Diog. Laert. II 26 die Überlieferung von der anderen Frau Myrto – neben der bekannten Xanthippe – zurück. Da aber im Gefängnisse nach Platons Schilderung Xanthippe und deren Kinder auftreten, so ist die Reihenfolge der Frauen, die Aristoteles angeblich behauptet hat: erst die Xanthippe, dann die Myrto, unwahrscheinlich und wirft auf die ganze Geschichte kein gutes Licht. Über die Fabel der Doppelehe vgl. Zeller Phil. d. Gr. II 1⁴, 54, 2 und Maier 51, 1. Daß S. spät die Xanthippe geheiratet hat, darauf führt die von Platon bezeugte Tatsache, daß er mit 70 Jahren ein παιδίον hat, das ihm die Xanthippe (Phaid. 60 a) ins Gefängnis bringt, und daß auch von seinem ältesten Kind (Apologie 34 d nur gesagt wird μειράκιον), demnach alle drei Kinder noch jung sind. Daß die Komödie keinen Anlaß genommen hat, die [814] ehelichen Verhältnisse des S. irgendwie zu berühren, beweist zunächst nur soviel, daß in der Ehe des S. nichts Besonderes vom damaligen Standpunkte gesehen wurde, nicht notwendig, daß S. erst in höherem Alter, nach der Aufführung der Wolken geheiratet haben muß. Von dem zänkischen, lästigen Wesen der Xanthippe spricht zuerst Antisthenes bei Xen. Symp. II 10: γυναικὶ τῶν οὐσῶν, οἶμαι δὲ καὶ τῶν γεγενημένων καὶ τῶν ἐσομένων χαλεπωτάτῃ. Aus der Schilderung Platons an den angeführten Stellen des Phaidon und der Apologie könnte man von unserem Standpunkte aus nur folgern, daß Xanthippe eine zärtliche, von ihrem Manne unfreundlich und gefühllos behandelte Frau ist. Aber es ist eben falsch, unseren Standpunkt einer geistigen, gefühlsmäßigen Gemeinschaft in die attische Ehe hineinzutragen, mögen immerhin in der damaligen Zeit Bestrebungen im Gange gewesen sein, der ehelichen Gemeinschaft diesen Charakter zu verleihen (vgl. Antiphon des Sophisten frg. 49 Diels, mit meiner Erläuterung o. Suppl.-Bd. IV S. 41; allgemeiner Ivo Bruns Vortr. u. Aufsätze 144). Daß diese Bestrebungen bald auch in Griechenland den Maßstab abgaben, nach dem nachträglich in das Bild des S. und der Xanthippe diese ursprünglich fremden Wertgesichtspunkte hineingetragen und Xanthippe zum Muster einer zänkischen Frau gemacht wurde, dazu hat der Kynismus und das von ihm beeinflußte S.-Bild selbst wesentlich beigetragen. Wie in allen Stücken ist auch hier S. ganz und gar aus den Traditionen der Zeit vor ihm zu beurteilen. S.s Seelengröße, seinen Wunsch, die letzten Stunden seines Lebens in geistigem Gespräch – und das hieß damals soviel wie in männlicher Gemeinschaft – zu verbringen, soll dieser Zug des platonischen Phaidon malen, weder eine Verachtung des Individuums Xanthippe noch einen Akt schlechter Behandlung durch S., der zu einer ,Rettung‘ der Xanthippe als vernachlässigter Frau Veranlassung gäbe, wie sie Zeller (Vortr. und Abhandl. S. 51) versucht hat.

Sind schon diese ganz äußerlichen Daten des Lehens des S. von einem trügerischen Gewebe von Anekdoten und Deutungen aus alter und neuer Zeit verdeckt, so ist die Überlieferung über seine Lehren, die Einordnung in irgendwelche Schulzusammenhänge, auf die es die ältere Philosophiegeschichte in erster Linie abgesehen hatte, ganz unsicher. Während Xenophon (Symp. I 1, 5) ihn als αὐτουργός τις τῆς φιλοσοφίας bezeichnet und Platon im Phaidon ihn lediglich als Kritiker des Anaxagoras vorführt und überdies ihn dessen Schrift durch Lektüre kennenlernen läßt, will eine auf Aristoxenos (Diog. Laert. II 19) zurückgehende Überlieferung von einem Schülerverhältnis zu Archelaos genaueres wissen; er soll erst von diesem zur Philosophie bekehrt worden sein, zu ihm gereist und sich lange bei ihm aufgehalten haben (Diels Vorsokr. 47 A 3); dies widerspricht aber der von Platon überlieferten, an Kant erinnernden Seßhaftigkeit des S. (Phaidr. 230 c. d), der außer zu Feldzügen nur einmal zu den isthmischen Spielen (Erit. 52 B) außer Landes gegangen sein soll; nach Diog. Laert. II 23, unter Berufung auf Aristoteles, waren es die pythischen Spiele. Während H. Maier Sokrates 165 das Schülerverhältnis zu Archelaos und dessen Lehrer [815] Anaxagoras durchaus für möglich, ja für sicher hält, glaubte v. Wilamowitz Philolog. Unters. I 24, 42 früher sogar an eine Verwechslung mit einem andern S.; jetzt (Plat. I 96, 4) hat er diese Vermutung aufgegeben, aber ,es bleiben Zweifel‘; Ion von Chios, auf den Diog. II 23 seine Nachricht zurückführt, daß S. als junger Mensch mit Archelaos nach Samos ging, sagt von einem Schülerverhältnis nichts. Was sonst über die Lehrer des Philosophen gesagt wird, könnte an sich alles aus platonischen Stellen nachträglich konstruiert sein. Daß Konnos als sein Lehrer in der Musik bezeichnet wird, geht auf Menexenos 235 e zurück, wo S. neben der Aspasia diesen als seinen Lehrer bezeichnet; der Witz im Euthydemos 272 c, wo S. befürchtet, den beiden Sophisten ebenso Schande zu machen wie dem Konnos, zu dem er als alter Mann noch ging, und den die jungen Mitschüler γεροντοδιδάσκαλος nennen, hat freilich zur Voraussetzung, daß Konnos wirklich sein Lehrer war. Damon wird wiederholt als Freund des S. genannt, nicht eigentlich als Lehrer; so Laches 180 D. 197 D. Staat. 400 b. 424 c, und zwar immer mehr als Vertreter der von Platon erstrebten Vereinigung von Pädagogik, Politik und Musik: οὐδαμοῦ γὰρ κινοῦνται μουσικῶς τρόποι ἄνευ πολιτικῶν νόμων τῶν μεγίστων, ὡς φησί τε Δάμων καὶ ἐγὼ πείθομαι (424 c). Es scheint, als ob die ja auch heute übliche Art, die gelegentliche sachliche Übereinstimmung mit jemandem im Gespräch so zu bezeichnen: ich bin hierin sachlich Schüler des Damon, des Prodikos usw., wie sie in den platonischen Gesprächen so häufig ist, von Späteren in das übliche Schema der Abfolge von Lehrer und Schüler gepreßt worden ist; nachdem diese Abfolge einmal das Klischee der Philosophiegeschichte geworden war, durfte man grade einer so selbständigen Persönlichkeit wie S. gegenüber nicht wählerisch sein und mußte jeden nur von ferne auf einen ‚Lehrer‘ des S. hindeutenden Hinweis in den somatischen Dialogen aufgreifen.

Wenn ich mich also hier in einen Gegensatz zu H. Maier stelle und die Überlieferung von dem Schülerverhältnis zu Archelaos nicht für urkundlich bezeugt halten kann, so sehe ich doch in dem, was er über die Legende von S. als dem völlig neuen voraussetzungslosen Anfang der Philosophie S. 166 sagt, allerdings die erste Voraussetzung jedes Verständnisses dieses gerade durch seine ungemeine historische Bedingtheit so besonders schwer zu fassenden Philosophen. ,Immer noch wirkt die alte Legende nach, die in S. den Autodidakten und Popularphilosophen sah, der, was er wußte, in der Hauptsache aus sich selbst hatte und in einer entarteten Zeit den überstiegenen hirnverbrannten Spekulationen der früheren Philosophen wie dem sittlichen, sozialen und politischen Radikalismus der Sophisten den schlichten Sinn und den gesunden Menschenverstand des einfachen Mannes entgegensetzte. Man sollte auch den letzten Rest dieses Vorurteils vollends begraben. Wenn irgend etwas, so ist das sicher, daß der S., der uns aus unseren Quellen, wenn wir sie zu nutzen wissen, entgegentritt, ein überaus komplizierter und durch und durch moderner Mensch war, der auf der ganzen Höhe der attischen Kultur und der griechischen Wissenschaft stand – so wenig wir wissen, wie [816] er dahin gelangt ist.‘ Ich füge zu diesen Worten Maiers nur noch die Einschränkung hinzu, daß man diese ,Kompliziertheit‘ und Modernheit des S. tatsächlich auf dem Boden der attischen Kultur und der griechischen Wissenschaft entspringen lassen muß und in ihn nicht geistige und seelische Gehalte späterer Zeit hineintragen darf. Doch auch diese Einsicht in die historische Bedingtheit des S. kann sich bei manchen Forschern in ein Gewand kleiden, das sie wieder illusorisch zu machen droht; so sagt z. B. K. Joel a. a. O. 818: ,In S. erst gelangt das griechische Leben über alle seine Spezialitäten und Partikularitäten hinaus zur wirklichen Individualität, aber damit zu einem Letzten, vor dem es erschauert als einem Dämonischen‘; weiterhin macht Joel ihn zum Träger jenes ,überhellenischen Eros, mit dem S. immer wie auf dem Wege bleibt, während doch sonst die Hellenen immer wie am Ziele stehen‘; er bringt ihn in Beziehung mit ,dem Erkenntnisringen des stammelnden Cusaners, mit Lessings faustischem Streben‘; im Daimonion regt sich ihm ,der Archeus, der individuelle magische Lebensgeist des Paracelsus und leuchtet ihm das Herzensbürglein der deutschen Mystik‘. Hier scheint mir die eigentliche geistige Luft, in der S. lebt und lehrt, bereits sehr stark mit Dünsten anderer Zeiten versetzt. Daß das möglich ist. und zwar bei jemandem wie Joel, der das Quellenmaterial in einem besonderen Maße beherrscht, und wohl jede Stelle kennt, an der von S. in der alten Literatur gesprochen wird, zeigt, daß eine Verwertung der Quellen der sokratischen Lehren ganz besondere Schwierigkeiten hat und der Deutung aus einem antizipierten Ganzen in ungewöhnlich hohem Grade Spielraum gelassen bleibt, auch wo die subjektive Auffassung auf die ,objektiven‘ Zeugnisse zurückgeführt wird. S. ist aktiv-passiv mit dem Nichtwissen historisch verbunden: wie ein Vakuum saugt das eigentümlich scharfe und doch unfaßbare Bild seines Typus die eignen Gedanken anderer Menschen und Zeiten in sich hinein. Es ging den Zeitgenossen bereits ähnlich wie dem modernen Deuter: eignes Denken über die Sache der Philosophie schiebt sich an die Stelle der konkreten Person. Drum scheint es mir nicht richtig, mit Maier 2 zu lächeln über ,die verschollenen S. früherer Zeiten: über den Aufklärungs-S. Mendelsohns, den gemäßigt deistisch denkenden Popularphilosophen, den edlen und tugendhaften Menschenfreund, der schließlich dem ruchlosen Bunde heuchlerischer Theologen und gottesleugnerischer Sophisten zum Opfer fiel; über den S. der Kantianer, den Kritizisten, der durch seine Dialektik und Moral der Zuchtmeister auf Kant geworden ist; über den S. der Romantiker, den reaktionären Träumer, den religiös-gläubigen Mystiker, der durch die Vorsehung berufen war, die Gelehrten auf Christus vorzubereiten – und auch der Sokrates Hegels, der grundsätzliche Rationalist und Subjektivist, in dessen Philosophie sich endgültig der Bruch mit dem alten Glauben, mit der objektiv unmittelbaren Sitte und Moral der Väter vollzog, erscheint uns als eine unhaltbare Geschichtskonstruktion‘. Die Berechtigung des ,Lächelns‘ schränkt Maier freilich sofort durch die Frage ein: ,Aber sind wir denn seitdem einen [817] wesentlichen Schritt weiter gekommen?' Maier sieht den Fortschritt darin, daß wir heute zwischen den S.-Bildern, die in ,geschichtlicher Forschung erarbeitet sind‘ und denen, ,die aus idealschwangerer Phantasie suchender Menschen herausgeboren sind‘, unterscheiden können. Und in der Tat hat Maier in umfassender Analyse die Quellenfrage aufgerollt und ist dabei an einem wesentlichen Punkte zu einem wichtigen Ergebnisse gelangt, und deshalb wird hier immer zunächst an dieses Buch angeknüpft. Andrerseits zeigt auch dieses Werk wieder eine charakteristische moderne philosophische Haltung, die sichtlich auf das S.-Bild einwirkt; wenn dieses eine Richtigstellung des traditionellen Bildes bedeutet, so beruht dies sicher weniger auf seiner, noch zu erörternden Quellenanalyse, vielmehr auf einer anderen eigenen systematischen Haltung den Problemen gegenüber, mit denen auch S. ringt. Dieser Tatbestand der S.-Forschung mußte vorher dargestellt werden, ehe die hier eingeschlagene Methode gerechtfertigt werden kann. Es ist unmöglich, hier alle die immer in neuen Variationen sich wiederholenden Auffassungen des S. in kritischer Auseinandersetzung mit den einzelnen Vertretern der Auffassung vorzuführen. Ein Blick auf die Literaturübersicht bei Bizoukides Ἐπιστημονικαὶ πηγαὶ περὶ Σωκράτους, ἐν Λιψίαι 1921, lehrt dies zur Genüge. Aber ebensowenig kann mit einer Analyse der antiken Quellen begonnen werden, etwa der Komödienstellen – die neuerdings H. Gomperz Hist. Ztschr. 129 (1924) 395, 1 zusammenstellt – dann der Sokratiker und schließlich des Aristoteles; denn auch hier handelt es sich ja bereits um Deutungen, zu denen die modernen Deutungen in einem gewissen Verhältnis der Abspiegelung stehen. Je nach der inneren Neigung zu einer bestimmten S.-Auffassung wird man etwa wie H. Maier Aristoteles vollständig als Quelle verwerfen und die platonischen Frühdialoge als Quelle empfehlen, oder wie H. Gomperz in dem eben zitierten Aufsatze, dessen Titel lautet: ,Die sokratische Frage als historisches Problem‘ zu dem Ergebnis kommen, daß ,Platos Darstellungen allein zur Kenntnis des geschichtlichen S. nichts beitragen‘ (S. 421). Es scheint mir der Sachlage besser zu entsprechen, außerdem ehrlicher und nützlicher zu sein, der Gefahr der subjektiven Auswahl und Bewertung der Quellen offen ins Auge zu sehen und den Gesamteindruck von S., der sich mir aus den Quellen und durch die Auseinandersetzung mit den modernen Darstellern ergeben hat, zunächst einmal zusammenzufassen und dann keine allgemeinen Raisonnements über die Glaubwürdigkeit der Quellen anzustellen, sondern an charakteristischen Interpretationen die hier gewählte Methode eingehender zu rechtfertigen.

II. Die allgemeinen Voraussetzungen der Lehre.

W. Jaeger hat in seiner sehr inhaltsvollen Anzeige des Maierschen S.-Werkes DLZ XXXVI (1915) 334 das ‚salomonische Verfahren‘ eines historischen Eklektizismus mit einer gewissen Ironie behandelt: ,man sucht alle jene Sokratiker als Strahlen eines und desselben Lichtes zu verstehen; also müssen sie alle gleichmäßig herangezogen werden; die ihnen gemeinsamen Aussagen, [818] soweit sie nicht durch quellenkritische Reduktion an selbständigem Wert verlieren, bilden einen soliden Stamm von Erkenntnissen, an den dann weitere Blüten ansetzen können, je nachdem ob man den einen oder andern Autor mehr betont.‘ Und doch wird man, wie ich glaube, dieses Verfahren irgendwie immer zugrunde legen müssen. Ich möchte hier an dieser Stelle, an der eine – meines Erachtens bei S. unmögliche – Übersicht über die gesamte Forschung erwartet zu werden pflegt, diesen ,Eklektizismus‘ nun grundsätzlich auch auf die modernen Auffassungen ausdehnen; da ich nicht im einzelnen alle δόξαι anführen kann, möchte ich doch den Gegenstand gerade von der Hypothesis, von dieser bewußten Grundlegung aus darstellen: daß die ungeheure Spannweite zwischen den verschiedenen antiken und modernen Auffassungen des S., soweit sie auf ernst zu nehmender wissenschaftlicher Arbeit beruhen, als begründet in dem Wesen des S. nachgewiesen wird; ich möchte nicht, wie H. Maier, über all die Bilder des Philosophen ,lächeln‘, sondern einen Gesichtspunkt suchen, der die Widersprüche erklärend aufhebt. Das meines Erachtens absolut zutreffende Urteil, das Jaeger 336 über H. Maiers S. fällt, hat mich zu dieser skeptischen Umstellung der historischen Methode veranlaßt‘; auch der Maiersche S. hängt mit dem tiefsten Wollen und Sehnen, mit dem ethischen Ideal eines großen Teiles unserer Zeitgenossen nicht weniger zusammen, als der des 18. Jhdts. mit dem Deismus und der rationalistischen Vollkommenheitsmoral oder der S. der Stoiker mit ihrem Ideal des Weisen; das Ideal der freien, sittlich autonomen Persönlichkeit, der geistigen Aristokratie, die Abkehr vom Intellektualismus und spekulativen Idealismus, die Flucht von dem Metaphysischen ins Praktische oder auch zu praktisch-religiösen ,Überzeugungen‘, ,Erlebnissen‘ – kurz, alle diese Probleme und Ideale unserer Generation haben hier ihr Licht auf S. geworfen‘, und das Ergebnis ist ,das Bild eines völlig modernen Menschen‘.

Wenn dies das Ergebnis eines mit allen Mitteln philologisch-historischer Technik gearbeiteten Werkes von 628 Seiten ist, müssen die Schwierigkeiten, zu einem griechischen S.-Bilde zu gelangen, worauf doch alles ankommt, zunächst ins Auge gefaßt werden. Man muß sich also klar machen – ganz im Sinne der oben angedeuteten Methode – daß dieses rettungslose Abgleiten der Deutung ins Modernisieren, wie es bei S., Platon, Aristoteles, aber auch bei archaischen Gestalten wie Parmenides, bei Dichtern wie Euripides immer wieder das Los auch angespannter historischer Bemühung ist, kein ,Fehler‘ der Forschung ist, sondern in der Struktur des Gegenstandes begründet ist. Wenn der spätere Betrachter immer wieder getrieben wird, seinen eignen Lebensgehalt in diese ,geprägten Formen‘ der Vergangenheit hineinzutragen, so ist das in der Lebendigkeit dieser Formen aufs tiefste begründet, und am wenigsten sollte der humanistische Philologe den Grund für diese Erscheinung nur in einer fehlerhaften Blickrichtung des späteren Deuters sehen und sich den tieferen Gründen für diese Erscheinung verschließen. Diese Einsicht bedeutet freilich ganz und gar nicht den Verzicht darauf. [819] nun zu erfahren, was z. B. S. wirklich war, wie sein Meinen und Wollen zu deuten ist; sie zeigt bloß, daß die Werkzeuge historischer Erfassung derartigen Gebilden gegenüber besonders bereitet werden müssen. Erst das stets zu erneuernde Bestreben, von dem jeweiligen ,Ideal‘ zu der historischen Wirklichkeit zurückzugelangen, bewahrt die ,humanistische‘ Auffassung des Früheren vor Erstarrung und Entleerung.

Das S.-Problem ist mit der platonischen Frage so eng verknüpft, daß deren jeweiliger Stand die S.-Frage immer mehr oder weniger stark beeinflussen muß. So entsprach dem Marburger Platon ein wesensähnlicher S. Die moderne Platoninterpretation hat eins nun mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt: die Deutungsmöglichkeiten selbst so vollkommener, in sich geschlossener Gebilde wie der platonischen Dialoge sind beinahe unbegrenzt – wie wenig faßbar ist erst eine Gestalt, wie die des S., wo jedes Wort durch das Prisma einer anderen Individualität gebrochen ist. Freilich ist die Verwirrung in die Platonforschung nicht zum wenigsten daher gekommen, daß die platonischen Dialoge eben nicht vollständig aus ihrer künstlerisch geformten Totalität begriffen, sondern daß erst Fragmente, Sätze, Lehren aus ihnen herausgebrochen und diese dann subjektiv gedeutet worden sind. Hierbei sind natürlich die ungeheuren Schwierigkeiten der platonischen – also in gewissem Sinne auch der sokratischen – Terminologie erschreckend zutage getreten (vgl. Stenzel Über den Zusammenhang des Dichterischen und Religiösen bei Platon. Ein Beitrag zur Frage der philosophischen Terminologie, Schlesische Jahrb., philos.-histor. Abt. II [1924] 143). Die große Mehrdeutigkeit der griechischen Termini, noch mehr ihre durch die Tradition festgestampfte scheinbare Eindeutigkeit in einem historischen Verstehen zu überwinden, diese platonische Aufgabe muß naturgemäß der S.-Forschung unmittelbar zunutze kommen. Das Formproblem der platonischen Dialoge hat – neben anderem – für die philosophiegeschichtliche Forschung die kaum zu überschätzende Bedeutung, den Sinn des einzelnen philosophischen Terminus aus dem Ganzen des Dialoges, der Dialoggruppen, schließlich der Einheit des platonischen Werkes durch Interpretation im vollen Sinne zu gewinnen. Daß es grade die sokratischen Termini des ἀγαθόν, der ἐπιστήμη, der φρόνησις, der παιδεία, ἀρετή, γνώμη sind, von denen aus das Verständnis Platons sich aufbauen muß, sei schon hier erwähnt, um die ganze Wichtigkeit der platonischen Frage für die sokratische hervortreten zu lassen.

Aber auch die aristotelische Frage greift mitten in die sokratische insofern hinein, als die Zeugnisse aus der Metaphysik eine zwar vielbestrittene, aber unzweifelhaft ungemein wichtige Grundlage jeder S.-Auffassung bilden müssen. Für ihre geschichtliche Verwertung ist es nun entscheidend, über die vage Selbstverständlichkeit, daß Aristoteles die Lehre des S. in seiner eigenen Sprache ausdrückt, hinaus zu einer klaren Anschauung der gänzlich veränderten inneren Haltung des Aristoteles gegenüber allen philosophischen und besonders logischen Fragen zu gelangen. Die Termini, in denen Aristoteles das Verfahren des S. [820] beschreibt, sie bilden das eigentliche Problem bei der Verwertung seines Zeugnisses. Darüber hinaus hat aber die in jüngster Zeit – durch W. Jaegers Aristotelesarbeiten – einsetzende Erforschung der Entwicklung des philosophischen Stils, d. h. des im innersten Sinne veränderten Ausdruckes eines vielleicht mit dem platonischen zunächst gleich gerichteten philosophischen Meinens den neuen Gesichtspunkt einer inneren Formentwicklung in die philosophiegeschichtliche Forschung hineingestellt, jedenfalls an dem Verhältnis von Aristoteles und Platon diesen Begriff philosophischer Entwicklung mit bisher nie erreichter, vielleicht kaum erstrebter Konkretheit und Faßbarkeit an dem Stoff der überlieferten Lehrschriften verdeutlicht. Wie sich die ganze große Frage des Verhältnisses von Platon und Aristoteles als ein Problem der Form im höchsten Sinne herauszustellen beginnt, so ist damit endlich der Weg eröffnet, durch konsequente Durchgestaltung des Dreischrittes Sokrates-Platon-Aristoteles allen den mehr oder weniger unbestimmten Vorstellungen von dem ,die Philosophie lebenden, nicht schreibenden‘ S. nun eine bestimmtere Form zu geben. Und wie sich Identität und Entwicklung im Verhältnis von platonischem und aristotelischem Philosophieren von den angedeuteten Gesichtspunkten aus erst eigentlich übersehen läßt und die Fabeln vom ,Mißverständnis‘ des Aristoteles sich nun leicht erledigen, so ist von der Anwendung analoger Prinzipien der Deutung nun auch eine klarere Abgrenzung des Sinnes einer ,sokratischen Periode‘ bei Platon, und was hier vor allem notwendig ist, eine klarere Fassung der sokratischen ,Philosophie‘ zu erhoffen. Statt zu fragen, ob ,schon‘ S. diese oder jene Einsicht gehabt, dies oder jenes ,schon‘ gelehrt hat, ist zu fragen, wie, in welcher Form sich bei S. die späteren, selbstverständlich durch die Entwicklung des philosophischen Stils veränderten theoretisierten Gedanken des Antisthenes, Platon usw. ausgewirkt haben.

Der methodische Zugang zu diesem S. als einer anderen Form derjenigen Philosophie, die bei seinen Schülern sich niederschlägt, geht natürlich, wie jede Interpretation, über die Wortdeutung, die allein zu einer höheren Sinneinheit führen kann. Schon dadurch muß diese S.-Auffassung griechischer werden, weil natürlich das ganze Bedeutungssystem der griechischen Sprache durch die Terminologie Platons hier auf die sokratische Lehre einwirken muß, sofern man schon bei Platons Stil seinen engsten Zusammenhang mit der griechischen Sprache als stetes Korrektiv sachlich-systematischer Analyse des philosophischen Tatbestandes im Auge hat. Wenn v. Wilamowitz (Aristot. u. Athen II 410) sagt, daß die platonische Philosophie, ,die in dem rotwälsch der philosophischen Kompendien, wie es die Kandidaten im Examen reden, mehr absurd als tief klingt, sofort verständlich wird, sobald man griechisch denkt oder redet‘ so hat er damit ebenso die – freilich sehr schwer zu lösende – Aufgabe der platonischen Forschung bezeichnet wie im Kommentar zum Herakles II² 109 die freilich noch viel schwerere der S.-Forschung; daß ,die Sokratik nichts ist als die Entfaltung einer Blüte, zu der der Keim zugleich mit dem hellenischen [821] Volke entstanden ist‘ – dies überzeugend dargetan, das wäre in der Tat die Lösung der sokratischen Frage – es bezeichnet den Weg zu diesem Ziele, daß die Bedeutungsanalyse des Wortes εὐδαίμων v. Wilamowitz zu diesen Erörterungen veranlaßt hat!

Fassen wir unter den hier gewonnenen Gesichtspunkten noch einmal die Folge S.-Platon-Aristoteles ins Auge. Bei Aristoteles eine philosophische Kunstsprache, die sich aus dem lebendigen Zusammenhang der griechischen Sprache zu lösen beginnt – obwohl sie gerade durch die Beziehung auf die eigentlich griechischen Bedeutungen und durch Abtragen der darüber gelagerten lateinisch-scholastischen Bedeutungsschichten in vielem erst verständlich wird. Platon nähert sich in seiner Lehrschrift und demnach in seinen Vorlesungen diesem Stadium, in den Dialogen aber ist er sorgfältig bemüht, die philosophische Kunstsprache zu vermeiden, sie wieder aufzulösen in den Logos der lebendigen Sprache; er empfindet diese ,dichterische‘ Bedeutungsgebung bald als Vorteil, bald – später wohl überwiegend – als Notbehelf, als Kompromiß (σπουδή–παιδιά–Problem). S. noch jeder schriftlichen Fixierung seiner Gedanken enthoben, um nichts sich bemühend als um den ,Logos‘ als λέγειν: der andere soll sprechen und sich etwas denken – das ist ja dasselbe; sprechen ohne meinen ist nicht λέγειν – etwas meinen ohne es in der Verständigung zum Ausdruck zu bringen, ist an sich unmöglich, dem Griechen vollständig fernliegend. εἰπέ μοι, ὦ παῖ, οἶσθά τινας ἀνθρώπους ἀχαρίστους καλουμένους; – καὶ μάλα – καταμεμάθηκας οὖν τοὺς τί ποιοῦντας τὸ ὄνομα τοῦτο ἀποκαλοῦσιν; ἔγωγ’, ἔφη· τοὺς γὰρ εὖ παθόντας, ὅταν δυνάμενοι χάριν ἀποδοῦναι μὴ ἀποδῶσιν, ἀχαρίστους καλοῦσιν, Xen. mem. II 2. Das ist der typische Anfang vieler Gespräche. Die Sprache hat einen Sinn; man kann jedes ὄνομα durch andere ὀνόματα und ῥήματα sich und anderen verdeutlichen; man braucht nur zu sprechen, im eigentlichen, oben gekennzeichneten Sinne, und richtiges, eigentliches Sprechen bewährt sich im διαλέγεσθαι; sehr bezeichnend Xen. Apol 16: ἐξ ὅτουπερ ξυνιέναι τὰ λεγόμενα ἠρξάμην οὐπώποτε διέλιπον καὶ ζητῶν καὶ μανθάνων ὅτι ἐδυνάμην ἀγαθόν. Das gesprochene und zugleich gehörte Wort gerät in eine Bewegung, die merkwürdigerweise gerade durch diese Bewegung auf ein Ruhendes führt, etwas, das im Hören und Sprechen zwei verschiedene Seelen zusammenbindet. Wenn man dem andern seinen ,Logos gibt‘, ihm Rede steht und seiner Rede steht, da wächst und mehrt sich durch diesen Austausch von irgendwelchem Inneren, dem λόγον δοῦναι καὶ δέξασθαι, jene eigentümliche ,Feststellung‘, Setzung, Bindung, ὑπόθεσις; und im wiederholten Gespräch meint man dann immer dasselbe – was der Sophist dem S. vorwirft, Xen. mem. IV 4, 6 = Gorgias 491 B. Dieser einfachste, ursprünglichste Sinn sokratischer Dialektik findet sich bei Xenophon deutlich ausgesprochen (z. B. mem. IV 6, 1); die Frage, ob S. seine Jünger ,beredter‘ oder ,dialektischer‘, d. h. sachlich erfahrener gemacht hat, ist demnach nicht ganz richtig gestellt; es ist jedenfalls für S. ein viel engerer Zusammenhang mit dem lebendigen Sprachgeiste anzunehmen als bereits für [822] die nächste Generation der Sokratiker; das rem tene, verba sequentur kehrt sich für diese Phase der Philosophie gelegentlich um: halte die Worte, die wirklichen λόγοι, fest und du wirst zur Sache geführt! So gelangt S. von selbst zu den ,Dingen selbst‘, zu ihrer Bestimmung und Abgrenzung. Es liegt bei ihm die ursprüngliche und letzten Endes einzig sinnvolle Form der ,Definition‘ durch einfache Rede vor; man sieht, S. durfte keine festen, ein für allemal gültigen Definitionen geben – ursprünglich mußte er sie überhaupt zerstören, wo er sie vorfand. S. mußte und wollte wissen, ob der Gefragte mit dem Logos arbeiten könnte, ob er wirklich etwas meinte; und das konnte nur das Gespräch mit seiner unwillkürlichen Umschreibung des einen Wortes durch andere ihm zeigen, grade unter Vermeidung stereotyper lernbarer ,Definitionen‘; das Gemeinte bekam so eine eigentümliche Transscendenz dem einzelnen ὄνομα gegenüber, so eng es mit dem Sprechen als Zusammenhang, dem Logos, verbunden blieb. Bei Antisthenes kehrt in veränderter Form dieser Ausgangspunkt des sokratischen Denkens wieder als die Lehre; ἀρχὴ παιδεύσεως ἡ τῶν ὀνομάτων ἐπίσκεψις, Epikt. diatr. 117, 12. Bei Platon schlägt die Ideenlehre häufig zurück in diese einfache Form, z. B. Phaid. 75 c: οὐ περὶ τοῦ ἴσου νῦν ὁ λόγος ἡμῖν μᾶλλόν τι ἢ καὶ περὶ αὐτοῦ τοῦ καλοῦ καὶ αὐτοῦ τοῦ ἀγαθοῦ καὶ δικαίου καὶ ὁσίου καὶ, ὅπερ λέγω, περὶ ἁπάντων οἷς ἐπισφραγιόμεθα τὸ ,ὃ ἔστι‘ καὶ ἐν ταῖς ἐρωτήσεσιν ἐρωτῶντες καὶ ἐν ταῖς ἀποκρίσεσιν ἀποκρινόμενοι. Hier ist die Transzendenz der Bedeutung zwar schon weit vorgeschritten, aber als der Mutterboden der Ideenlehre zeigt sich hier ganz deutlich der Logos des S., wie ihn S. etwa bei Xen. mem. III 3, 11 ausspricht: . . . πάντα διὰ λόγου ἐμάθομεν, καὶ εἴ τι ἄλλο καλὸν μανθάνει τις μάθημα, διὰ λόγου μανθάνει, καὶ οἱ ἄριστα διδάσκοντες μάλιστα λόγῳ χρῶνται καὶ οἱ τὰ σπουδαιότατα μάλιστα ἐπιστάμενοι κάλλιστα διαλέγονται. Diesem Verhältnis von ὄνομα und ,Bedeutung an sich‘ ist der Kratylos gewidmet; zuerst das Wort zum Herrn über die Bedeutung erhoben, dies ad absurdum geführt; der Schluß erinnert kurz an die ,Bedeutung selbst‘.

Der Ausgangspunkt der Lehre des S. ist demnach die Sprache – und die Lehre des S. teilt mit der Sprache das Schicksal, in größter Trivialität oder ,in Zusammenhang mit den letzten Fragen alles Wissens‘ aufgefaßt werden zu können. Aber eines ist aus dieser vorläufigen Betrachtung klar geworden: S.s Denken muß in einem ganz besonders engen Verhältnis zur griechischen Sprache stehen, noch enger als das platonische, weil dieses bereits den Urgrund immer wieder erneuter sprachlicher Erfahrung zu verlassen lernt, zu dem S. durch das ,Gespräch‘ immer wieder zurückgeführt wird. Hierin liegt die ,Primitivität‘ der sokratischen Lehre und zugleich ihre unbeschränkte Ausdeutbarkeit, die Möglichkeit jeder philosophischen und im besonderen metaphysischen Vertiefung; äußerlich erklärt sich aus dem Zusammenhang der sokratischen Lehre mit der Sprache auch die Unmöglichkeit, den Interessenkreis der sokratischen Dialektik genau abzugrenzen. Mögen die ethischpolitischen Themen den ursprünglichen Bereich bezeichnen – woran kaum zu zweifeln ist – so [823] mußte er immer alles sprachlich Ausdrückbare in Betracht ziehen, mindestens zur Verdeutlichung seiner Sinnforschung. Die Entwicklungslinie, die von dem einfachsten sprachlichen Grundproblem, der Verständigung im ,dialektischen‘ Gespräche auf Grund des mit sich identisch festgehaltenen Sinnes, bereits bis zur allmählichen Absolutierung dieses Sinnes in der platonischen Wesenslehre verfolgt wurde, muß noch genauer an ihrem sokratischen Anfangspunkte untersucht werden.

Um die entscheidende Note der sokratischen Logoslehre zu finden, sei von einem sehr naheliegenden Einwand gegen die eben angedeutete Herleitung der platonischen Wesenslehre und damit gegen den Richtungssinn der sokratischen Dialektik ausgegangen. Man könnte fragen: was hat das natürliche, einfache Sprechen, das Sichverstehen in der Unterhaltung, auch die Einigung über gewisse ,wissenschaftliche‘ Sachverhalte denn mit der Wahrheit, der Existenz des behandelten Gegenstandes zu tun? Können nicht zwei übereinstimmende δόξαι – subjektive Überzeugungen – falsch sein? Gelten nicht dem einen Kreise von Menschen Worte, auf die man sich leicht einigt, als selbstverständlich, als wahr, die einem anderen Kreise als ,gegenstandslose‘ Phrasen, Schlagworte erscheinen?

Hier liegen entscheidende Unterschiede sokratischen und modernen Denkens vor. Zunächst wird die in dem Einwand postulierte Möglichkeit gemeinsamen Irrtums, einer kollektiven noch zu keiner Objektivität hinreichenden Subjektivität von S. dauernd anerkannt in seinem ,Nicht-wissen‘; denn gleichviel ob erst Platon diese Haltung des S. zur bewußten Theorie erhoben hat – was mir wahrscheinlich ist – oder ob hierin S. selbst bereits zur vollen Bewußtheit über sich gelangt ist, oder schließlich drittens, ob S. in gewissen theoretischen Dingen seine Schüler und Freunde verschieden behandelt und z. B. Platon gewisse theoretische Konsequenzen der eignen Haltung zugestanden hat, die er anderwärts vorenthielt und zu besprechen keine Veranlassung hatte (Xenophon!) – gleichviel wie man sich hierzu stellt: die Unrast seiner Dialektik, das stete Weitergehen von einem zum andern, es bedeutet nichts anderes als eine Sicherung gegen scheinbare Ergebnisse, das Streben nach steter Schärfung und Verbesserung des Erreichten, der stufenweisen Annäherung über die eine ὑπόθεσις zur ,kräftigeren‘, schließlich an das ,Zulängliche‘, ἱκανόν (Plat. Phaid. 100 a. 101 d).

Man könnte nun an dieser Stelle der Erörterung einen neuen Einwand erheben, und der ,apriorisch‘ gestimmte Philosoph könnte zunächst auf ihn verfallen, nämlich den, daß diese ,empirische‘ Feststellung der ὁμόνοια doch niemals eine Sicherheit ergeben könnte, daß man über Wahrheit nicht abstimmen könnte usw. S. wäre zunächst zufrieden gewesen, wenn er die Bürger seiner Stadt, der πόλις Athen, zur Übereinstimmung über diejenigen Begriffe gebracht hätte, die mit den ὀνόματα ἀγαθόν, δίκαιον, ὅσιον, καλόν bezeichnet werden, und Xenophon hat mem. IV 4. 7ff. diesen Gedanken sehr gut in den echt griechischen Zusammenhang der ὁμόνοια gestellt (Antiphon! s. o. Suppl.-Bd. IV S. 40). Durch die Auswahl der Beispiele, die eben angeführt wurden [824] und den nächsten Umkreis sokratischer Dialektik bezeichnen, ist zugleich der für S. charakteristische Zusammenfall von Methode und Ziel der Dialektik angedeutet. S. stellte durch die Übereinstimmung seiner Mitbürger diejenigen Begriffe fest, auf denen jede tätige, tatsächliche Übereinstimmung, die wirkliche, konkrete Gemeinschaft ihrem Wesen nach beruht. Der Logos der Sprache, der gemeinsame Besitz sinnvoller Vorstellungen einer Sprachgemeinschaft tritt nun mit dem philosophischen Bemühen des S. in eine zweite innere sachliche Beziehung. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß das unmittelbare Befragen der Sprache, etwa das von allen Philosophen aller Zeiten – offenbar aus einem sachlichen Grunde – geübte Etymologisieren und die Vergewisserung über den ,eigentlichen‘ Sinn der Worte, bei S. selbst keine wesentliche Rolle gespielt hat und auch nicht zu spielen brauchte, weil er nach dem eben Gesagten in einem viel innerlicheren Verhältnis zur Sprachgemeinschaft stand. Die Betätigung des Meinens durch den Logos der Sprache, die stete Energeia der Sprache in der Auseinandersetzung und Verständigung über Gegenstände, ließ die Sprache selbst als Ergon, als unmittelbares Objekt einer ihr ausdrücklich zugewandten Aufmerksamkeit zurücktreten; S.s Stellung zur Sprache als einem besonderen wissenschaftlichen Problem kann nur die des S. im platonischen Kratylos gewesen sein. Freilich hat Platon ein langes Leben für die theoretische Klärung des Verhältnisses von ὄνομα und λόγος gebraucht; die praktische Dialektik des S. stellte gewisse Momente an dem so ungemein komplizierten Wechselverhältnis von Denken und Sprechen allmählich in helle Beleuchtung; auf der nächsten Stufe der Entwicklung bildete sich hieraus so etwas wie eine Sprachphilosophie, bei Antisthenes und Platon; von einer solchen bei S. zu reden, wäre meines Erachtens verkehrt und würde grade einen wesentlichen Formunterschied möglicher philosophischer Haltungen verkennen, den es nun noch klarer herauszustellen gilt.

Von jenem Einwand aus, der das Suchen und ,Hinführen‘ (ἐπαγωγή) des S. zu einer Reihe von psychologisch-empirischen Experimenten herabdrücken möchte, soll nun das Kriterium der Wahrheit, das S. in jenem Verfahren postulierte, in seiner historischen Konkretheit begriffen werden. Es läge grade im Hinblick auf die Fortführung sokratischer Gedanken durch Platon nahe, sich die dialektische Tätigkeit des S. stets von einer Schau nach innen, nach einer Selbstvergewisserung der Vernunft, also von einer Art ,Wesensschau‘ begleitet zu denken. Der einsame Denker, der wie Heraklit den tiefen unerschöpflichen Grund der Seele, ihren sich selbst mehrenden Logos (frg. 45. 115), d. h. sich selbst sucht (frg. 101), ist ja der griechischen Philosophie nicht fremd, und man hat auf entsprechende Züge des stunden- und tagelang in sich blickenden S. (Symp. 220c; Protag. 175a) neuerdings mit übertriebener Wichtigkeit hingewiesen (Gomperz Psycholog. Betrachtungen an griech. Philosophen; Internationaler psychoanalytischer Verlag 1924, 38). Das Motiv der Selbsterkenntnis wirkt in einer eigentümlichen Form in die Sokratik hinein; vgl. Platons Charmides, Xen. mem. III 9, 6, besonders [825] IV 2, 25, wo der weitere Zusammenhang zu derselben Objektivierung des in der Selbsterkenntnis erkannten ,Selbst‘ hindeutet wie der Schluß des Charmides (p. 174 b. c). Nimmt man zu dem allen noch den umfassenden Hintergrund einer Entwicklung zu ,autonomem Menschentum‘, anders gewendet, einer ,zersetzenden‘ individualistischen Aufklärung hinzu, ein Wort, mit dem man die Epoche des ausgehenden Peloponnesischen Krieges zu bezeichnen pflegt, so sind diejenigen Elemente vereinigt, die zwar ohne Zweifel in dem komplizierten Gebilde des somatischen Denkens berücksichtigt werden müssen, die aber isoliert, zur Hauptsache gemacht und modern gedeutet die grenzenlose Verwirrung in die Forschung gebracht haben.

Zunächst muß unbedingt zugegeben werden, daß die Tendenz auf die selbstbewußte Individualität, wie sie etwa aus den angezogenen Heraklit-Fragmenten spricht, zwar als Aufklärung im weitesten Sinn anzusehen ist, und daß der ionische Einschlag im allgemein griechischen Geistesleben sich durchaus in dieser Richtung verstehen läßt, und daß das Erwachen der ,Wissenschaft‘ natürlich auch hier mit einer Verstärkung des individuellen Selbstgefühls, mit einer Emanzipation des seiner selbst gewissen Geistes in dauernder Wechselwirkung verbunden ist. Aufs energischste aber muß betont werden, daß das Gebilde ,Wissenschaft‘ in äußerst vielen Abschattierungen gefaßt werden muß, und daß die Wissenschaft der alten Ionier mit einer Naturgesetzlichkeit moderner Observanz recht wenig zu tun hat, jedenfalls aufs stärkste von Motiven durchwaltet wird, wie sie etwa im πάντα πλήρη θεῶν sich aussprechen und, richtiggefaßt, blitzartig die gesamte geistige Lage beleuchten. Wenn schon in der Sphäre der ionischen Naturphilosophie religiöse Motive aufs engste mit den sogenannten wissenschaftlichen verbunden sind, wie viel mehr müssen diese dort berücksichtigt werden, wo der ionische Geist auf Stämme einwirkt, die noch nicht dieselbe Entwicklungsstufe wie die Ionier erreicht haben, und bei denen, wie in Attika, eine echte Bauernreligiosität mit der gesamten politischen Tradition der πόλις aufs engste verknüpft ist. Der Geist ionischer Aufklärung trat dem S. in der sog. Sophistik nicht gerade in reinster Form entgegen; wer den großen Stil der griechischen Aufklärung begreifen will, muß Thukydides und Demokritos interpretieren. Man darf sich nicht vorstellen, daß dieser Geist der Aufklärung in einem Manne wie S. nun einfach gehemmt wird und an der Kraft altattischer Religiosität einen unüberwindbaren Widerstand findet; sondern die eigentliche Aufgabe und Schwierigkeit der Deutung liegt darin, die wirkliche Synthesis beider Gewalten, der Aufklärung und der Religiosität, in S. begreiflich zu machen; man darf nicht von einem Kompromiß reden, auch nicht von einem ,Menschen mit seinem Widerspruch‘. Wer wie S. sein ganzes Leben lang behauptet hat, daß die wichtigste und höchste ἁρμονία der Einklang mit sich selbst, die ὁμόνοια in dem das ganze Leben begleitenden Gespräch der Seele mit sich selbst ist, darf beanspruchen, daß man die Einheit in ihm wenigstens sucht, wenn auch die vollständige Erkenntnis dieser Einheit eine uns vielleicht nie erreichbare Gräzisierung [826] unseres Denkens, unserer philosophischen Begriffe, jenes Rankesche ,Sich-Selbst-Auslöschen‘ zur Voraussetzung hätte.

Wir meinen es heute ganz genau zu wissen, daß dasjenige Selbst des Menschen, zu dem ihn die allmähliche Durchdringung der Welt, die Einsicht in die in ihm selbst liegenden Kräfte des Wissens und der letzten Gewißheit führt, ein ganz anderes sei, als derjenige Kern seines Wesens, zu dem ihn die Gewißheit seiner wollenden und handelnden Seele, das Sich-geborgenfühlen in einer die Richtigkeit seines Lebensablaufes garantierenden Macht, kurz religiöse Einsicht je führen könne. Wir geben es vielleicht gern zu, daß sowohl die ekstatisch erreichbare Überhöhung der einzelnen Seele im sog. Unsterblichkeitsglauben – griechisch gedacht: die Verknüpfung der Seele mit einem überindividuellen ewigen Sein – ein erhöhtes Selbstgefühl des sich gottverwandt fühlenden Individuums erzeugen kann, wie das scheinbar entgegengesetzte ,Wissen um die Fähigkeit zur Wissenschaft‘ das Selbstgefühl des freien Geistes. Wir müssen aber für S. den vollständigen Zusammenfall, die völlige Identität beider Motive annehmen. Um dies zu verstehen, müssen wir noch einmal alles Gesagte unter dem Gesichtspunkte der antiken πόλις zusammenfassen.

Wir machten uns selbst oben den Einwand, daß zwar S. in der empirisch feststellbaren ὁμόνοια aller Athener über das Wesen des Guten usw. einen großen Erfolg seines Tuns gesehen hätte, daß aber dieses empirische Ergebnis seiner Dialektik noch keine Gewißheit über die Wahrheit der ὁμολογούμενα bedeute. Dieser Einwand zieht nicht in Betracht, daß für S. alles, was in irgendeiner Beziehung zur staatlichen Gemeinschaft steht, unmittelbar mit dem Göttlichen verknüpft ist. v. Wilamowitz (Aus Kydathen 112) erläutert den sakral-rechtlichen Begriff der πόλις dadurch, daß sie als ein θίασος von Ἀθηνισταί angesehen werden muß. Es ist für die πόλις-Auffassung, die wir demnach dem S. zusprechen müssen, ebenso bezeichnend, wie für die Akademie Platons, daß sie beide aus dem sakral-rechtlichen Begriff der Kultgemeinschaft verstanden werden müssen. Dort, wo v. Wilamowitz diesen Nachweis für die Akademie führt (Antigonos von Karystos 263ff.), entwickelt er 276, wie das πάντα πλήρη θεῶν für das gesamte griechische Leben gilt, wie keine Gemeinschaft zu irgendwelchem Zwecke für Griechen ohne die religiös-kultische Grundlage denkbar ist, und zwar gilt dies für jede Periode griechischer Geschichte. Diese Zusammenhänge sind für die Beurteilung des S. in jedem Sinne wichtig. Daß die Klage und die Verurteilung wegen Asebie erfolgte, ist wohl heute allgemeine Ansicht (v. Wilamowitz Platon I 155). Es ist klar, daß diejenigen tieferen politischen Motive, mit denen man die Anklage in Beziehung setzen wollte, für griechisches Empfinden durchaus unter den weiteren Begriff der Asebie fallen mußten, da eine grobe Verletzung der Gesetze – grade der äußeren kultischen εὐσέβεια – S. nicht nachzuweisen war und die S.-Darstellung aller Sokratiker keinen Verdacht so sorgfältig zerstreut wie den der religiösen Asebie im engeren Sinne bezw. der Gesetzesverletzung (vgl. v. Wilamowitz’ wichtige [827] Richtigstellung billigen ungriechischen Tiefsinns [Asklepiosopfer] I 176).

Die allgemeinen Beziehungen zwischen allen diesen Faktoren liegen auf der Hand und sind oft genug erkannt worden. Worauf es nun aber ankommt, ist die innere Verknüpfung dieser πόλις–Auffassung mit der somatischen Lehre, ihrer Fragestellung und vor allem ihrer wuchtigen Wirkung, die die mimetische und philosophische Fassungskraft der Schüler nach so verschiedenen Richtungen, zum Teil zu ganz entgegengesetzten Formen auseinandersprengte.

Folgende Dinge gingen für S. in einen umfassenden Sachverhalt ein, die er sicher niemals als getrennt aufgefaßt hat, auch dort, wo er von einem allein zu sprechen scheint:

1. die ὁμόνοια der Bürger der πόλις ist die σωτηρία des Staates und als solche eine göttliche Angelegenheit, Wirkung derselben Macht, die, wie alles Leben, so auch das Gemeinschaftsleben der Stadt trägt.

2. Deshalb kann die Existenz einer solchen πόλις nicht auf einer Scheinübereinkunft beruhen, auf bloßer θέσις, auf Verabredung, sondern die Wirklichkeit der πόλις, ihr Bestand, garantiert zugleich auch die Wahrheit alles dessen, was von den Bürgern im Sinne dieser Gemeinschaft gedacht und gesagt werden könnte; oder wie Xenophon es ebenso naiv wie schlagend ausdrückt: die Städte und Völker sind die weisesten, dauerndsten und frömmsten menschlichen Dinge: οὐχ ὁρᾷς, ὅτι τὰ πολυχρονιώτατα καὶ σοφώτατα τῶν ἀνθρωπίνων, πόλεις καὶ ἔθνη, θεοσεβέστατά ἐστιν, καὶ αἱ φρονιμώταται ἡλικίαι θεῶν ἐπιμελέσταται (mem. I 4, 16).

3. Jeder einzelne kann sich durch σοφία, φρόνησις, γνώμη mit den Dingen, auf denen die πόλις beruht, in unmittelbare Beziehung setzen. Er findet in sich die πόλις wieder; deshalb findet er sich, sein eigentliches Selbst grade dadurch, 41 daß er mit und für die πόλις lebt, denkt, spricht. Wer sich selbst erkennt, findet als Ergebnis grade das, was ihn an die anderen knüpft, was Gemeinschaft stiftet.

4. Wodurch kann ich also richtig, d. h. so denken wie die anderen denken und zugleich am meisten wie ich selbst denke, oder – was genau dasselbe ist – wie kann ich die Dinge selbst denken, nicht Scheindinge (δόξαι!)? Durch Sprechen mit andern, durch Unterredung, durch ein tätigleidendes Erfahren jenes über uns allen stehenden λόγος, der uns alle unter sein Gesetz zwingt. Also ist dieser Logos so göttlich wie der Staat, und etwas in meiner Seele so göttlich wie dieser λόγος. Die Vorstufe solchen Denkens bei Herakl. frg. 114: ξὺν νόωι λέγοντας ἰσχυρίζεσυαι χρὴ τῳι ξυνῶι πάντων, ὅκωσπερ ωομωι πόλις, καὶ πολὺ ἰσχυροτέρως. τρέφονται γὰρ πάντες οἱ ἀνθρώπειοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ θείου. Nimmt man dies alles zusammen, so ergibt sich zunächst eines mit zwingender Deutlichkeit: nichts liegt der Dialektik des S. ferner als theoretisches Gerede über Begriffe, ,Definieren‘ im Sinne der Schullogik. Das Reden des S. ist Tätigkeit, denn das Leben der Gemeinschaft vollzieht sich in der Auseinandersetzung über die Grundbegriffe des Gemeinschaftslebens – in der Wirkung und Gegenwirkung der in Worten und Taten zum Ausdruck gelangenden Differenzen. [828] Die ganze Öffentlichkeit und Mündlichkeit des antiken Lebens ist zunächst zu berücksichtigen – nicht einmal private Verträge wurden schriftlich abgemacht, sondern dem Wort überlassen, der Zeugenschaft (vgl. Hasebroek Herm. LVIII (1924) 393; das Recht war die lebendige, auf dem unmittelbaren λόγον δοῦναι καὶ δέξασθαι im einfachsten allgemeinen Sinne beruhende, tatbestimmende γωώμη. Um diese Atmosphäre einer von jedem Zeugen mitgetragenen und gehüteten Rechtsgemeinschaft der πόλις, diese ,gesunde Luft des Rechtes‘, um ein platonisches Bild zu gebrauchen, als etwas Göttliches aufzufassen, dazu bedarf es keiner Staatsmystik, wie es uns zunächst scheint, keiner besonderen metaphysischen Kraftleistung, keiner ,Hypostasierung geistiger Mächte‘; diese ist die unglücklichste von allen Vorstellungen, mit denen man in der griechischen Philosophie arbeiten kann, weil sie den Richtungssinn jener geistigen Haltung ins Gegenteil verkehrt. Sondern durch die unendlich wichtige Bedeutung des Eides in einer solchen Gemeinschaft traten die Götter, das Göttliche schlechthin, sinnfällig allenthalben als Träger des δίκαιον auf. Denn der Grieche hat νόμος und δίκη nicht personifiziert‘, sondern nur noch nicht abstrahiert und zu Prinzipien verblassen lassen; und genau so steht es mit allen philosophischen ,Hypostasen‘. Mag diese Haltung der εὐσέβεια und ὁσιότηςdurch allerhand Einflüsse allmählich ihre Spannung, Kraft und Sicherheit verloren haben, so sind Naturen wie S. gerade hierin Erneuerer und Bewahrer alter Traditionen.

Eine andere Seite dieser griechischen Form des Gemeinschaftsbewußtseins kristallisiert sich in dem die Macht des Logos, des lebendigen sinnerfüllten Gespräches bezeichnenden echt griechischen Begriffe der σχολή. Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse der antiken πόλις ermöglichten eine weitgehende äußere Beschränkung der eigentlichen, für Erwerb des Lebensunterhaltes oder für Verwaltung des Vermögens bestimmten Arbeitszeit. Ein sehr großer Teil des Tages war dem ,Zusammensein‘ der Bürger gewidmet, das natürlich bei der Lebhaftigkeit des griechischen Geistes von regem Gedankenaustausch über alle wissenswerten Dinge ausgefüllt wurde. Vor allem natürlich mußten diejenigen Themen behandelt werden, die in der Volksversammlung und im Rate, sowie bei Gericht vorkamen, das ja mit Volksversammlung und Rat eine sehr große Ähnlichkeit hatte. Τὰ πολιτικά, τὰ τῆς πόλεως πράττειν bestand also nicht in vereinzelten Wahlakten oder in vorübergehenden Ämtern, sondern in der Mitwirkung an der öffentlichen Meinung, die damals ein akustisches und kein papiernes Phänomen war. Die πόλις war ein übersehbares (Arist. Pol. H 4, 1326 b 24; 5. 1327 a 2), unmittelbar und lebendig erlebtes Ganzes, das der einzelne dauernd mit bestimmen half, wenn er seinen Mitbürger von seiner Auffassung zu überzeugen vermochte. So konnte S. in der Tat schon durch seine sog. ,theoretischen‘ Unterhaltungen sich berechtigt halten, das zu sagen, was sogar der S. des Gorgias zum Ausdruck bringen darf: ich allein bin der richtige Politiker, 521 d οἴμαι μετ’ ὀλίγων Ἀθηναίων, ἵνα μὴ εἴπω μόνος, ἐπιχειρεῖν τῇ ὡς ἀληθῶς πολιτικῇ τέχνῃ καὶ πράττειν [829] τὰ πολιτικὰ μόνος τῶν νῦν. Alle Sokratiker stimmen darin überein, daß S. auf den, nach dem obigen selbstverständlichen Zusammenfall von Theorie und Praxis in seinem politisch-ethischen Verhalten den größten Nachdruck legte, im Gegensatz zu den theoretisierenden Sophisten; deshalb ist die Frage, wann S. angefangen hätte zu philosophieren, falsch gestellt. Für das lose Verhältnis der Sophisten zur praktischen Politik die kurzen treffenden Bemerkungen von Ed. Schwartz Gnomon II (1926) 75ff. Ich wähle zur Verdeutlichung des sokratischen Standpunktes wieder die einfachere xenophontische Darstellung. Mem. IV 4, 9 will der Sophist – Hippias in diesem Falle – mit seiner theoretischen Definition der δικαιοσύνη erst herausrücken, wenn S. seine Definition gesagt hat. Wir kennen den darin liegenden Vorwurf auch sonst aus den Memorabilien und den platonischen Dialogen, z. B. Menon p. 80 a, dem ersten Buch des Staates 336 b; immer sind sophistische Doktrinen das Gegenbild des sokratischen λόγος. S. erwidert: (§ 10) εἰ δὲ μὴ λόγῳ … ἀλλ· ἔργῳ ἀποδείκνυμαι· ἢ οὐ δοκεῖ σοι ἀξιοτεκμαρτότερον τοῦ λόγου τὸ ἔργον εἶναι; – Πολύ γε νὴ Δί’, ἔφη· δίκαια μὲν γὰρ λέγοντες πολλοὶ ἄδικα ποιοῦσι, δίκαια δὲ πράττων οὐδ’ ἂν εἷς ἄδικος εἴη. Ἤιστησαι οὖν πώποτέ μου ἢ ψεθδομαρτυροῦντος ἢ συκοφαντοῦντος ἢ φίλους ἢ πόλιν εἰς στάσιν ἐμβάλλοντος ἢ ἄλλο τι ἄδικον πράττοντος. Tiefer und einfacher kann die Grundthese der sokratischen ‚γνώμη‘ nicht ausgesprochen sein; ὑπέχειν λόγον und γνώμην ἀποφαίνεσθαι verlangt (§ 9) der Sophist von S.; die γνώμη überbrückt den hier zur Verdeutlichung von Xenophon aufgegriffenen trivialen Gegensatz von ἔργον und λόγος. γνώμη] bedeutet ‚nicht nur die Erkenntnis, sondern ebensogut die Folge der Erkenntnis, nämlich den überlegten, rationalen Willen‘ (Ed. Schwartz Gnomon II [1926] 68; dazu und zu dem folgenden über den ,Intellektualismus‘ des S., über χάρις u. ä. einige Bemerkungen bei Stenzel G. G. A. 1926, 199ff.). Man wird an v. Wila-mowitz’ oben zitiertes Wort über den Zusammenhang von Sokratik und griechischem Sprachgeist erinnert, wenn man an die crux interpretationis der sokratischen Theorie, an den in dem Satze οὐδὶς ἑκὼν ἁμαρτάνει sich ausdrückenden ‚Intellektualismus‘ denkt, und nun sieht, wie dieselbe Anschauung von der notwendigen Folge von Einsicht und Tun in der Bedeutung von gnvmh sich im griechischen Denken als selbstverständlich ausspricht (charakteristisch Soph. Antig. 875 αὐτόγνωτος ὀργά). Gerade dieser am meisten verkannte Zug der sokratischen Lehre ist aus dem bis jetzt entwickelten Hintergrunde der griechischen πρᾶξις nicht nur verständlich, sondern es ergibt sich leicht, daß er in vielen Gedankengängen der Sokratiker einfach als selbstverständlich vorausgesetzt wird.

Für die Dialektik des S., für seine in der Haltung des Nichtwissenden geführten Gespräche, die aus dem anderen die Kraft des λόγος herauslocken möchten, ist der gegenseitige Austausch des Wissens charakteristisch; niemand belehrt, niemand empfängt, sondern aus einer – wir würden so sagen, und auch Platon wendet den Gedanken nach dieser Richtung – rätselhaften Tiefe steigt der λόγος der Wahrheit auf. Für S. selbst [830] hingegen ist dieser λόγος gar nicht rätselhaft, sondern die zutage liegende Kraft der Gemeinschaft, durch die eben ὁμόνοια, Verständigung entsteht. Gemeinschaft, Staat, πόλις ist nie, sie entsteht dauernd und erzeugt sich aus einer Gesamt-γνώμη – in der vollen griechischen Bedeutung dieses Wortes – deren Gehalt, Sinn und Gegenstand durch die Wirklichkeit der πόλις garantiert ist, und deren Kraft den einzelnen ebenso bildet und formt, wie sie erst in Handlungen, in Akten der γνώμη des einzelnen sich verwirklicht. Für diesen unmittelbaren Ausgleich geistiger Gehalte, der durch die ‚Übersichtlichkeit‘ (s. O.) der antiken Gemeinschaft, der ,weisen πόλις‘ möglich war, haben die Griechen verschiedene spezifische Ausdrücke, je nachdem mehr die rationale oder die gefühlsmäßige Grundlage der Gemeinschaft betont wird. Ich greife folgende heraus:

1. παιδεία: sie erfordert gerade in ihrem höchsten Sinne keine besonderen Lehrer, sie muß ,Gemeingut‘ sein, mindestens einer größeren Klasse; σχολή in dem oben bezeichneten Sinne ist ihre Voraussetzung, nicht das, was aus diesem Worte schließlich werden sollte: absichtliche, veranstaltete ,Schule‘. Noch der platonische Staat rechnet durchaus mit dieser παιδεία.

2. χάρις; χαρίζεσθαι; Vergeltung genossener εὐεργεσία (Xen. mem. II 2, 14; bes. II 6, 21: συνεργοῦντες ὠφελοῦσι … καὶ χάριν ἔχουσιν ἀλλήλοις. II 7. 9. IV 4, 17. Demokritos Diels 55 B 255; auch hier ὁμόνοια und χάρις; vgl. B 92. 93. 94. 96. Antiphon der Sophist. Diels 80 B 54; vgl. auch den Epitaphios des Perikles, Thuk. II 40 und 41).

3. ἀρετή. Ed. Schwartz Geschichtswerk des Thukydides 351: ,Für das 5. Jhdt. ist ἀρετή das Verbalnomen zu ἀγαθὸν γενέσθαι und bedeutet ebenso wie dies nicht eine immanente Eigenschaft, sondern den ethisch-politischen Wert des Mannes, der nicht durch das noch nicht entwickelte individuelle Gewissen, sondern durch die Gemeinschaft bestimmmt wird, für die der Mann sich als wertvoll erwiesen hat. Es gehört zum Wesen der ἀρετή, daß sie nicht eine gleichbleibende, unter Umständen ruhende Qualität ist, sondern immer wieder ebenso durch Handlungen entstellt, wie der Mann nicht wertvoll (ἀγαθός) ist, sondern im einzelnen Falle wurde [ἐγένετο, immer im Aorist] … So lange das Individuum in seinem ethisch-politischen Wollen und Urteilen von der Gemeinschaft bestimmt wird und diese Gemeinschaft, mag sie ständisch oder staatlich sein, eine ungebrochene Einheit darstellt, ist auch die ἀρετή etwas Einheitliches …‘ Zur ἀρετή gehört eng der Begriff des ἀρέσκειν; bei Xenophon bezeichnet er sehr häufig das Sich-zum-Ganzen-fügen, das willige Sich-einander-zuordnen, und steht mit der ὁμόνοια und χάρις häufig zusammen. Beispiele mem. I 2, 39: gegenseitige παίδευσις nur unter ἀρέσκοντες (Platon spricht in ähnlichem Sinne von συγγένεια). mem. II 6, 29. III 5, 5. Etymologisch gehört ἀραρίσκω und ἀρετή zusammen ; also ist die Bedeutung ,Sich-zum-Ganzen-fügen‘ auch dadurch bestätigt.

Nach der gefühlsbetonten Seite erweitert sich diese Bedeutungsreihe durch χάρις. χάρις verhält sich zur ἀρετή wie καλός zu ἀγαθός. Dieser Zusammenhang wird ganz greifbar in dem sokratisch-platonischen Begriff des [831]

4. ἔρως; für den sokratischen Kreis ist ἔρως die Kraft, die die einzelnen aneinander und so zur Gemeinschaft bindet. Bei Platon bricht das bei S. deutlich angelegte Motiv, daß alle Gemeinschaft auf Verständigung beruht, alle Verständigung auf einer Sache, etwas Wahrem, über das man sich verständigt (Sinn der Sprache!), ganz stark durch: ἔρως wird φιλο–σοφία, Streben nach dem λόγος.

Die richtige Stellung zu dem sokratischen ‚Intellektualismus‘, gemäß dem jedes Wissen unwiderstehlich zur Verwirklichung treibt, niemand also wissend fehlt, ergibt sich bei einem zusammenfassenden Blick auf jene vier Mächte, genauer auf die durch jene vier Worte von verschiedenen Seiten zunächst umrissene Kraft der Gemeinschaft, in der des S.s λόγος wurzelt. Denken, Sprechen, Sich-verständigen heißt demnach sich unter das Gesetz einer umfassenden Sache und Sachlichkeit, in eine Gemeinschaft stellen, und deshalb muß dieses Denken notwendig den einzelnen in eine engere Beziehung zu der Tatgemeinschaft bringen, es muß also zur Tat führen. Auf jenen großen Zusammenhang dynamischer Wirklichkeit, auf der die immer sich neu gestaltende πόλις beruht, ist die viel beredete ‚Gegenständlichkeit‘ des griechischen Denkens auszudehnen, hier erst entfaltet es sich in seiner spezifisch griechischen Realität. Der Orientale gerät mit der ihn bestimmenden göttlichen Macht durch ein ‚Nichtwiderstreben‘ in einen ähnlichen Zusammenhang; er ‚will‘ unendlich mehr und Größeres, er ‚kann‘ in höherem Grade, er entbindet höhere Kräfte auf dem Grunde seiner Seele, wenn er den kleinen Willen des einzelnen Ich überwindet: ,Vor dem Willen schweigt die Willkür stille‘. Für den Griechen steht zwischen ihm selbst und Gott die göttlich begründete Gemeinschaft, in der das einzelne Ich nicht ausgelöscht zu werden braucht, nicht in mystischer Versenkung in irgendetwas Unfaßbares vernichtet wird, sondern im Gegenteil durch den λόγος der Verständigung über Wirkliches erst erzeugt wird und zu seinem eigenen Selbst gelangt, das zugleich das ,Selbst‘ der Gemeinschaft, ihre Norm und ihr παράδειγμα ist. Seele ist Staat, Staat ist Seele; hier liegt mehr als ein Bild, als große und kleine Schrift, wie es Platon im Staate nennt, hier liegt der letzte Grund griechischen Denkens, wie es von dieser Seite her W. Jaeger in seiner Rede zum 18. Januar 1924 als den Sinn der ‚griechischen Staatsethik‘ ausgesprochen hat. Wo Ich und Gott ohne dieses Medium des dialektischen Logos in Beziehung treten, verstummt das Ich; es braucht sich nicht verständlich zu machen. Hier aber ist es anders. ‚Lernen‘, Denken, Wissen heißt zweierlei zugleich: sich mit anderen auseinander- und daher in Beziehung setzen und um sein Selbst sich kümmern, in sich den Menschen ,selbst‘ entdecken, den S. an der klassischen Stelle der platonischen Apologie 36 e neben der πόλις αὐτή als das Ziel seiner Dialektik bezeichnet. Durch diese unlösliche Beziehung des Menschen ,selbst‘ und der Dinge ,selbst‘, d. h. der wahren, seienden Dinge wurden die Griechen die eigentlichen Entdecker der Wissenschaft, und stellten durch den Sinn dieser Wissenschaft für die Bildung der Gemeinschaft sofort ein nie zu überbietendes Ideal [832] der παιδεία auf. An dieser Bedeutung der πόλις als konkreter Gemeinschaft finden alle Versuche, dem S,-Problem durch vergleichende Religionspsychologie beizukommen, so stark natürlich die spezifisch griechische Staats- und Kultreligiosität den S. erfüllt und trägt, ihre Grenze; für die Aufdeckung entscheidender Unterschiede aber ist der Vergleich nützlich, wie sich gleich zeigen wird.

Denn nirgends wird der eigentümlich logische Charakter des gesamten Verfahrens des S. deutlicher, als wenn man sich die Frage vorlegt: welches ist die Entsprechung zu der anderwärts ,mystischen‘ Vernichtung des einzelnen Ich, jenes Negative, das für die Einwirkung eines höheren Geistes, im Falle des S. also für den Logos, der den Seelenkern aus der Kraft der Gemeinschaft bildet, Baum schafft? Das Negative ist die Elenktik des S. Man muß stets bedenken, daß S. die größte Zeit der antiken πόλις, ,des attischen Reiches Herrlichkeit‘ mit vollstem Bewußtsein erlebt hat, und daß er den Übergang aus dieser Zeit, für die durchaus noch Ed. Schwartz’ Analyse der ἀρετή gilt, zu einem individualistischen Zeitalter gesehen hat. Alles was lediglich dem ,Individuum‘, der einzelnen Seele entspringt, was den Zusammenhang mit dem κοινὸς λόγος der Gemeinschaft nicht finden kann, ist für ihn ,abstrakt‘, abgeleitet, schwach, kurz δόξα. An diesem Begriff, an dem vorsokratischen Gegensatz von ἀλήθεια und δόξα läßt sich die Wendung, die S. der Philosophie gegeben hat, gut ablesen. Zwar ist die Auffassung, daß er die Philosophie vom Himmel heruntergeholt, also die ,Natur‘philosophie durch eine ,Kultur‘philosophie, durch eine Ethik abgelöst hätte, schon aus dem Grunde nicht richtig, weil für griechisches Denken Natur und jenes andere, was wir als ,Kultur‘ bezeichnen, noch gar nicht getrennt war. Wie überall hat auch hier die ionische Aufklärung, besonders deren größte Auswirkungen in Demokritos und Thukydides ,moderne‘ Scheidungen vorbereitet. Aber S. und Platon versuchen immer wieder zu der früheren Einheit und Totalität zurückzugelangen, nicht durch einfache Reaktion, durch Negierung des Neuen, sondern durch konsequente Durchgestaltung der neuen Bewußtseinskräfte. Philosophie ist für sie daher immer Lehre von der φύσις, die alles ,Natürliche‘ umspannt, d. h. alles was frei, eignem Gesetze entsprechend gewachsen, in sich gegründet und daher verstehbar ist, also vor allem das richtige, sinnvolle Leben der Menschen. Deshalb hat freilich auch die eleatische δόξα schon durch den Gegensatz zum νοεῖν die volle, griechische Bedeutung der δόξα, die so schön Meinung und Schein zugleich bezeichnet. Aber mit der beginnenden Individualisierung wurde die subjektive Seite dieses Wortes viel wichtiger, und S. führt diese Entwicklung dadurch, daß er im Wissen und der Gewißheit auch die subjektive Gegenvorstellung klar erfaßt, auf ihren Gipfel und überwindet sie zugleich. Was die Naturphilosophie mehr als ,Schein‘ auffaßte, nahm S. als ewig vorläufiges Meinen, d. h. als der Verifizierung bedürftige, noch nicht durch den Filter dialektischer Verständigung getriebene Subjektivität. Dieses Hindurchtreiben durch eine Prüfung ist, wie gesagt, nun alles andere eher als Vernichtung des Individuums. ,Demütigung‘ gibt es im Bedeutungsbereich [833] griechischen Denkens der damaligen Zeit nicht, und zwar aus dem Grunde, den Ed. Schwartz so ausdrückt: ,weil das individuelle Gewissen noch gar nicht entwickelt war‘, und wie wir hinzufügen, auch S. sich nicht an das Gewissen, sondern an Vernunft und Verstand des Menschen wandte und φρόνησις durch παιδεία erzeugen wollte. S. wollte nur durch die sich selbst erkennende Vernunft des einzelnen zu jenem κοινὸς λόγος hindurchgehen; jeder mußte den Quell des λόγος in sich selbst erst finden. Das ist nach allem, was über die Wirkung des Gemeingeistes gesagt werden mußte, als die ebenso wesentliche andere Seite der sokratischen Dialektik immer wieder einzuschärfen: S. war kein ,Führer‘, der auf Grund irgendeines Charisma blinden Glauben, Unterwerfung, Dienst verlangte, kein Reaktionär, der nach der einfachen Wiederholung der πάτριος πολιτεία jammerte, kein Dogmatiker, der ,die Wahrheit‘ zu besitzen und weiterzugeben sich anmaßte, aber auch keine ,autarke Persönlichkeit‘, die zur Beschränkung des Ich auf seinen Bereich riet. Er wollte die πόλις, der er entstammte und die er kannte, aus dem Wissen des einzelnen um ihren ewig lebendigen Sinn aufbauen, weil er in dieser Aufgabe die letzte εὐδαιμονία des Menschen sah. Er wollte aus den geistigen Kräften seiner Gegenwart, die er besser erkannte und tiefer würdigte als alle seine Zeitgenossen, aus der φρόνησις und dem νοῦς des einzelnen die Gemeinschaft ,retten‘ – in dem vollen Sinne des Wortes σῴζειν bewahren, erhalten, im Logos begreiflich machen. Entbinden bei eigner Unfruchtbarkeit, nicht ,Erzeugen und Befruchten‘ sind ihm angemessene Bilder; Elenktik und eignes Nichtwissen, beides zusammen sind daher die immer wieder von S. angewandten Mittel der Vergewisserung, daß das Meinen des andern nicht fließende, ,fortlaufende‘ δόξα ist, sondern auch bei dem andern an dem Grunde des Selbst verwurzelt ist und so an dessen Seelenkern heranreicht, aus dem allein Tat und Gemeinschaft, Wirkung und Gegenwirkung entspringen kann.

Die Negativität des sokratischen Verhaltens beweist gerade nunmehr aufs stärkste dasjenige, was vorher über seinen Bezug zur Gemeinschaft gesagt wurde. Er konnte sich nur so hartnäckig im Negativen halten, weil der positive Gehalt des λόγος ihm das unmittelbar gegebene, wirklichste, und bei der richtigen Blickrichtung der Seele überhaupt nicht zu verfehlende war: ἔργῳ ἀποφήνασθαι τὴν γνώμην, zu handeln, wie die Väter für die πόλις gehandelt haben, ἄριστον γενέσθαι, in einfacher Erfüllung des νόμος. S. hatte immer die Meinung, daß seine Lehre eine ungeheure Selbstverständlichkeit wäre, deren Einsicht sich die Menschen nur durch ihre δόξαι verdeckten. Deshalb müssen diese im ἔλεγχος abgestoßen werden, wie verhärtete Schichten über einem edleren Kerne. Wir begegnen hier zum zweiten Male dem Zusammenstoß von höchster Schwierigkeit und eigentümlicher Trivialität. Zuerst erschien der sokratische λόγος als Sprache, als Dialektik im wörtlichen Verstande, mit jener Paradoxie aller Sprachbetrachtung aufs engste verknüpft: Sprache im einzelnen das alltäglichste, unproblematischste, als Ganzes genommen aber, begriffen aus einem obersten Sinnprinzip, aus dem [834] allein dem einzelnen Wort seine Worthaftigkeit, seine ,Bedeutung‘ zukommt, ein letztes und höchstes, der vollständigen Überschau letzlich entzogenes Problem. Wir haben λόγος mit ,Wort‘ übersetzt; wir sagen nicht mit Faust, daß wir das Wort so hoch unmöglich schätzen können, und es anders, mit Tat, übersetzen müssen, sondern wir sahen bereits, daß in dem sokratischen λόγος das Wort Tat wird, und alles sinnvoll geordnete, gemeinschaftsbildende Tun aus einem sachbezogenen, gegenständlichen, wahren (d. h. also in einer Wesenheit begründeten) Logos als γνώμη] und φρόνησις begriffen werden muß. Die sokratische Elenktik hebt den logischen Charakter jenes Wissens um das zu Tuende hervor, und deshalb zeigt sich nun die Paradoxie der Sprache in einem neuen Felde. Wieder ist das einzelne in dem logischen Gebahren des S. schief, ,nicht ernst‘, ,nur Prüfung‘, ,ironisch‘, oder wie alle die aus der wissenschaftlichen Diskussion der sokratischen Frage bekannten Werturteile lauten mögen. Durch bloße ,Logik‘ ist nichts zu erreichen, das ist die eine Seite der sokratischen Lehre, wir wissen alle nichts, wir glauben bloß zu wissen; und doch gelangen wir nur durch unsere Denkbetätigung zu dem Logos, in dem wir leben und Menschen, ζῷα πολιτικά, auf Verständigung angewiesene Lebewesen sind. Wie in der Sprache das einzelne Wort nichts ist, wenn es nicht aus dem Ganzen heraus Sinn erhält, aber ohne einzelne Worte es keine Sprache, wenigstens keine menschliche, gibt, so ist auch der Mensch zu dauernder Anspannung seines λόγος in jenem anderen Sinne angehalten, obwohl das einzelne, was er wissen und sagen kann, nur dann etwas ist, wenn jenes Ganze, die Ordnung, in der der einzelne steht, in ihm sich ausdrückt. Wenn wir an Ed. Schwartz’ Worte uns erinnern, so ist das Spiegelbild des Ganzen, der Gemeinschaft, das in dem einzelnen entsteht, aus dem der einzelne besteht, für den Griechen in der ἀρετή beschlossen, in der die Seele als einheitliche Ordnung im Hinblick auf den Staat gefaßt wird. Diese ἀρετή als die δύναμις, die den einzelnen zum Staatsbürger machte, war in der ursprünglichen Gemeinschaft natürlich unbedingt einheitlich; es gab keine ἀρεταί für diesen oder jenen Zweck, weil der Staat einer ist. S.s Kampf um die Einheit der Tugenden ist der Kampf um dieses alte Ideal der ἀρετή. An den logischen Kunstgriffen, mit denen er den ,Zusammenfall‘ der inzwischen von der fortschreitenden Differenzierung geschaffenen Einzeltugenden beweisen wollte, bestätigt sich das allgemeine, oben beschriebene Verhältnis von λόγος und δόξα, der Sinn der sokratischen Elenktik. Der ἀγαθός, der etwa bloß ἀνδρεῖος, nicht δίκαιος wäre, ist für ihn ein logisches Scheingebilde, eine zu zerstörende δόξα. Und da es ja nicht sein Ziel ist, eine Definition für Tapferkeit, Gerechtigkeit zu finden, so ist noch der platonische S. recht wahllos in den logischen Schlüssen, mit denen er diese Elenktik vornimmt (s. dazu den Abschnitt über S. in dem Art. Logik, auf den ich an dieser Stelle, um Wiederholungen möglichst zu vermeiden, verweisen muß). Formallogische Interessen lagen dem S. bei einer derartigen Frage, etwa ob das ὅσιον zugleich δίκαιον [835] wäre, so fern wie möglich; um den Träger dieses Tugendbegriffes, um dessen personale Einheit, um dessen einheitlichen Seelenkern, jenes Spiegelbild der gesamten πόλις, um die Berührung eines dynamischen Zentrums im Menschen war es ihm zu tun; Kräfte, Taten, Stellungnahmen einer um sich wissenden Person im vollen Sinne des Wortes wollte er aufregen, höchste Selbsttätigkeit ,entbinden‘ – ein Bild, das wohl schon er selbst für passend gehalten hat.

In S. waren die geschilderten Paradoxien aufgehoben und gebunden, weil er aus seiner φρόνησις, aus dem Leben gestaltenden Wissen seiner παιδεία, keine Lehre machen wollte; er beschränkte sich auf diejenige echte φρόνησις, die ihm aus der sich als Gemeinschaft wissenden πόλις unaufhörlich zuströmte – auch aus der vielleicht bereits entarteten πόλις seines Alters. Insofern war S. kein Reformator, als er immer das Bild der alten, im höchsten Maße praktischen φρονησις der πάτριος πολιτεία vor Augen hatte, und zwar durchaus keinen Fortschritt in der bewußteren Haltung seiner Zeit allen Fragen des Lebens gegenüber sah, aber ebensowenig das sentimentale Gefühl hatte, in einer verderbten, heillosen Zeit zu leben; jedes Pathos, auch das reformatorische, verfälscht das Bild des S. In seiner, übrigens tief mit spezifisch griechischen Anschauungen zusammenhängenden, genialen Nüchternheit war er überzeugt, daß der Mensch und der Staat im letzten Grunde immer derselbe, er selbst bleibt, daß es immer dieselben unveränderlichen Gesetze sind, die, aus wechselnden historischen und individuellen Situationen heraus, vielleicht auf verschiedene Weise, durch verschiedenen elenktischen Ansatz ans Licht gebracht werden müssen. Extremsten Ausdruck findet diese Haltung in der meines Erachtens sokratischsten platonischen Schrift, dem Kriton: auch der Staat, der S. zum Tode verurteilt, bleibt der Staat, der schlechthin Gehorsam fordern kann.

Eine solche Haltung läßt sich nur durch ein Leben darstellen, und die Sokratiker haben zunächst nichts anderes beabsichtigt, als den βίος Σωκρατικός darzustellen. Doch bereits bei der treuesten Beschränkung auf das, was als Lebensäußerung des S. bekannt war, mußte durch jede Art abbildender Darstellung die eigentümliche Form des Tatwissens sich auflösen; jeder beschriebene S. konnte bereits derjenige S. nicht mehr sein, dessen Bild ihnen als maieutisches Organon ihres eignen Wesens vorschwebte. S. wäre nicht er selbst gewesen, wenn er sich hätte darstellen lassen; denn es wiederholte sich ja bei der inneren Auseinandersetzung mit seinem Bilde jenes Grundfaktum seines ,Wissens‘: er entschwand im ,Nichtwissen‘, er überließ dem Mitunterredner, hier dem seinen Schatten beschwörenden Sokratiker, die Aufgabe, aus dem eignen Seelengrunde und seinem Logos sich das Bild des Menschen und des Staates zu bilden. Und man könnte das Paradoxon wagen: dadurch, daß ihn alle verschieden aufgefaßt haben, je nach der Stelle, auf die sie die φύσις gestellt hatte und von der aus sie notwendigerweise sich des immer gleichen Menschen und des Staates zu bemächtigen suchten, gerade darin drücken sie den sokratischsten Zug an S. aus.[836]

Man muß noch einen Schritt weiter gehen. Es ist undenkbar, daß S. nicht bereite in seinem eignen Leben immer wieder den Schritt zur Theorie, zum Wissen in einem Sinne getan hätte, der seiner eigentlichen Grundabsicht widersprach. Der Ansatz zu Definitionen, zur Theorie gehört nun einmal so eng zum Sprechen, zum Logos, und es ist schwer vorstellbar, daß nicht S. mindestens zu den theoretischen Ansätzen seiner sehr verschiedenen Anhänger in einer Weise Stellung nahm, die diese als Zustimmung, als theoretische Übereinstimmung auffassen durften; eine Andeutung nach dieser Richtung darf man in der Forderung des S. im Phaidros 277 b sehen, jede Seele nach ihrer φύσις zu behandeln (vgl. auch Bruns Lit. Portr. 377). Gerade wenn S. den sehr relativen Wert aller δόγματα und δόξαι klar erkannte, ist eine bedingte Zustimmung zu den Ansichten anderer wohl denkbar, sogar wenn diese Ansichten einander zu widersprechen scheinen; wer alle δόξαι an einem so umfassenden, tiefen Kriterium zu messen entschlossen ist wie S., dem wird es sehr gleichgültig gewesen sein, ob er zwei δόξαι als gleich falsch oder als gleich richtig bezeichnete. Das entspricht auch durchaus dem Bilde, das die Sokratiker uns geben, und hat mit wirklicher Skepsis nichts zu tun. Erst das ἔργον entscheidet über die Wichtigkeit der ἐπιστήμη, erst diese Leistung des ganzen Menschen gerät in die Sphäre des λόγος, in der von Wahrheit gesprochen werden kann.

War somit das Leben des S. eine Reihe von Metamorphosen eines identischen Kernes in verschiedenem Ausdruck und verschiedenen Auseinandersetzungen, so läuft dieser Prozeß nach seinem Tode in anderen Formen weiter. Um eine allgemeinste, vorläufige Formel für diesen Tatbestand zu geben: alle Deutungen verlängern gewisse Tendenzen, die in S. angelegt waren, über die Grenzen hinaus, innerhalb deren S. sie immer durch die Beschränkung auf sein Tatwissen halten konnte, oder hinter die er sie jederzeit durch seine Haltung des Nichtwissens zurückrufen konnte. Diese Verlängerung der von S. ausgehenden Strahlen, die theoretischen Konsequenzen aus seinem Verhalten bzw. die diesem Verhalten untergelegten Voraussetzungen bedeuten außer einer Vergrößerung des einzelnen Zuges fast immer die Verkümmerung eines anderen. Nur derjenige, der größer als S. war, hätte gleichmäßig nach allen Seiten die von S. ausstrahlende Kraft ohne jede Einseitigkeit nach außen treiben können; man darf zweifeln, ob dies selbst Platon ganz gelungen ist; aber im letzten Grunde entscheidet die stärkste geschichtliche Wirkung auch die Frage, wo das wirklichste Bild des S. anzutreffen ist; man tut gut, sich nie über die Weisheit der Geschichte zu erheben. Diese notwendige Umformung, Umdeutung, Übersetzung in andere Personen soll nun dargestellt und der identische Kern, die Gleichmäßigkeit dieses Formwandels zur urkundlichen Bestätigung des geschilderten S.-Bildes verwandt werden. Die Organe für diesen Formwandel sind erst durch Interpretation zu schaffen. Das unterscheidet grundsätzlich die hier versuchte Darstellung von einer im Stile Carl Siegels (Platon und Sokr., [837] Lpz. 1920), für den ,der platonisierte Sokrates sich als Verkörperung des auf metaphysischem Wege über sich selbst zum Bewußtsein gekommenen historischen Sokrates aufzeigen läßt‘, S. 16; wie die an sich kluge und lehrreiche Durchführung zeigt, ergibt diese Hegelisierung im konkreten Falle doch nicht viel Neues.

III. Die Quellen. Xenophon.

Die letzten Ausführungen des vorigen Abschnittes haben die Hauptschwierigkeiten der Quellenfrage bereits berührt, soweit sie in S. selbst begründet sind. Im letzten Grunde beruhen alle besonderen Unklarheiten, die in den Quellen selbst aufweisbar sind, auf der Problematik des dargestellten Gegenstandes. Immerhin lassen sich einige vorläufige Bemerkungen mit dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Stande der Quellenfrage begründen.

Zunächst scheinen die allgemeinen Werturteile über die Fähigkeit der verschiedenen Sokratiker zu einer richtigen Darstellung des S. doch ganz subjektiv zu sein. ,Der echte und der xenophontische Sokrates‘ wurden von Karl Joël, Berlin 1893 und 1901, einander entgegengesetzt. H. Maier sieht in Xenophon den Gegner des Antisthenes (S. 62), hält aber das Zeugnis des Xenophon in entscheidenden Punkten für wertlos, weil es auf Platon beruhe. Verhängnisvoll für die Autorität Xenophons wäre der zeitliche Ansatz seiner gesamten Schriftstellerei nach 370 durch Ed. Schwartz (Rh. Mus. XLIV [1889] 190ff, dagegen v. Arnim [s. u.] 177ff.) Neuerdings steigt der Quellenwert des Xenophon. H. v. Arnim Xenophons Memorabilien und Apologie des Sokrates (Historisk-filologiske Meddelelser udgivne af det Kgl. Danske Videnskabernes Selskab VIII [1923/1924] 1ff. [im folgenden ist mit ,v. Arnim‘ immer diese Abhandlung gemeint]) sieht in ihm die Hauptquelle. H. Gomperz (Hist. Ztschr. CXXIX 3. Folge 33. Bd. 1924 S. 377) kommt in einer Untersuchung über ,die sokratische Frage als geschichtliches Problem‘ – die am Anfang übrigens eine gute Doxographie der modernen Ansichten über dies Problem gibt – nach einer eingehenden Behandlung des Urteils der mit S. gleichzeitigen Komiker, für Gomperz der sichersten Zeugen, zu dem Schluß: ,der xenophontische Sokrates ist der antisthenische und daher der echte‘ (S. 423). Doch auch v. Arnim schätzt die Fähigkeit Xenophons zur Erfassung des S. sehr gering ein, läßt ihn nur gutes Material, ὑπομνήματα der Gesprächsführer, z. B. des Euthydemos, zum Teil ungeschickt aber ehrlich verarbeiten. Er steht also auch zum Teil unter dem Einfluß des allgemeinen Werturteils: Xenophon selbst bedeutet als Sokratiker nichts. Nun ist es immer möglich, Zeugnisse herunter zu setzen; war es doch möglich – und durchaus urteilsfähige Leute haben es getan – ein Denkmal wie den VII. Brief Platons für ein schlecht kompiliertes Machwerk zu halten; man kann immer mit dem Quantum Sinn, das man in irgend einer geformten Lebensäußerung antreffen will, beliebig weit herabgehen. Die Argumentation, durch die man Xenophon herabsetzte, erinnert übrigens stark an die VII. Brief-Literatur. Stimmt Xenophon mit Platon überein, so hat er abgeschrieben; weicht er ab, so hat er von irgendeinem anderen abgeschrieben [838] oder er irrt eben aus seiner allgemeinen Unfähigkeit, Wesentliches bei S. richtig aufzufassen. Ich sehe zunächst keinen Grund dagegen, übereinstimmende Zeugnisse für eine Bestätigung ihres Gehaltes anzusehen. Das Prinzip, von vornherein bei jeder Übereinstimmung des Xenophon mit Aischines oder Antisthenes ihn nun weithin für abhängig anzusehen und aus den Flicken des zerfetzten Xenophon uns doch recht unbekannte Autoren zu rekonstruieren, ist verlockend, weil man verlorenes Gut wiedergewinnt und irgendeinen Schatten zu beleben hofft; man vergißt nur zu leicht den Zuschuß an εἰκὼς μῦθος, der in derartige Bilder eingeht, so wahrscheinlich sie dem Entdecker sind, überhaupt ist die Rückführung der Quellen aufeinander – die notwendig immer von Einzelheiten ausgehen muß – noch kein Grund, wenn wir von ganz Tatsächlichem absehen und an die Lehre des S. denken, die Ausschaltung einer Quelle zu rechtfertigen; selbst wenn es z. B. sicher wäre, daß Xenophon diese oder jene Schrift Platons ,benutzt‘ hat, so bleibt die Art und Weise, wie er einen Zug des platonischen S. seinem S.-Bilde assimiliert, wichtig genug. Wenn Xenophon schließlich auch nur ein Durchschnittsathener ist und wir ihm kritisch gegenüberstehen, so darf doch gerade für die so wichtige Aufgabe, die sokratische Lehre als griechisch zu verstehen, sein Zeugnis nicht unterschätzt werden, am allerwenigsten von modernen philosophischen Werturteilen aus.

Diese vorläufige Probe der Quellenproblematik dürfte es rechtfertigen, ein etwas verändertes methodisches Verfahren zu versuchen, das dem philosophischen Formproblem Rechnung trägt. Bei der Geduld, die alle Interpretation erfordert, bei dem Hereinragen aller der verwickelten Randprobleme – platonische Frage, Chronologie Xenophons usw. – kann hier nicht mehr als eine Probe des Verfahrens gegeben werden. Dieses Verfahren soll in folgendem bestehen. Es soll ein unzweifelhaft sokratisches Problem in seinen Umformungen bei Xenophon und Platon, und zwar dem jüngeren und dem älteren, verfolgt werden; und dabei sollen, dies ist die zweite methodische Absicht, nicht bloß Einzelheiten, Motive, ,Stellen‘, sondern größere Zusammenhänge, Abfolgen von Motiven miteinander verglichen werden; einzelne Sätze bleiben mehrdeutig oder leer. Es ist klar, daß wir hierbei uns der sokratischen Methode insofern nähern, als nur ein Ganzes, wenigstens ein größerer Ablauf von Vorstellungen eigentlich ,verstanden‘ werden kann, während alles einzelne mehrdeutige δόξα bleibt.

Als ein sokratisches Problem greifen wir eines heraus, das zwar in vielen S.-Darstellungen kaum berücksichtigt oder zugunsten eines ,Individualismus‘ herausinterpretiert wird, das wir aber glauben in den Mittelpunkt seines Denkens stellen zu dürfen, und das also gerade am meisten der interpretierenden Bestätigung und Klärung bedürftig ist. Es ist der so eng wie möglich zu denkende Zusammenhang folgender drei Dinge:

1. ,Nichtwissen‘ des S., d. h. keine Lehre, keine Theorie angeben, ,bloß verwirren‘, lähmen, prüfen‘ des Anderen, hinleiten zur ,Selbst‘erkenntnis.

2. Die positive, bei S. immer vorauszusetzende Ergänzung dieses scheinbar Negativen ist der Rekurs [839] auf die sich immer neu aus ihrer Idee erzeugende Tatgemeinschaft der wirklichen, wirkenden πόλις.

3. Die Idee der πόλις fällt zusammen mit dem inneren denkenden Selbst des Menschen und kann und muß infolgedessen aus der Vernunft heraus durch Erkenntnis und Wissen erzeugt werden.

Wie steht Xenophon zu diesem Fragenkomplex? Seine Hauptabsicht in der ganzen Darstellung der Memorabilien ist, S. gegen den Vorwurf zu verteidigen, den auch der (vielleicht platonische) Kleitophon gegen ihn erhebt: S. verstünde nur das προτρέπειν, aber die Tugend wirklich zu lehren, zu zeigen, worin sie besteht, das vermöchte er nicht; wer nicht selber die Tugend hätte, der würde durch S. nur verwirrt. Es ist nicht nötig, alle die Stellen, meist die Anfänge der Kapitel, zusammenzustellen, an denen das Wesentliche des nun zu Berichtenden so bezeichnet wird: Ὅτι ἁπλῶς τὴν ἑαυτοῦ γνώμην ἀπεφαίνετο Σ. (IV 7. 1). Ich greife diese Stelle zunächst heraus, weil ihr Fortgang so recht die naive Lösung bezeichnet, die Xenophon diesem so verwickelten Problem des Nichtwissens (s. o. S. 832) angedeihen läßt. S. widerrät zwar den eigentlich fachwissenschaftlichen Betrieb der Mathematik, Astronomie seinen Jüngern, καίτοι οὐκ ἄπειρός γε αὐτῶν ἦν, so § 3, und fast wörtlich noch einmal § 5; nur für praktische Zwecke empfahl er dieses Wissen. (Zum Vergleich nützlich Plat. Staat VII 522 aff., besonders 525 b c.) Xenophon führt gewisse Kenntnisse des S. an, faßt also hier den Vorwurf des Nichtwissens einfach als den der Unwissenheit auf. Differenzierter ist bereits das sokratische Verhalten dem Euthydemos gegenüber geschildert. Xenophon zerlegt es in zwei Phasen; bis zur Einsicht des eignen Nichtwissens wird Euthydemos elenktisch behandelt. Viele andere ließen sich durch diese Elenktik abstoßen, sagt Xenophon IV 2. 40, dieser Jünger aber wich nicht von S.’ Seite, ahmte ihn teils nach, teils lernte er von ihm; denn jetzt verwirrte ihn S. ganz und gar nicht mehr, sondern sagte ihm ganz einfach das Wissenswerte; πολλοὶ μὲν οὖν τῶν οὕτω διατεθέντων ὑπὸ Σωκράτους οὐκέτι αὐτῷ προσῇσαν, οὓς καὶ βλακοτέρους ἐνόμιζεν· ὁ δὲ Εὐθύδημος . . . οὐκ ἀπελείπετο ἔτι αὐτοῦ, εἰ μή τι ἀναγκαῖον εἴη· ἔνια δὲ καὶ ἐμιμεῖτο, ὧν ἐκεῖνος ἐπετήδευεν. ὁ δ’, ὡς ἔγνω αὐτὸν οὕτως ἔχοντα, ἥκιστα μὲν διετάραττεν, ἁπλούστατα δὲ καὶ σαφέστατα ἐξηγεῖτο ἅ τε ἐνόμιζεν εἰδέναι δεῖν καὶ ἐπιτηδεύειν κράτιστα εἶναι. So stellte sich also für Xenophon der Zusammenhang zwischen dem 1. und 3. Punkte des oben zerlegten Problems dar: das ,Fragen‘, ,verwirren‘ hat durchaus ein positives Gegenbild: Wissen, Wissenschaft wird von S. anerkannt, vor allem, er kennt sie selbst. Für die entscheidende Überbrückung der beiden Widersprüche durch die Beziehung alles Wissens auf die über Dinge, Gegenstände sich verständigende Gemeinschaft der πόλις kann zunächst ganz allgemein auf die durchgehends von Xenophon festgehaltene These verwiesen werden: S. war ein guter Staatsbürger und widmete allen Themen des Gemeinschaftslebens unablässig seine dialektische Mühe; so die Aufzählung der sokratischen Themen I 1. 16: αὐτὸς δὲ περὶ τῶν ἀνθρωπείων [840] ἀεὶ διελέγετο σκοῶν τί εὐσεβές, τί ἀσεβές, τί καλόν, τί αἰσχρόν, τί δίκαιον, τί ἄδικον, τί σωφροσύνη, τί μανία, τί ἀνδρεία, τί δειλία, τί πόλις, τί πολιτικός, τί ἀρχὴ ἀνθρώπων, τί ἀρχικὸς ἀνθρώπων, καὶ περὶ τῶν ἄλλων, ἃ τοὺς μὲν εἰδότας ἡγεῖτο καλοὺς κἀγαθοὺς εἶναι, τοὺς δ’ ἀγνοοῦντας ἀνδραποδώδεις ἂν δικαίως κεκλῇσθαι.

Doch dies bleibt alles selbst für Xenophons Verhältnisse noch allzusehr an der Oberfläche. Versuchen wir das Euthydemosgespräch des IV. Buches als Ganzes zu übersehen, also die c. II bis VI. Sollten sich die mannigfachen Einschübe, besonders das Hippiasgespräch im 4. Kapitel als notwendig für den größeren Zusammenhang erweisen, so wäre dies für die immerhin befremdliche Tatsache, daß die Euthydemosgespräche zerrissen werden, eine genügende Erklärung, zugleich eine Stütze für die These v. Arnims, daß Xenophon ziemlich eng sich an authentisches Material gehalten hat; doch darüber kann nur die zusammenhängende Interpretation Klarheit schaffen.

Es kann oft so scheinen, als liefen bei Xenophon die beiden Gedankengänge nebeneinander: 1. S. war ein guter Bürger, der seine Pflichten erfüllte und auch seine Jünger dazu anleitete; 2. S. war mit den Wissen seiner Zeit vertraut und vermittelte seinen Schülern positives Wissen. Die Themastellung des Euthydemosgespräches zeigt sofort am Anfang die Absicht, diese beiden Motive aufs engste zur παιδεία zu verknüpfen. Xenophon geht hier von dem Gegenbilde des sokratischen Weisen, dem eingebildeten Vielwisser und Büchernarren aus, der sich durch diese äußerliche παιδεία und σοφία auch zu einer politischen Rolle unter seinen Altersgenossen berufen fühlt, oder wie es bei Xenophon heißt: er hofft einst zum λέγειν καὶ πράττειν zu kommen, das auch hier als untrennbare Einheit für das griechische Bewußtsein erscheint. Aus der von Xenophon mit besonderer Liebe ausgearbeiteten mimetischen Schilderung, wie S. allmählich den stolzen jungen Mann aus seiner hochmütigen Reserve ,dem Schein der Sophrosyne‘ (c. 6), herausbringt, seien nur die Hauptpunkte hervorgehoben. In allen τέχναι beruft man sich auf Lehrer, in der so schwierigen und verantwortungsvollen πολιτικὴ τέχνη offenbar nicht, ja man weist sogar die angebotene politische Belehrung – die S. also sichtlich leisten zu können glaubt – hochmütig von sich; man glaubt offenbar plötzlich das λέγειν und πράττειν zu verstehen (§ 6 Ende). Die Diskussion segelt zunächst insofern in xenophontischem Fahrwasser, als die πολιτικὴ τέχνη neben allen anderen steht, neben Geometrie, Medizin usw.; sie wird allerdings § 11 bestimmt als die καλλίστη καὶ μεγίστη τέχνη . . . δι’ ἢν ἄνθρωποι πολιτικοὶ γίγνονται καὶ οἰκονομικοὶ καὶ ἄρχειν ἱκανοὶ καὶ ὠφέλιμοι τοῖς τε ἄλλοις ἀνθρώποις καὶ ἑαυτοῖς, also die βασιλικὴ τέχνη Platons. Als selbstverständliche weitere Ergänzung erscheint sofort die δικαιοσύνη, die zu bestimmen nun die gemeinsam von S. und Euthydemos unternommene Aufgabe wird. Durch ein anschauliches Verfahren werden nun gerechte und ungerechte Handlungen unter zwei Rubriken, die mit Α und Δ bezeichnet werden, gebracht, um durch diese ἐπαγωγή der Gerechtigkeit selbst näher zu kommen. Nachdem durch [841] die auch bei Platon üblichen Beispiele die Berechtigung, also die Gerechtigkeit der politischen und pädagogischen Notlüge erwiesen und damit die Schwierigkeiten einer allgemeinen Definition des Gerechten dargetan sind, wird festgesetzt, daß es ein Lernen und Wissen um das Gerechte genau so wie für die Buchstaben gibt (δοκεῖ μάθησις καὶ ἐπιστήμα τοῦ δικαίου εἶναι ὥσπερ τῶν γραμμάτων § 20), und daß deshalb, genau so wie der freiwillig falsch schreibende ,grammatischer‘, sachverständiger ist als der unfreiwillig falsch schreibende, auch der wissentlich Ungerechte gerechter als der unwissentlich Ungerechte ist. Den platonischen, den Kern der Sache berührenden Zusatz am Schluß des kleineren Hippias – wenn es einen solchen gibt, der wissentlich und freiwillig fehlt – den vermißt man hier nicht so sehr, wenn man nicht grade an den viel prinzipielleren Gedankengang des Hippias denkt. Denn Xenophon hütet sich, die eigentliche Konsequenz zu ziehen; er bleibt innerhalb der Beispiele, in denen kein Anstoß vorliegt, und geht sofort weiter zu dem Gedanken: der das Gerechte Wissende ist gerechter als der es nicht Wissende (vgl. auch 6, 5) und (§ 21) der Wissende bleibt auch konsequent: wer die Wahrheit sagt, muß ,über dasselbe immer dasselbe sagen‘ – ein Motiv, das im Verlauf des Gespräches wiederkehrt. Zunächst wird dieser Gedankengang zur Erweckung des E. benützt: das erste Stadium ist erreicht: er sieht ein, wie ausdrücklich gesagt wird, daß er mit seiner bisherigen ,Bildung‘ das, wonach der καλὸς κἀγαθός zu streben hat, noch nicht erreicht hat. S. stellt (§ 24) fest, daß er nun ,Selbsterkenntnis‘ erreicht hat; das γνῶηι σαυτόν ist von jetzt an das Thema. Wenn man nicht von vornherein glaubt, Xenophons Gedanken müßten flach, schief oder von Platon entlehnt sein, sondern sich grade den Unterschied gegen die platonische Behandlung desselben Problems im Charmides gegenwärtig hält, ist der folgende Gedankengang recht interessant: daß das hippologische Interesse Xenophons ihn die Selbsterkenntnis einmal mit dem Scharfblick des Roßtäuschers vergleichen läßt, sollte ihm wegen der Prägnanz des Bildes verziehen werden! Um den Zusammenhang der, wie ich glaube, echt sokratischen Gedanken zu würdigen, sei kurz an den Gedankengang des Charmides erinnert, dessen letzte und entscheidende Wendung der Interpretation solche Schwierigkeiten macht, auf die aber für S. und daher für unsern Gedankengang alles ankommt. Die σωφροσύνη wird dort p. 164 d der Selbsterkenntnis gleichgesetzt, diese Definition aber abgelehnt, weil die Selbsterkenntnis, als ἐπιστήμη ἑαυτῆς, wie man sagt ,erkenntnistheoretisch‘ umgedeutet, gar keinen Sinn hat; es fehlt ihr nämlich nach S.s Ansicht der Gegenstand, bis zum Schluß S. mit gut gespielter Entrüstung sich darüber beschwert, daß der selbstverständliche Gehalt, der in der Selbsterkenntnis erfaßt werde, das Gute, ihm nicht eher gesagt worden sei: Ὦ μιαρέ, πάλαι με περιέλκεις κύκλῳ, ἀποκρυπτόμενος ὅτι οὐ τὸ ἐπιστημόνως ἦν ζῆν τὸ εὖ πράττειν τε καὶ εὐδαιμονεῖν ποιοῦν. οὐδὲ συμπασῶν τῶν ἄλλων ἐπιστημῶν, ἀλλὰ μιᾶς οὔσης ταύτης [842] μόνον τῆς περὶ τὸ ἀγαθόν τε καὶ κακόν 174 b. Fehlt diese ἐπιστήμη, so wird die Arztkunst weniger Menschen zu heilen vermögen usw. Οὐχ αὕτη (Selbsterkenntnis im trivialen Sinn oder ,Erkenntnistheorie‘) … ἐστὶν ἡ σωφροσύνη, ἀλλ’ ἧς ἔργον ἐστὶν τὸ ὠφελεῖν ἡμᾶς. οὐ γὰρ ἐπιστημῶν γε καὶ ἀνεπιστημοσυνῶν ἡ ἐπιστήμη ἐστίν, ἀλλὰ ἀγαθοῦ τε καὶ κακοῦ . . . Dabei wird ausdrücklich festgehalten an der inneren Beziehung der σωφροσύνη zum Problem der Selbsterkenntnis, bezw. zu dem der Wissenschaft der Wissenschaften. (Der ,Staat‘ entfaltet ja wieder diese Seite des ,Guten‘). Die Überordnung der Selbsterkenntnis über die Erkenntnis des Guten führt freilich zu bereits festgestellten Widersprüchen. εἰ γὰρ ὅτι μάλιστα τῶν ἐπιστημῶν ἐπιστήμη ἐστὶν ἡ σωφροσύνη, ἐπιστατεῖ δὲ καὶ ταῖς ἄλλαις ἐπιστήμαις, καὶ ταύτης δήπου ἂν ἄρχουσα τῆς περὶ τἀγαθὸν ἐπιστήμης ὠφελοῖ ἂν ἡμᾶς – was nach früher zugestandenen, nun wiederholten Voraussetzungen unmöglich ist; denn jede ἐπιστήμη ist für ihr Eigenes ἔργον verantwortlich<!Vorlage:verantlich-->, die ἐπιστήμη ἐπιστήμης für Wissen und Nichtwissen. In der nun folgenden Rekapitulation wird auch die befremdlichste Stelle der früheren Argumentation (p. 167–172 e) wiederholt, 175 c; das, wie es doch gerade nach 167 a scheint, sokratische Wissen um Wissen und Nichtwissen ist mit einem erkenntnispsychologischen Widersinn behaftet - Ὁ ἄρα σώφρων μόνος αὐτός τε ἑαυτὸν γνώσεται καὶ οἷός τε ἔσται ἐξετάσαι τι τε τυγχάνει εἰδὼς καὶ τί μή, καὶ τοὺς ἄλλους ὡσαύτως δυνατὸς ἔσται ἐπισκοπεῖν τί τις οἶδεν και οἴεται, εἴπερ οἶδεν. καὶ τί αὖ οἴεται μὲν εἰδέναι, οἶδεν δ’ οὔ aber hier heißt es: ,Wie soll man das, was man nicht weiß, doch irgendwie wissen?‘ Die gegenständliche Richtung antiken griechischen Denkens gerät mit der ,Reflexion‘, der Zurückwendung des Blickes nach innen an dieser für das Verhältnis von S. und Platon fundamentalen, für das Wesen griechischer Logik und Psychologie klassischen Stelle in Konflikt. Daß Platon immer dort, wo er seine Auffassung der Idee des Guten, wie er sie im Staate gibt, irgendwie vorbereitet, eine Grenze des sokratischen Denkens markiert, in der er das Gespräch in betonte Aporie auslaufen oder den S. die Lösung zweifelnd und zurückhaltend geben läßt, das wird weiter unten genauer gezeigt werden.

Wir wollen nun, immer mit vorsichtigem Blick auf die Problematik des ,Charmides‘ sehen, ob sich Xenophons Stellung zu diesen schwierigen philosophischen Dingen aus seiner Anordnung dieser Gedanken ablesen läßt. Zunächst ist aus der Einführung des Delphischen Spruches klar: Xenophons S. versteht diesen genau in demselben Sinne wie der platonische, der zunächst den Einfall des Kritias ebenso durchführt, und ja auch an das Γνῶθι σαυτόν 164 e anknüpfte; ) denn Euthydemos weiß nun, was er nicht weiß, und bildet sich nicht mehr ein, zu wissen, was er doch nicht weiß, nämlich die παιδεία des καλὸς κἀγαθός. In der Durchführung verstärkt Xenophons S. noch diejenige Seite der Selbsterkenntnis, die bei Platon in der Diskussion höchst charakteristischerweise immer mehr zurückgedrängt und schließlich ganz weggebracht wird durch die Umdeutung der ἐπιστήμη ἑαυτοῦ in [843] die ἐπιστήμη ἑαυτῆς, d. h. also in die ἐπιστήμη ἐπιστήμης und schließlich in die ἐπιστήμη ἐπιστημῶν καὶ ἀνεπιστημοσυνῶν Während also Platon die Ableitung einer Wissenschaftslehre aus der Erkenntnis des Menschen sichtlich für diskutabel hält, freilich auf den Mittelbegriff des Guten entscheidenden Wert legt, bildet Xenophon, wie so viele seiner Zeitgenossen ,moderner‘ als Platon, die Selbsterkenntnis des S. zur Erkenntnis der individuellen Leistungsfähigkeit (δύναμις) aus. Solche Stellen können zeigen, wie wenig es den Quellenwert der xenophontischen Darstellung mindert, wenn er selbst den platonischen Charmides hier vor Augen gehabt hätte; denn er wendet die Gedanken in eine Platon ganz fernliegende Richtung. (Da im Phaidros 229 e ebensowenig von der Selbsterkenntnis im individuellen Sinne die Rede ist, sondern ebenso deutlich der Mensch selbst, die Seele wie sie im Staate X 611 d unter ähnlichen Bildern geschildert wird, gemeint ist, weiß ich nicht, warum die Xenophonstelle sich mit dem Phaidros mehr berühren soll als mit dem Charmides, wie H. Maier 59 will.) Wie man die Brauchbarkeit eines Pferdes nach seiner Lenkbarkeit, Kraft usw. erkennen muß, um den rechten Nutzen von ihm zu haben, so wird auch der Mensch seine eigene δύναμις wohl erkennen müssen, wenn er für sich selbst und für die anderen nützlich sein soll, wenn er also εὖ πράττειν (§ 26) soll; dies heißt ja zugleich für andere nützlich sein, ,wohltun‘, richtig handeln, und sein eigenes Wesen erfüllen, Vorteil haben, v. Wilamowitz Aus Kydathen 49 hat der Sache nach recht, daß ohne die ,Trugschlüsse‘ mit der doppelten Bedeutung von εὖ πράττειν die Sokratik nicht möglich wäre. Nur würde ich nicht von Trugschlüssen sprechen, die doch nur von unserem anderen Bedeutungssystem aus vorliegen, sondern von einer umfassenden, auf das Gemeinschaftsleben abgestimmten Bedeutung von εὖ πράττειν. Es ist das schönste, was über eine Gemeinschaft gesagt werden kann, daß es dem, der recht handelt, gerade dadurch gut gehen muß, und von dieser Bedeutung aus sind die Schlüsse eben durchaus richtig. Die Verbindung von Selbsterkenntnis, Nutzen und Glück – wie wir sehen, auch dem platonischen S. durchaus selbstverständlich – wird nun von Xenophon immer deutlicher an den Erfahrungen des Zusammenlebens erläutert, in dem immer diejenigen, die wissen, was sie tun, am besten fahren. Sie wird schließlich (§ 29) auch auf Staaten und Städte im ganzen ausgedehnt. (Die These, daß Städte, die ihre Macht verkennen, ins Unglück kommen, ist so zeitlos richtig, daß wirklich keine bestimmten Ereignisse hinter dieser ‚Anspielung‘ gesucht zu werden brauchen und die Memorabilien danach datiert werden können). Mit dem § 30 tritt nun die bisher schon deutliche Entsprechung zu dem Problemzusammenhange des Charmides und anderen platonischen Dialogen in ein neues Stadium. Euthydemos gibt den Wert der Selbsterkenntnis zu, er bittet nur um eine Einführung, wie er am besten mit dieser anfängt: ὁπόθεν χρὴ ἄρξασθαι ἐπισκοπεῖν ἑαυτόν, τοτο πρὸς σὲ ἀπολέπω εἴ μοι ἐθελήσαις ἂν ἐξηγήσασθαι. Οὐλπῦν, ἔφη ὁ Σωκράτης, [844] τὰ μὲν ἀγαθὰ καὶ τὰ κακὰ ὁποῖά ἐστι μάντως που γιγνώσκεις; Euthydemos bejaht diese Frage zuversichtlich, S. aber weist ihm nach, daß er keine Berechtigung dazu hat, sich diese Kenntnis zuzuschreiben, die er also für die Voraussetzung der Selbsterkenntnis hält. S. vollzieht nun die Prüfung, den ἔλεγχος; zeigt, daß alle die ,Güter‘, an die Euthydemos denkt, sowohl nützen als schaden können, also zugleich gut und schlecht sein müßten; die Erörterung drängt auf ein ἀγαθὸν ἀναμφίλογον, ἀναμφισβήτητον. Als ein solches will aber S. nicht einmal das εὐδαιμονεῖν anerkennen (§ 34), mit einer sehr beachtlichen Begründung. S. wirft die Frage auf, ob es nicht aus den Teilgütern zusammengesetzt ist, die alle als relativ nachgewiesen worden sind. Auf dem Hintergrunde der die gesamte S.-Schilderung Platons durchziehenden Gedanken vom höchsten Ziel, vom letzten um seiner selbst willen erstrebenswerten Guten, von dem Guten als dem, mit dessen Schein sich niemand begnügt usw., gewinnen diese Gedanken einen recht erwägenswerten Inhalt. Nicht an die stoische Frage der ἀδιάφορα möchte ich hier denken, wie v. Arnim 168, sondern an denjenigen tiefsten Grundbegriff der Sokratik, der auf geradem, freilich langem Wege die Idee des Guten als den Inbegriff von Staat, Glück des einzelnen, Wissenschaft und παιδεία aus sich entwickeln sollte. Bei Platon sehen wir diese Vorstellungen in höchster gefühlsmäßiger und gedanklicher Synthesis, die eine Herausschälung des ursprünglich somatischen Gedankengutes so sehr erschwert, zu neuer Einheit verschmolzen; wenn wir bei Xenophon die Stücke der Lehre gleichsam roh und unbehauen nebeneinander stehen sehen, so ist nicht notwendig anzunehmen, wie v. Arnim es beweisen zu können glaubt, daß er tatsächlich briefliche Nachrichten und Aufzeichnungen mit eigenen Notizen mühsam zusammenredigiert hat. Ich würde es jedenfalls vorziehen, auch mit einer anderen Möglichkeit zu rechnen, um außerhalb des Bereiches der bloßen εἰκότα zu bleiben und mich an das zu halten, was aus und für die Interpretation der Zeugnisse sich als nötig und deshalb als richtig erweist. Die rhapsodische Art, Gedanken nebeneinander zu stellen, kann innere Form eines den eigentlich philosophischen Aufgaben fernstehenden Geistes sein, der doch die personale Einheit der Gedanken in S.s Leben und Lehre begriffen hat, der also dem sokratischen Tattypus philosophischen Lehrens noch eine Stufe nähersteht, beurteilt nach der Skala S.-Platon-Aristoteles, wie sie oben entwickelt wurde. Dazu kommt natürlich noch eine bestimmte religiöse Haltung des Xenophon, die ihn den Verzicht auf theoretische Vereinigung jener Gedanken, den ihm seine φύσις nahelegte, gelassen ertragen ließ. Während Platon mit allen Kräften seines Geistes dem Begriff des Guten einen theoretisch faßbaren Gehalt abzuringen suchte, tritt für Xenophon unmittelbar in diesem Bereiche ein im innersten Wesen religiöser Glaube an die Stelle des Wissens. Der Eindruck nämlich, den jeder Leser der § 31–36 zunächst haben muß, daß Xenophon mit dem Problem des Guten einfach nicht fertig wird, ist dahin [845] richtigzustellen, daß Xenophon eine letzte Bestimmung des Guten durch menschlichen Verstand für eine Vermessenheit hält. Zwar hat er von S. so viel angenommen, daß es ,Wahnsinn‘ ist, durch irgendwelche Auseinandersetzung mit den Göttern, durch Orakel das in Erfahrung zu bringen, was menschlichem Intellekt zugänglich ist, ἃ τοῖς ἀνθρώποις ἔδωκαν οἱ θεοὶ μαθοῦσι διακρίνειν, er hält es aber für eine ebenso wahnsinnige Vermessenheit, alles der Wirkung menschlicher Einsicht zu unterstellen: τοὺς μηδὲν τῶν τοιούτων οἰομένους εἶναι δαιμόνιον, ἀλλὰ πάντα τῆς ἀνθρωπίνης γνώμης, δαιμονᾶν ἔφη (I 1. 9). Ganz folgerichtig läßt Xenophon seinen S. gerade in der zentralen Idee des Guten, des letzten ,Nutzens‘ und höchsten Glückes, ein Bereich festhalten, für das grundsätzlich der Mensch nicht zulangt; dort weiß er sich in einer höheren Macht geborgen, die alle an sich noch unentschiedenen Möglichkeiten des Guten und Bösen zum Guten führt. Deshalb ist die Stelle I 3, 2 so wichtig, an der Xenophon ausdrücklich sagt, man solle die Götter einfach um Gutes bitten, sich aber nie vermessen, den Inhalt des Guten anzugeben; und es ist eine klare Anspielung an diesen Gedanken, wenn gerade an unserer Stelle IV 2. 36 Euthydem sagt, falls man nicht einmal das εὐδαιμονεῖν für ein schlechthin Gutes halten darf, so bekenne er nicht zu wissen, worum man die Götter bitten solle: εἴ γε μηδὲ τὸ εὐδαιμονεῖν ἐπαινῶν ὀρθως λέγω, ὁμολογῶ μηδ’ ὅ τι πρὸς τοὺς θεοὺς εὔχεσθαι χρὴ εἰδέναι. Meines Erachtens hat uns hier Xenophon ein echt sokratisches Motiv ausdrücklicher als Platon erhalten, der, wie wir gleich sehen werden, diesem Gedanken eine andere Zuspitzung auf das autonome Ideal der Selbstbestimmung der menschlichen Gemeinschaft gab. Doch gerade er bezeugt bei genauerem Hinhören doch auch diesen, wie ich glaube, mit der echt religiösen Haltung immer verbundenen Verzicht; jedenfalls benützt er diesem Gedanken an den Höhepunkten seiner dichterischen Sokratesgestaltung als Motiv eines religiösen Ethos mit allergrößter Wirkung. ἀλλὰ γὰρ ἤδη ὥρα ἀπιέναι, ἐμοὶ μὲν ἀποθανουμένῳ, ὑμῖν δὲ βιωσομένοις· ὁπότεροι δὲ ἡμῶν ἔρχονται ἐπὶ ἄμεινον πρᾶγμα, ἄδηλον παντὶ πλὴν εἰ τῷ θεῷ (Apologie Schluß); daß der beinahe zum Terminus gewordene Ausdruck des εὖ πράττειν in dem ἄμεινον πρᾶγμα versteckt ist und das ἀγαθόν im ἄμεινον, entspricht einem tausendmal von Platon angewandten Stilprinzip. Ich füge mehr anmerkungsweise hinzu, daß sich gerade von diesen Überlegungen aus die bereits von v. Arnim 203ff. höchst umsichtig erörterte Beziehung von mem. III 9, 14 zu Euthydem 278 e verwerten läßt. Im Euthydem wird der Gedanke des ,Fachwissens‘ von derjenigen Seite behandelt, von der aus das blinde Glück, die εὐτυχία, durch ἐπιστήμη ersetzt, also danach ausgeschaltet wird, und das ,richtige Treffen‘ (v. Arnim 204) notwendig mit der ἐπιστήμη zusammen sich als εὐπραξία erweist. Ἆρ’ οὖν καὶ περὶ τὴν χρείαν ὧν ἐλέγομεν τὸ πρῶτον τῶν ἀγαθῶν, πλούτου τε καὶ ὑγιείας καὶ κάλλους, τὸ ὀρθῶς πᾶσι τοῖς τοιούτοις χρῆσθαι ἐπιστήμη ἦν ἡγουμένη καὶ [846] καθορθοῦσα τὴν πρᾶξιν (281 a). Dieser Beweisgang ist nach der oben S. 843 entwickelten umfassenden Bedeutung von εὖ πράττειν möglich. Zwar bezeichnet nun Xenophon die εὐπραξία als die würdigste Betätigung, ἐπιτήδευμα κράτιστον; es ist keine Rede davon, daß er etwa nur an das ,richtig handeln‘ denkt. Man vergesse nie, daß ἀρετή durch die ganze griechische Philosophie hindurch nie die ursprüngliche Bedeutungskomponente des ,Gedeihens‘ (v. Wilamowitz) verloren hat! Ein ,dynamischer‘, praktischer ,Realismus‘ ist für griechisches Denken ebenso charakteristisch wie der gegenständliche, von dem so viel gesprochen wird. Seine wichtigste Seite ist aber vielleicht wieder diejenige, die auf die den Griechen am nächsten liegende Sphäre der tätigen und leidenden Wechselwirkung in der Gemeinschaft hinweist Den ,Erfolg‘ im allgemeinsten Sinne meint also natürlich Xenophon hiermit, das gute Durchführen, Durchkommen durch Schwierigkeiten‘ (das ist ja der ursprüngliche Sinn von εὖ πράττειν); aber er führt den Erfolg darauf zurück, daß derjenige Mensch, der seine menschliche γνώμη am besten anwendet, auch den Göttern am liebsten ist! τὸ μαθόντα τε καὶ μελετήσαντά τι εὖ ποιεῖν εὐπραξίαν νομίζω, καὶ οἱ τοῦτο ἐπιτηδεύοντες δοκοῦσί μοι εὖ πράττειν. καὶ ἀρίστους δὲ καὶ θεοφιλεστάτους ἔφη εἶναι ἐν μὲν γεωργίᾳ τοὺς τὰ γεωργικὰ εὖ πράττοντας, . . ἐν δὲ πολιτείᾳ τοὺς τὰ πολιτικά· τὸν δὲ μηδὲν εὖ πράττοντα οὔτε χρήσιμον οὐδὲν ἔφη εἶναι οὔτε θεοφιλῆ (III 9, 14). So denkt sich Xenophon den Zusammenhang des Göttlichen mit der γνώμη und φρόνησις, freilich recht anders als Platon. Dieser bringt durch seine Anamnesislehre Wissen und Gottheit in einen metaphysischen Zusammenhang, der ohne Zweifel – darin hat Maier unbedingt recht – in dieser Form über S. weit hinausgreift. Aber es sind eigentlich mehr Abweichungen in der religiösen Grundhaltung bei Xenophon und Platon, die deshalb einen gemeinsamen, sokratischen Kern, eine typische Haltung zu erschließen durchaus gestatten. Die rhapsodische Art Xenophons ist hier gerade wertvoll, wenn man seine Gedanken durch griechische Vorstellungen, wie sie die Sprache an die Hand gibt, verbindet, und sich sowohl der Deutung wie der negativen Kritik des scheinbar Zusammenhanglosen von modernen Gesichtspunkten aus enthält.

Jene aus griechischen Vorstellungen vorsichtig das Zerstreute zusammenfügende Interpretationsweise ist nun bei der letzten Wendung des ersten Teiles des Euthydemgespräches besonders nötig. Ich knüpfe an den Anfangssatz von IV 2, 36 an, der, wie gezeigt, auf das Fundament der religiösen Weltanschauung Xenophons deutlich genug hinweist. So geht er mit einer nach unseren Anschauungen zunächst unverständlicher Kürze zum Problem der demokratischen πόλις über, § 36. Ἀλλὰ μήν, ἔφη, εἴγε μηδὲ τὸ εὐδαιμονεῖν ἐπαινῶν ὀρθῶς λέγω, ὁμολογῶ μηδ’ ὅ τι πρὸς τοὺς θεοὺς εὔχεσθαι χρὴ εἰδέναι. Ἀλλὰ ταῦτα μέν, ἔφη ὁ Σωκράτης, ἴσως διὰ τὸ σφόδρα πιστεύειν εἰδέναι οὐδ’ ἔσκεψαι· ἐπεὶ δὲ πόλεως δημοκρατουμένης παρασκευάζῃ προεστάναι, δῆλον ὅτι δμοκρατίαν γε οἶσθα τίἐστι. Πάντως δήπου, ἔφη. Δοκεῖ οὖν σοι δυνατὸν εἶναι δημοκρατίαν εὶδέναι μὴ εἰδότα [847] δῆμον; Μὰ Δί’ οὐκ ἔμοιγε. Die übliche sokratische Zurückführung der Bedeutung von Demokratie, die Frage nach ihrem τί ἔστιν, läuft über die Begriffe: πένητες = δῆμος, opp. πλούσιοι, ein Gegensatz, dessen Relativität durch die Gleichsetzung von πλούσιος und ἱκανὰ ἔχων bewiesen wird. Damit ist diese politisch anhebende Diskussion wieder nach der Richtung einer ethisch-philosophischen Güterlehre umgebogen worden und dient nun zur Grundlage für die volle Überwindung des stolzen Euthydemos. Er sieht sein Nichtwissen ein, aber im Gegensatz zu unedleren Naturen bleibt er in der Lehre und Zucht des S.

Die rhapsodische Art der xenophontischen Gedankenführung ist unverkennbar, aber nach allem, was vorher gesagt wurde, kann der tiefere Zusammenhang nicht zweifelhaft sein, den Xenophon hier meinte, gleichviel, ob er einzelne ὑπομνήματα bereits vorfand und sie aneinanderreihte, oder ob er selbständiger diese Gedanken, die er als sokratisch empfand, wo immer er sie vorfand, zu einem Gefüge zusammenzuschließen unternahm; die erste, streng nicht beweisbare Möglichkeit schließt die zweite allgemeinere nicht aus, sondern fordert sie als Ergänzung. Die Gedanken Glück, Gedeihen, Göttliches, Staat gehören für den griechisch-sokratischen Menschen eben von vornherein viel enger zusammen, so eng, daß Xenophon den Gedankengang des ἔλεγχος des Euthydem nur in der politischen Sphäre beschließen konnte, wie er ja den § 1 unzweideutig mit dem Anspruch des Euthydem, einst im λέγειν καὶ πράττειν, in der politischen εὐπραξία sich hervorzutun, hatte beginnen lassen. Noch kurz vor der bebandelten Stelle, § 35, war die δόξα und δύναμις πολιτική genau so wie der Reichtum als ein ἀγαθὸν ἀμφίλογον nachgewiesen worden; für Xenophon lagen πλοῦτος und εὐδαιμονεῖν – der Sprachgebrauch, dem er sich harmlos gelegentlich anschließt, lehrte es ihn – voneinander nicht so gar weit ab, gerade bei der πόλις nicht; εὐδαίμων πόλις ist eine ,reiche‘ Stadt, εὐπραξία eines Staates drückt sich im Wohlstand aus. Xenophon liegen ökonomisch-politische Probleme überhaupt näher als der Staatstheorie des Platon und Aristoteles; für ihn war also in dem Unterschied von πένητες und πλούσιοι ein zentraler Punkt berührt.

Noch viel verständlicher wird aber der politische Abschluß der Gedankenreihe, wenn man die nun folgenden Teile des Euthydemosgesprächs unter den bisher gewonnenen Gesichtspunkten betrachtet. Sie scheinen zunächst in folgende Abschnitte wirklich zu zerfallen: 1. teleologische Naturbetrachtung, c. 3; 2. Einschub: Gespräch mit Hippias περὶ δικαίου, c. 4; 3. Wiederaufnahme der Euthydemosgespräche, c. 5 περὶ ἐγκρατείας bezw. περὶ ἐλευθερίας. Am Schluß: die berüchtigte, nach H. Maier von Platon (Phaidros Sophistes Politikos) entlehnte Schilderung der Dialektik des S., übergreifend in c. 6, das mit Proben sokratischer Definitionen erfüllt ist. Daß das erste der nun zu besprechenden Kapitel (IV 3) sich auf ältere teleologische Betrachtungen stützt, an die wahrscheinlich auch Platon im Philebos p. 28ff. anknüpft, ist neuerdings von W. Theiler nachgewiesen worden (Zur Geschichte der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles, [848] Zürich 1925); der Nachweis, daß Diogenes von Apollonia eine besondere Rolle hierbei spielt, ist für den philosophischen Hintergrund der ,Wolken' des Aristophanes vielleicht nicht unwichtig vgl. auch Antike I 262ff. Hier gilt es nun zu untersuchen, in welche Gedankenzusammenhänge sich diese Teleologie einordnet. Sie wird gleich zuerst als Propädeutik für das λέγειν καὶ πράττειν eingeführt; S. übereilte sich nicht damit, zu diesem eigentlichen Ziel seines Unterrichts vorzudringen, sondern er lehrte zunächst σωφρονεῖν, um den möglichen Mißbrauch jener dialektisch-politischen Fähigkeiten zu verhüten; und der erste Gegenstand für diese σωφροσύνη sind die Götter. Bei Platon sahen wir die σωφροσύνη sich zu einer allgemeineren Bedeutung zurückentwickeln, zur Erkenntnis der eignen Seele, und diese wird schließlich mit der des Guten gleichgesetzt; auch bei Xenophon scheint die allgemeinste Bedeutung wieder durchzuschlagen, die ursprünglich in dem Worte lag. Sie konnte durch die heute noch längst nicht ganz erfaßte Wichtigkeit des medizinischen Denkens für das griechische Geistesleben (vgl. besonders Nohl Sokrates und die Ethik, Berl. Diss. 1904 S. 33. E. Hoffmann Anh. zu Zeller S. 1076; ferner die äußerst lehrreiche, von Dyroff angeregte Bonner Diss. [1914] von A. Keus Über philosoph. Begriffe und Theorien in den hippokrat. Schriften), ja sogar durch Wendungen der Umgangssprache, wie ὑγιές τι λέγειν, wieder ins Gedächtnis treten; gesundes und ,bewahrendes‘, ,rettendes‘ Denken, also richtig denken, das bedeutet offenbar hier das σω–φρονεῖν. Die übliche Übersetzung mit ,Bescheidenheit‘ bringt meines Erachtens ein fremdes Motiv und einen fremden Maßstab der Beurteilung hinein (Hiestand Das sokratische Nichtwissen in Platons ersten Dialogen, Zürich 1923, mit Berufung auf H. Maier 304–352). Bedenkt man, daß Xenophon von den Göttern allen Erfolg, εὐπραξία im erörterten Doppelsinne erwartete, da sie allein die Wissenden sind über das Gute, so erscheint dieser teleologische Anfang des eigentlichen Lehrganges (§ 40: ἁπλούστατα καὶ σαφέστατα ἐξηγεῖτο!) sehr natürlich, mögen auch die Gedanken zunächst inhaltlich platt sein oder uns heute wenigstens so vorkommen. Für den Fortgang des Gespräches ist der allmähliche Übergang aus der ,Natur‘- in die sog Kultursphäre wichtig. Die Schilderung der πρόνοια der Götter für Leib und Leben des Menschen, der sich Tiere und Naturmächte dienstbar macht, führt (§ 11) zu dem wichtigsten Werkzeuge des Menschen, dem denkenden Geiste, durch den er sich alles dessen bemächtigt, was ihm nützt, was für ihn gut ist. Die Stelle muß im Zusammenhange gelesen werden, weil sie ein klassisches Zeugnis für die Gedanken ist, aus denen die Sokratik erwachsen ist und aus denen sie allein verstanden werden kann, nämlich für die unlösliche Verknüpfung des λόγος, des λογίζεσθαι mit der auf Verständigung und gegenseitiger Mitteilung der ἀγαθά beruhenden Gemeinschaft der gesetzmäßigen πόλις: τὸ δὲ καὶ λογισμὸν ἡμῖν ἐμφύσαι, ᾧ περὶ ὧν αἰσθανόμεθα λογιζόμενοί τε καὶ μνημονεύοντες καταμανθάνομεν, ὅπῃ ἕκαστα συμφέρει, καὶ πολλὰ μηχανώμεθα, δι’ ὧν τῶν τε ἀγαθῶν ἀπολαύομεν καὶ τὰ κακὰ ἀλεξόμεθα· τὸ [849] δὲ καὶ ἑρμηνείαν δοῦναι, δι’ ἧς πάντων τῶν ἀγαθῶν μεταδίδομέν τε ἀλλήλοις διδάσκοντες καὶ κοινωνοῦμεν καὶ νόμους τιθέμεθα καὶ πολιτευόμεθα (zur ἑρμηνεία διὰ λόγου als Mittel und Sinn des διαλέγεσθαι vgl. auch III 3, 11). Darin liegt die höchste Betreuung der Menschen durch die Götter: Παντάπασιν ἐοίκασιν, ὦ Σώκρατες, οἱ θεοὶ πολλὴν τῶν ἀνθρώπων ἐπιμέλειαν ποιεῖσθαι, und für gewisse, menschliches Denken übersteigende Fragen greifen sie durch Orakel unmittelbar in das Leben ein und zeigen, wie alles am besten wird. Diesen Glauben, den Xenophon doch mit Athenern wie Sophokles teilt, und den wir nicht aufklärerisch beurteilen dürfen, verstärkt vielleicht Xenophon in dem Bilde des S. Daß er damit dem S. einen wesensfremden Zug gegen dessen ausdrückliche Stellungnahme aufgebürdet hätte, ist kaum glaublich; möglich, daß S. hier sein Urteil zurückhielt und verschiedene Deutungen seines Standpunktes zuließ. Jedenfalls ist die Grundlage der Gedanken, soweit wir sie eben griechisch angegeben haben, echteste Lehre des S. Die folgenden Ausführungen, die für die sokratische Seelenlehre fundamental sind, handeln zunächst von dem höchsten, unsichtbar wirkenden Gott: ὁ τὸν ὅλον κόσμον συντάττων τε καὶ συνέχων, ἐν ᾧ πάντα καλὰ καὶ ἀγαθά ἐστι, καὶ ἀεὶ μὲν χρωνένοις ἀτριβῆ τε καὶ ὑγιᾶ καὶ ἀγήρατα παρέχων (§ 13); dann von der Verwandtschaft der menschlichen Seele mit dem Göttlichen (§ 14 Ende): ἀλλὰ μὴν καὶ ἀνθρώπου γε ψυχή, ἥ, εἴπερ τι καὶ ἄλλο τῶν ἀνθρωπίνων, τοῦ θείου μετέχει, ὅτι μὲν βασιλεύει ἐν ἡμῖν, φανερόν, ὁρᾶται δὲ οὐδ’ αὐτή, ἃ χρὴ κατανοοῦντα μὴ καταφρονεῖν τῶν ἀοράτων, ἀλλ’ ἐκ τῶν γιγνομένων τὴν δύναμιν αὐτῶν καταμανθάνοντα τιμᾶν τὸ δαιμόνιον. Also muß man auch im Kosmos die unsichtbare Gottheit an ihrer δύναμις erkennen und sie ehren; die Gottheit heißt hier τὸ δαιμόνιον, und auch sonst hat Xenophon mit δαιμόνιον nicht die aus Platon bekannte innere Stimme des S. bezeichnet, sondern die eben geschilderte oberste Gottheit. (Dies hat Gomperz N. Jahrb. 1924, 154ff. mit Recht betont und eine Anzahl Stellen I 1, 2. 3. 4; Apologie 4. 12; oec. II 18; symp. VIII 5 interpretiert; der Wortlaut der Anklage scheint mir entscheidend, trotz der Umdeutung Platons, die Gomperz 158, 3 hervorhebt.) Auf die Frage des Euthydemos, wie man so große göttliche Wohltat vergelten könne – man sieht, wie diese homerische Vorstellung von Gabe und Gegengabe, der χάρις auch zwischen Göttern und Menschen, zum Wesen griechischer Religion gehört – antwortet S. mit dem auch Mem. I 3, 1 erwähnten Spruch des delphischen Gottes: νόμῳ πόλεως, und der νόμος πόλεως ist überall, die Götter nach Kräften durch Opfer zu ehren. So schließt dieses Gespräch mit der charakteristischen Wendung: τοιαῦτα μὲν δὴ λέγων τε καὶ αὐτὸς ποιῶν εὐσεβεστέρους τε καὶ σωφρονεστέρους τοὺς συνόντας παρεσκεύαζεν.

Das Gespräch hinterläßt ganz besonders stark zunächst den Eindruck der unausgeglichenen Mischung von Banalitäten auf der einen Seite und religiös fundierten Anschauungen, wie sie etwa gerade dem späten Platon eigentümlich sind, auf der anderen. Daß naturphilosophische Theorien, vielleicht besonders Diogenes von Apollonia (s. das zitierte [850] Werk von W. Theiler) hier anklingen, diese Möglichkeit beweist noch nichts dagegen, daß nicht schon S. diese Lehren zum Ausdruck seiner inneren religiösen Haltung benutzt hat, Xenophon also in gutem Glauben und sachlich berechtigt seine Erinnerung aus den auch S. bekannten Schriften aufgefrischt hat. In diesem Zusammenhang möchte ich auf den oben zitierten § 11 noch kurz hinweisen; die empirisch-sensualistische Ableitung des λογισμός aus αἴσθησις und μνήμη) erinnert an die ausführlichere Darstellung Phaidon 96 b, die freilich der platonische S. als ein überwundenes Stadium seiner Anschauungen bezeichnet. Wir werden am Schlusse des Euthydemgespräches auf diese Beziehungen zurückkommen müssen. Hier ist die religiöse Frage wichtiger, ob Xenophon mit seiner Auffassung des δαιμόνιον als höchster Gottheit etwa einen wesentlichen, für S. charakteristischen Sachverhalt berührt. Die Frage ist auch für den Sinn der offiziellen Anklageschrift wichtig und ist deshalb in neuester Zeit wieder vielfach behandelt worden. Außer H. Maier nenne ich Gomperz Die Anklage des S. in ihrer Bedeutung für die S.-Forschung N. Jahrb. 1924, 151; dort auch weitere Literatur, v. Arnim 55ff. untersucht die Frage, ob die Stimme von S. wirklich gehört worden ist. Statt an Halluzinationen braucht man wirklich nur an die Lebhaftigkeit des griechischen Denkens zu erinnern, das auch den διάλεκτος der Seele mit sich selbst als wirkliches Gespräch auffaßt. S. selbst hätte jene Frage kaum beantworten können.

Die Lösung der mannigfachen Interpretationsschwierigkeiten ergibt sich wieder aus den drei Tatsachen: erstens ist S. noch nicht zu theoretisch präzisierter Stellungnahme in diesen Fragen gelangt, sondern er beschränkte sich auf eine bestimmte praktische Haltung und auf den Aufweis der hier vorliegenden Fragen. Zweitens: Xenophon versucht, immer sich an die Handlungen des S. in erster Linie haltend, eine seiner Natur und seinen Anschauungen entsprechende Deutung dieser Seite des sokratischen βίος. Und drittens: Platon vertieft sowohl die logische wie die religiöse Seite bis in eine gemeinsame Sphäre, in der ganz neue Deutungen der sokratischen Persönlichkeit möglich werden. Diese, natürlich bei der Behandlung Platons als Zeugen der Sokratik näher zu begründende These, läßt sich bereits hier, bei der Deutung des δαιμόνιον, erläutern. Xenophon sieht dasselbe Walten der Vorsehung in der Natur wie in der πόλις und in der von einem λόγος beherrschten Seele. Daß die φύσις für den Griechen alles Lebendige umspannt, ist nicht, wie W. Theiler a. a. O. im letzten Kapitel ausführt, erst des Aristoteles Ansicht, sondern allgemein griechisch; ,Natur‘ in unserem Sinne, also entgegengesetzt der ,Kultur‘, für die es kein griechisches Wort gibt, und φύσις zu zu verwechseln, ist ein πρῶτον ψεῦδος ἀκούσιον der Deutung aller griechischen Philosophie, das im letzten Grunde jeden Gedanken umbiegt und verfälscht. Daß in dem Gegensatz von φύσις und νόμος (bezw. θέσις oder τέχνη) sich ein Kulturbegriff vorbereitet, soll nicht bestritten werden; auf die Richtung, in die S. und sein Kreis diese Gedanken wendet, kommt es an; und diese Richtung [851] weist allenthalben auf eine archaische Totalität zurück – Plat. Gesetze X 890 d ist wohl der tiefsinnigste Versuch, νόμος, τέχνη und λόγος in einen umfassenderen φύσις-Begriff aufzunehmen. In Xenophons Ansicht, in der griechischen ἀρετή überhaupt, wirkt noch ganz stark die homerische, von jeder überstiegenen ,kosmischen‘ Auffassung des politischen Herrschers freie Auffassung nach, die etwa mit den Versen der Odyssee bezeichnet werden kann (XIX 108):

ἧ γάρ σευ κλέος οὐρανὸν εὐρὺν ἱκαάνει,
ὥς τέ τευ ἦ βασιλῆος ἀμύμονος, ὅς τε θεουδὴς
ἀνδράσιν ἐν πολλοῖσι καὶ ἰφθίμοισιν ἀνάσσων
εὐδικίας ἀνέχῃσι, φέρῃσι δὲ γαῖα μέλαινα
πύροὺς καὶ κριθάς, βρίθῃσι δὲ δένδρεα καρπῷ,
τίκτῃ δ’ ἔμπεδα μῆλα, θάλασσα δὲ παρέχῃ ἰχθῦς
ἐξ εὐηγεσίης, ἀρετῶσι δὲ λαοὶ ὑπ’ αὐτοῦ.

In den Worten der Götter VIII 329: οὐκ ἀρετᾷ κακὰ ἔργα liegt diejenige Religiosität beschlossen, die wir auch bei Xenophon sehen und im gleich folgenden Hippiaskapitel von einer anderen Seite bestätigt finden werden. Diese Religiosität bleibt bei Xenophon durchaus in der kultischen Haltung der griechischen εὐσέβεια, und da auch S. an der Betätigung der νομιζόμενα, wie alle Quellen übereinstimmend berichten, festhielt, glaubte Xenophon in dieser kultischen Legalität des sokratischen Lebens, dem Festhalten am νόμος πολεως einen wesentlichen Zug des Lehrers sehen zu dürfen. Nun ist aber ein neues Motiv im sokratischen βίος vorhanden, ein sehr wesentliches und durch seine unbegrenzte Ausdeutungsfähigkeit höchst folgereiches, und es ist kein Zweifel, daß er zunächst wegen dieses Motivs angeklagt und verurteilt worden ist, eben das rätselhafte δαιμόνιον, das wir hier bei Xenophon zur obersten Gottheit entwickelt sehen, also gleichbedeutend dem θεῖον, wie es bei Xenophon und Platon und in der gesamten Literatur der damaligen Zeit ebenso häufig genannt wird (anders Immisch Neue Jahrb. V [1900] 395). Nun scheint es mir grundsätzlich falsch, die Frage nach der Asebie des S. von dem Problem des Monotheismus und Polytheismus, dem Glauben an die Volksgötter, Gestirngötter usw. abhängig zu machen. Kein Grieche hat diesen Zwiespalt so gefaßt, daß der Glaube an eine einheitliche göttliche Macht den an Einzelgötter ausschließe; auf verschiedenen Wegen entwickelten sich aus dem Polytheismus immer solche scheinbar entgegengesetzten, dominierenden Mächte, sei es das Schicksal, die Tyche, oder ein irgendeiner Gemeinschaft besonders verbundener Lokalgott. So kam das latente, monotheistische Bedürfnis zu seinem Recht, sobald die Einheit eines Lebensganzen deutlicher erfaßt wurde. Das bedeutet nicht im geringsten, an diese Götter ,glauben‘, an die anderen ,nicht glauben‘; erstens deshalb nicht, weil ,Glaube‘, so wie wir das Wort verstehen, mit ungriechischen, gesinnungsmäßigen Zügen verknüpft ist, die eine Stärke des individuellen vereinzelten Selbstbewußtseins voraussetzen, mit der die Griechen noch nicht belastet waren – daher ihre ungeheuren kulturellen Leistungen! Der ,Glaube‘ wie der Logos der Griechen war tätig, handelnd; wer den kultischen νόμος erfüllte, war εὐσεβής. Nun hat zwar S. sich, wie es scheint, keine Vernachlässigung [852] des Kultes zuschulden kommen lassen, und er hat wohl auch den Orakelglauben, d. h. wieder die tätige Inanspruchnahme der Orakel durch seine Schüler kaum gehindert oder aufklärerisch entwertet. Aber er hatte in dem Daimonion irgend etwas, das, man mag sich stellen wie man will, einen Ersatz für die Orakel darstellt; (so auch Εd. Schwartz Charakterköpfe I 57). Von der kultischen Seite ist dieser ganze Komplex aufzufassen, und hierauf zielt ja ganz deutlich die Anklage der καινοτομία περὶ θεῶν. S. erkannte das Daimonion als tätige Macht an, darin lag dessen höhere Wirklichkeit für ihn, für seine Mitbürger also die Verletzung des νόμος. Auch bei den scheinbar mehr theoretischen Asebieprozessen mögen immer kultische Dinge als Handhaben hineingezogen worden sein. Daß solche Prozesse in Athen nie ehrlich gemeint waren (Ed. Schwartz 49), ist vielleicht insofern richtig, als es eine kollektive Ehrlichkeit, eine einheitliche Überzeugung einer Menge selten gibt; da ist stets Suggestion und Unklarheit über die eigenen Motive dabei. Gerade wenn sich die Einheit des Religiösen, Kultischen und Politischen zu zersetzen beginnt, können solche Motivvermengungen in der Öffentlichkeit entstehen, wenn Demagogen aus persönlichen Gründen die Menge beeinflussen. Und die persönliche ἀπέχθεια dieses ersten großen Individuums der Geschichte verkleidete sich natürlich in sog. sachliche Gründe. Von ἀπέχθεια und διαβολή spricht die platonische, von der μεγαληγορία die xenophontische Apologie. Alles sind Ausstrahlungen der allgemeinen εἰρωνία – auch das τίμημα auf Speisung im πρυτανεῖον. Auch die εἰρωνία war eine tätige, wie alles, was von S. ausging; und gegen eine so mit dem Menschen zusammenhängende ,Lehre‘ gab es nur eine Widerlegung, die ganze Person aufzuheben; auch Alkibiades wünscht ihm den Tod, Symp. 216 c.

In der Beurteilung des Daimonions sind nun die verschiedenen Wege des Xenophon und Platon sehr charakteristisch. Xenophon drängt dazu, das δαιμόνιον einzubeziehen in die bestehenden, bekannten Anschauungen, und er macht mit Recht keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Einordnung des Daimonions in die üblichen Zeichen der Götter, als da sind ,Stimmen, φωναί, Träume‘, Vogelflug, und der für uns scheinbar entgegengesetzten Auflösung des individuellen Daimonions in die – wie gesagt ganz unanstößige – Vorstellung eines allgemeinen θεῖον, das sich auf allen den Wegen äußern kann, die wir in diesem Kapitel bei Xenophon kennengelernt haben. Platon hingegen sieht in dem Daimonion eine ganz andere, für griechisches Denken ungeheuerliehe Möglichkeit am Horizonte seines Gesichtskreises auftauchen: die Gleichsetzung der einzelnen Seele, des Ich, mit dem Göttlichen. Wir werden sehen, wie er diesen Gedanken sofort griechisch umgeformt von seinem Lehrer empfängt; aber er sieht mit voller Klarheit, daß das Daimonion etwas anderes ist als alle die Vorstellungen, die wir bei Xenophon gerade fassen können, die aber sicher auch anderen Schülern zur Deutung der Haltung des S. geeignet scheinen. Platon sieht, daß S. der sich selbst bestimmenden freien Vernunft, dem λόγος, eine so ungeheure Bedeutung [853] zuweist, wie noch nie jemand vor ihm, und sein ganzes Trachten und Denken geht dahin, diesen Widerspruch in S. zu höherer Einheit zu verbinden: durch die ἀνάμνησις- und ἔρως- Lehre zieht er ein gut Teil des δαιμόνιον und θεῖον in den λόγος herüber. Leugnen kann er in seiner Mimesis des S. jene ganz unzweideutige Stimme Gottes nicht, die S. zu hören glaubte, doch entzog er ihr alles das, was zum Logos, dem Wissen und Denken des Menschen gehört; so drängt er das Daimonion in die rein negative Funktion des bloßen Abwehrens einer Handlung; die Stimme spricht nie positiv, sie ,sagt nichts aus‘, – das kann nur der λόγος! Diese Auffassung ergibt sich unmittelbar aus der anfangs entwickelten Beziehung von λόγος und Verständigung durch Sprache.

So viel über den Gegensatz, durch den Platon an dieser Stelle die Gedanken Xenophons verstehen lehrt. Fassen wir nun noch einmal das ganze 3. Kapitel Xenophons ins Auge, so finden wir wieder eine Nebeneinanderstellung von Motiven, deren Zusammenhang wesentliche Züge des historischen S. erklären kann, dazwischen freilich Naivitäten, wie die ,Unsichtbarkeit‘ der Winde, die doch so große Wirkungen ausüben (§ 14 Ende). Vielleicht hat man auch hier an naiv aufgefaßte Lehren des Diogenes von Apollonia zu denken, der die Luft wieder zur ἀρχή und zum Geiste erheben wollte. Halten wir die lose, vereinzelte Formung fest, wenn man diese unauffällige und doch bedachte Fügung der Gedanken so nennen will, so können wir ihr Ergebnis, das aus dem Zusammenhang abgelesen werden muß, so bezeichnen: πάντα πλήρη θεῶν, Natur- und Menschenleben, vor allem die πόλις als die Einrichtung, die aus der φύσις des Menschen, durch λογισμός und λόγος sich erzeugt und erhält und unter besonderem göttlichem Schutze steht.

Während das 3. Kapitel des Euthydemosgespräches den Kosmos zum Ausgangspunkt und Hauptgegenstand nimmt, aber auf die πόλις deutlich hinweist, ist das Folgende genau das Widerspiel: ein Dialog περὶ δικαίου, zwischen S. und Hippias. Die erheblich größeren Schwierigkeiten, von dieser Stelle zu dem Kern des sokratischen Denkens vorzudringen, ließen Xenophon noch weiter hinter seinem Ziel zurückbleiben und sich noch mehr auf das Nebeneinanderstellen somatischer Züge beschränken; um so vorsichtiger ist er zu interpretieren.

Das Hippiaskapitel hat uns zum Teil bereits beschäftigt; es enthält zunächt die scharf zugespitzte Bemerkung über das ,immer dasselbe sagen‘ (s. o. S. 821f.), ferner den Nachweis der praktischen Politik des S., der auch ἔργῳ, nicht bloß λόγῳ, seine γνώμη verwirklicht (s. o. S. 834). Über den sonstigen Inhalt H. Maier 46, 2. v. Arnim 132ff. Der Kern des Gespräches scheint aber zunächst ein Durcheinander der folgenden beiden Gedankenreihen: 1. die Gerechtigkeit besteht in der Befolgung der gegebenen Gesetze; Beispiel: S.s Verhalten zu jeder Zeit, besonders bei seiner Verurteilung; 2. die ἄγραφοι νόμοι sind etwas anderes als die staatlichen Gesetze, aber trotzdem gegebene, ,gesetzte‘ Satzung – wo kämen sie sonst her? Sie sind also von den Göttern gegeben (§ 19). Wahrscheinlich denkt Xenophon [854] an die für viele auch heute noch unbegreifliche Haltung des S. dem Fehlurteil des attischen Gerichtes gegenüber, und er will hier die praktische Haltung seines Lehrers theoretisch bestätigen. Dann müssen wir zur Ehre Xenophons feststellen, daß dieselbe Aufgabe Platon ebensowenig gelungen ist. Mögen auch die meisterhaft geformten Gedanken des Kriton noch so hoch über den ziemlich hilflosen Darlegungen Xenophons stehen, von denen Hippias angeblich so tief überzeugt ist, sachlich bleibt für uns dort derselbe Riß zunächst offen. Freilich: ,dem Athener alten Schlages war die Rechtsordnung seines Staates, die tatsächlich etwas Neues und Imposantes war, einfach die reale Erscheinungsform der göttlichen δίκη‘, Ed. Schwartz Charakterköpfe I 55; einer Aufklärung, die das ,richtige‘ Recht konstruieren will, und einem billigen Skeptizismus gegenüber, der einfach auf Grund der Verschiedenheit historischen Rechtes an verschiedenen Orten einem plumpen Opportunismus das Wort redet, ist das letzte Motiv aller Sokratik, aus vertiefter Einsicht in das Wesen der immer neu durch bewußte Tätigkeit des Einzelnen sich verwirklichenden πόλις δικαιοσύνη jenes alte Ideal des Zusammenfalles von Ideal und Wirklichkeit neu zu verstehen und zu bewahren. Je einfacher der Sokratiker dachte, desto mehr mußte er schließlich in der bloßen Loyalität dem ωόμος πόλεως gegenüber die Norm sehen – umgekehrt lernen wir erst allmählich den historischen Grund so mancher ,Utopie‘ Platons verstehen – und der Tod des S. scheint ja zunächst nichts anderes zu beweisen als die alte Bürgertugend: für die πόλις zu sterben, so wie sie wirklich ist. Daher erscheinen auch im Kriton die bestehenden Gesetze als eine letzte Norm, auch wo sie falsch angewendet werden. Beherrscht wird die Beweisführung bei Xenophon zunächst von dem Gedanken der ὁμόνοια, der tätigen, wissenden Gemeinschaft, die durch χάρις, gegenseitiges Wohltun, zusammengehalten wird (§ 16 ὁμόνοια μέγιστον ἀγαθὸν ταῖς πόλεσιν; viermal das Wort; § 17 χάρις. § 24 wirksamer Abschluß: ἀντεεὐεργετεῖν, ἀχαριστία. Bekanntlich spielen die ,Wohltaten‘. die S. von den die Gemeinschaft repräsentierenden Gesetzen der Stadt erfahren hat, auch im Kriton eine große Rolle). Die sonst für Xenophon selbstverständliche Gleichsetzung von νόμιμον und καλόν wird § 19 von S. selbst gestört durch die Einführung der ἄγραφοι νόμοι. Xenophon faßt diese Frage zunächt ganz empirisch an: gibt es überstaatliche Gesetze, die allenthalben νόμος sind? (Verbot der Blutschande u. dgl.). Natürlich muß er sofort Ausnahmen zugeben und zu einem inneren sachlichen Grunde, der z. B. die Blutschande verbietet, fortschreiten. Er greift dann den Gedanken der ὁμόνοια und χάρις nochmals zu dem Zwecke auf, um die innere Berechtigung der Gesetze aus dem Schaden zu erweisen, der aus der Gesetzesverletzung unmittelbar sich ergibt: der Ungerechte wird einsam, die Guten verlassen ihn. Und diese unmittelbare Wirkung auf das Gedeihen und Verderben des einzelnen, sie bedarf der Erklärung durch einen übermenschlichen Gesetzgeber. § 24: τὸ γὰρ τοὺς νόμους αὐτοὺς τοῖς παραβαίνουσι τὰς τιμωρίας ἔχειν βελτίονος ἢ κατ’ ἄνθρωπον [855] νομοθέτου δοκεῖ μοι εἶναι. Damit ist nun umgekehrt der Gedankengang des vorigen Kapitels hergestellt. Wir begreifen, warum Xenophon das Hippiasgespräch gerade an dieser Stelle einschob und es scheinbar die Reihe der Euthydemosgespräche sprengen ließ. Es ist wieder die eigentümliche religiöse Grundlage der πόλις, die Xenophon wie ein hierauf besonders abgestimmter Resonator aus dem Gesamtklang somatischen Denkens heraushebt. Wir wissen freilich, daß es darauf ankommt, hiermit den λόγος zu verbinden, den Ausdruck des freien, sich selbst bestimmenden, im Denken den Sinn alles Wirklichen begreifenden und aus dem Denken gestaltenden Geistes. Wir haben aber gesehen, daß auch für S. ein utopisches Sichherausstellen aus der bestehenden Gemeinschaft nicht in Frage kam und seiner Meinung nach nicht nötig war, um doch die Gerechtigkeit, das Gerechte selbst, die πόλις selbst konkret zu verwirklichen. Niemand kann diesen sokratischen Gedanken der inneren Beziehung der ἄγραφοι νόμοι zum νόμος πόλεως besser ausdrücken, als es Platon getan hat (Staat 592 b): Ἀλλ’ ἐν οὐρανῷ ἴσως παράδειγμα τῷ βουλομένῳ ὁρᾶν καὶ ὁρῶντι ἑαυτὸν κατοικίζειν. διαφέρει δὲ οὐδὲν εἴτε που ἔστιν εἴτε ἔσται· τὰ γὰρ ταύτης μόνης ἂν πράξειεν, ἄλλης δὲ οὐδεμιᾶς. Den Gedanken der ewigen, immanenten Reform, d. h. einer in jedem Augenblick tätig zu bewirkenden Erbauung der Gemeinschaft aus dem inneren λόγος, der das παράδειγμα des δίκαιον, des νόμος in sich trägt, diesen Gedanken biegt Xepophon einfach dahin um: in dem wirklichen Staate sind göttliche Kräfte im Spiele, die den Bestand der πόλις garantieren. Aber er geht in der ihm eigentümlichen Naivität noch einen Schritt weiter, er findet im Kern der bestehenden νόμοι einen ewigen, ungeschriebenen Gehalt, und er sieht auch ganz deutlich, daß S. diesen Gehalt mit dem λόγος, dem verstehbaren Zusammenhange in Beziehung setzt. Daß er die Verstehbarkeit, den Sinn des νόμος auf den Nutzen gründet, den die Gemeinschaft und ὁμόνοια für den Einzelnen hat, erscheint in seiner Sprache platt und einfach. Man vergesse aber nicht, daß auch in der platonischen Darstellung des S. das ὠφέλιμον und χρήσιμον eine sehr große und in ihrer Wirkung auf den Leser zunächst ganz ähnliche Rolle spielt. Man ist auch bei Platon häufig überrascht über die Einfachheit des Gedankenganges; hochpathetische Ankündigung der Idee des Guten; ihre Bedeutung: durch sie wird alles ,nützlich‘, Staat VI 505 a: ᾗ δὴ καὶ δίκαια καὶ τἆλλα προσχρησάμενα χρήσιμα καὶ ὠφςλιμα γίγνεται; ohne das Gute οὐδὲν ἡμῖν ὄφελος. Nun fehlt freilich bei Xenophon bis jetzt die Verknüpfung jener αὐτὴ ἡ πόλις, mit seinen Worten: der ἄγραφοι νόμοι, mit der sich im Denken frei bestimmenden Vernunft. Wieder stellen die nächsten Kapitel roh und unfertig die beiden fehlenden Gedanken nebeneinander. C. 5 handelt von der Freiheit und leitet bereits über zu dem im 6. Kapitel ausführlicher behandelten methodischen Verfahren des S., zu seiner Dialektik und seiner Wesenslehre.

C. 5 führt den Nachweis, daß S. die Freunde πρακτικωτέρους machte, in einem Dialog [856] περὶ ἐγκρατείας; wieder zuerst das übliche Schema, durch vorbildliches Beispiel und durch Dialektik, διαλεγόμενος. Aus den vielen Gesprächen des S. über dieses Thema (vgl. v. Arnim 154ff.) greift Xenophon eines mit Euthydem heraus; der Zusammenhang des Gesprächsrahmens ist nach der Hippiasepisode wieder hergestellt.

Der Gedankengang sei so knapp wie möglich skizziert. Die Freiheit besteht in der Fähigkeit τὰ βέλστιστα πράττειν, ungehindert von äußeren und inneren Feinden; zu diesen gehören die ἡδοναὶ τοῦ σώματος, von denen der ἐγκρατής sich frei macht. Das größte Hindernis für das höchste Gut, die σοφία (§ 6) ist die ἀκρασία, die den Menschen sogar noch zur schlechten Entscheidung bringen kann, wenn er bereits das Gute und Böse ,gemerkt‘ hat. Die volle Erkenntnis schützt offenbar vor dem Rückfall, daher hier αἰσθάνεσθαι: καὶ πολλάκις αἰσθανομένους τῶν ἀγαθῶν τε καὶ τῶν κακῶν ἐκπλξασα ποιεῖν τὸ χεῖρον ἀντὶ τοῦ βελτίονος αἱρεῖσθαι (bezeichnenderweise wird gerade im Gegensatz zur ἀκρασία die σοφία der σωφροσύνη) gleichgesetzt; man versteht gerade aus dieser Stelle, wie σωφροσύνη zu der allgemeinen Bedeutung, die wir oben festgestellt haben, kommen und zu einer wesentlichen Voraussetzung der Einheit der ἀρεταί werden kann). Im § 9 wird ein neues Motiv eingeführt, das, offenbar bei S. selbst schon wirksam, für die Sokratik von größter Bedeutung werden sollte: diese σωφροσύνη = σοφία verschafft auch höchste Lust, sie erzeugt das ἥδεσθαι ἀξίως μνήμης (über die philosophische Bedeutung des Lustmotivs vgl. den Art. Kyrenaiker; zu der dort behandelten μετητικὴ τῶν ἡδέων ist aus § 10 unserer Stelle hinzuzufügen: σπουδάζειν περὶ τὰς ἐγυτάτω ἡδονάς). Mit dieser Wendung zur ἡδονή verknüpft sich nun aufs engste das ὠφέλιμον-Motiv, wie wir es eben entwickelt hatten; der natürliche Vorteil, den Gemeinschaft und Verständigung auf Grund der ἐπιστήμη und des ,Lernens‘ des Schönen und Guten bietet, ist natürlich auch von höchster und reinster Lust begleitet; die Stelle sei wegen der deutlichen Anknüpfung an das πόλις- und ἐπιστήμη–Motiv hierher gesetzt, § 10: Ἀλλὰ μὴν τοῦ [μαθεῖν τι καλὸν καὶ ἀγαθὸν καὶ τοῦἐπιμεληθῆναι τῶν τοιούτων τινός, δι’ ὧν ἄν τις καὶ τὸ ἑαυτοῦ σῶμα καλῶς διοικήσειε καὶ τὸν ἑαυτοῦ οἶκον καλῶς οἰκονομήσειε καὶ φίλοις καὶ πόλει ὠφέλιμος γένοιτο καὶ ἐχθροὺς κρατήσειεν, ἀφ’ ὧν οὐ μόνον ὠφέλειαι, ἀλλὰ καὶ ἡδοναὶ μέγισται γίγνονται, οἱ μὲν ἐγκρατεῖς ἀπολαύουσι πράττοντες αὐτά, οἱ δ’ ἀκρατεῖς οὐδενὸς μετέχουσι. Das Motiv des μαθεῖν, also des λόγος als gemeinschaftsbildenden Verständigungsmittels, erfährt nun im Übergang zum 6. Kapitel in der eingehendsten Schilderung der sokratischen Dialektik, die Xenophon je gibt, seine notwendige Bestimmung. Bei der grundlegenden Wichtigkeit, die diese Paragraphen neuerdings gewonnen haben, müssen sie ganz hierhergesetzt werden. Τί γὰρ διαφέρει . . . ἄνθρωπος ἀκρατὴς θηρίου τοῦ ἀμαθεστάτου; ὅστις γὰρ τὰ μὲν κράτιστα μὴ σκοπεῖ, τὰ ἥδιστα δ’ ἐκ παντὸς τρόπου ζητεῖ ποιεῖν, τί ἂν διαφέροι τῶν ἀφρονεστάτων βοσκημάτων; ἀλλὰ τοῖς ἐγκρατέσι μόνοις ἔξεστι σκοπεῖν τὰ κράτιστα τῶν πραγμάτων, καὶ λόγῳ καὶ ἔργῳ διαλέγοντας καὶ τὰ γένη τὰ μὲν ἀγαθά προαιρεῖσθαι, τῶν δὲ κακῶν [857] ἀπέχεσθαι. ⟨καὶ οὕτως ἔφη ἀρίστους τε καὶ εὐδαιμονεστάτους ἄνδρας γίγνεσθαι καὶ διαλέγεσθαι δυνατωτάτους⟩ ἔφη δὲ καὶ τὸ διαλέγεσθαι ὀνομασθῆναι ἐκ τοῦ συνιόντας κοινῇ βουλεύεσθαι διαλέγοντας κατὰ γένη τὰ πράγματα (zur Textgestaltung vgl. T. Arnim p. 142, der die in spitzige Klammer gesetzten Worte als Dublette zu den folgenden ausscheidet). δεῖν οὖν πειρᾶσθαι ὅτι μάλιστα πρὸς τοῦτο ἑαυτὸν ἕτοιμον παρασκευάζειν καὶ τοῦτο μάλιστα ἐπιμελεῖσθαι. ἐκ τούτου γὰρ γγνεσθαι ἄνδρας ἀρίστους τε καὶ ἡγεμονικωτάτους καὶ διαλκτικωτάτους. Der Mensch, der sich mit Lust zu seinesgleichen fügt, sich seinen Mitmenschen verständlich machen kann, er ist gerade durch die Fähigkeit κατὰ γένη διαλέγειν vom Tier unterschieden, und diese Fähigkeit an den höchsten Gegenständen zu üben ist natürlich dem sich selbst beherrschenden, aus der Herrschaft tierischer Lust sich befreienden Menschentypus beschieden, den das ganze Kapitel über die ἐγκράτεια schildert. Unterscheiden, δια–λέγειν, auseinander halten, Dinge nicht verschieben, sie in ihrem Bedeutungsgehalt als mit sich identisch festhalten, alles was wir S. 821ff. als die Grundfunktion des mit dem gesprochenen Wort noch unlöslich verknüpften somatischen λόγος entwickelt haben, das findet sich hier bei Xenophon bezeugt. Daß dieses διαλέγειν zunächst als Sprechen, λέγειν, im prägnanten, griechischen Sinne des ,etwas Meinens‘ hier gefaßt wird, mit dem Hinblick auf das ,Ding selbst‘, das hinter der Sprache steht, das ergibt zunächst die Einführung dieser Fähigkeit als des Unterschiedes des Menschen vom Tiere. Die Verständigungsfunktion des sinnvollen Wortes wird im nächsten Paragraphen durch die wörtliche Bedeutung des διαλέγεσθαι bezeichnet; wie immer bezeichnet auch hier das Medium eine durch Wirkung und Gegenwirkung im Übergang zu dem Anderen erhöhte, bewußter gewordene, lebendiger gefühlte Aktivität (Stenzel Über den Einfluß der griechischen Sprache auf die philosophische Begriffsbild., N. Jahrb. 1921, 152ff.; Aber das Medium 158ff.; über Sokr. 161; über den platonischen Dialog 161, 1 ein Humboldtzitat, W. IV 434). Die tätige Seite des somatischen λόγος, über die oben ausführlich gehandelt ist, kommt dadurch zum Ausdruck, daß die ,Unterscheidung‘ ausdrücklich als διαλέγειν καὶ λόγῳ καὶ ἔργῳ bezeichnet, und aus dieser allgemeinen Fähigkeit sofort die besondere abgeleitet wird, zwischen Gutem und Schlechtem die richtige Wahl zu treffen. Ehe die große Kontroverse erörtert werden kann, die sich an diese Stelle geknüpft hat, soll noch ihr Sinn aus dem nächsten, sich unmittelbar anschließenden Kapitel gedeutet werden.

Zur weiteren Bestätigung seiner These, daß S. die Jünger ,dialektischer‘ mache, behandelt Xenophon, ähnlich wie I 1. 16 die ,Begriffsbestimmungen‘ des S., und zwar erst allgemein und dann in Beispielen. Der ursprüngliche, den λόγος noch ganz als Sprache fassende Sinn des διαλέγεσθαι, tritt aufs stärkste hervor: Σωκράτης γὰρ τοὺς μὲν εἰδότας, τί ἕκαστον εἴη τῶν ὄντων, ἐνόμιζε καὶ τοῖς ἄλλοις ἂν ἐξηγεῖσθαι δύνασθαι. τοὺς δὲ μὴ εἰδότας οὐδὲν ἔφη θαυμαστὸν εἶναι αὐτούς τε σφάλλεσθαι καὶ ἄλλους σφάλλειν. ὧν ἕνεκα σκοπῶν σὺν τοῖς συνοῦσι, τί ἕκαστον εἴη τῶν ὄντων, οὐδέποτ’ ἔληγεν. πάντα μὲν [858] οὖν ᾗ διωρίζετο, πολὺ ἔργον ἄν εἴη διεξελθεῖν· ἐν ὅσοις δὲ τὸν τρόπον τῆς ἐπισκέψεως δηλώσειν οἶμαι, τοσαῦτα λέξω. Die nun folgenden ,Definitionen‘ könnten der oben S. 822 aufgestellten These zu widersprechen scheinen, daß nicht die Wortdefinition, nicht die formelhafte Umschreibung das Ziel sokratischer Dialektik ist, sondern daß der immanente Sinngehalt der Worte im einfachen Verständigungsprozeß ans Licht treten soll. Bei näherem Zusehen bestätigen die ,Definitionen‘, die hier Xenophon anführt, nur diesen, freilich Xenophon selbst kaum ganz klaren Sinn des sokratischen τί ἐστιν. Wenn nach einigen Fragen schließlich zustande kommt: ὁ ἄρα τὰ περὶ τοὺς θεοὺς νόμιμα εἰδὼς ὀρθῶς ἂν ἡμῖν εὐσεβὴς ὡρισμένος εἴη, so sieht man deutlich, daß wieder die νόμιμα definiert werden müßten, wenn ein Mißverständnis ausgeschlossen bleiben sollte usw., kurz, daß derselbe Sachverhalt vorliegt, wie in den platonischen Dialogen, wo auch an sich ganz brauchbare Definitionen zustande kommen, die doch nicht hindern, daß am Schluß alles als noch ungeklärt bezeichnet wird. Diese Definitionen sind eben ὑποθέσεις, Ruhepunkte im Fortschritt des Denkens und Sprechens, die immer über sich hinausweisen und -treiben bis zu einem höheren Bereiche. Xenophon kennt diesen höheren Bereich: es ist derjenige, aus dem die Energie des Handelns und der Selbstbestimmung im λόγος entspringt, sonst könnte er nicht von ἔργῳ καὶ λόγῳ διαλέγειν sprechen. Aber in der theoretischen Begründung und Durchdringung dieses λόγος ist er nie weiter fortgeschritten als zu den uns bekannten Bestandstücken des τί ἐστιν, διαλέγειν κατὰ γένη, διαλέγεσθαι, zu denen in den nun folgenden Kapiteln noch das εἰδώς in mannigfachen Abwandlungen kommt. Daß in dem ,wissend handeln‘ das Geheimnis der sokratischen Lehre vom ἔργῳ καὶ λόγῳ διαλέγεσθαι liegt, das hat er dunkel gesehen, aber in dem Bestreben, nur ja den wissenden S. – im 7. Kapitel hebt er ja die mathematischen, astronomischen Kenntnisse des S. hervor – und nicht bloß den verwirrenden S. zu schildern, hat er, seiner ganzen Tendenz getreu, die positiven Lehren des Meisters mitzuteilen, sich an die – vielleicht wirklich einmal vorläufig von S. gegebenen – Definitionen gehalten, von denen er nun eine Musterkarte mitteilt, darunter die ganz unzulängliche des Guten (§ 8) und Schönen (§ 9). Dabei hat er in den § 13 und 14 das von ὁμολογούμενον zu ὁμολούμενον fortschreitende, aus jedem platonischen S.-Dialog bekannte Verfahren ganz gut geschildert; er nennt es τὸν λόγον ἐπὶ ὑπόθεσιν ἐπανάγειν und erläutert es so: wenn einer sich für einen besseren Bürger oder tapfereren Mann bezeichnete, so ließ S. die Grundbegriffe untersuchen, die dem Meinen des anderen zugrunde liegen, die er voraussetzte bei seiner Behauptung; dieser Sinn des ὑποτίθεσθαι oft bei Platon, z. B. Euthyphron 9 a. Die ὑπόθεσις des ,besseren Bürgers‘, des πολιτικώτερος, ist die πόλις, die nun untersucht wird, und daß S. sich nicht begnügte, wenn ihm jemand mit einer Formel, selbst mit der von ihm, S. selbst, vielleicht einmal gebrauchten, ins Gesicht sprang, lehrt eben das Folgende. S. geht von einem zugestandenen Begriff zum anderen weiter, und so [859] überzeugt er alle, Gegner und Freunde; der Unterschied, den S. zwischen der Elenktik und Dialektik machen will (Anfang § 15), ist sachlich unerheblich.

Die große Kontroverse über diese Dialektik des xenophontischen S., die H. Maier entfesselt hat, kann nach dem, was hier über ihre Beziehungen zur lebendigen Sprache wiederholt gesagt werden konnte, und nach dem, was W. Jaeger in der bereits erwähnten Anzeige von H. Maiers Werk (DLZ 1915, 383ff.), und neuerdings v. Arnim (208ff.) gegen Maier gesagt haben, kürzer behandelt werden. H. Maier (58ff.) hält diese Stelle für völlig abhängig von Platon Phaidr. 262 a. b, Sophistes 253 d, Politikos 285 d; ,Xenophon ist in diesen Schriften zu Hause‘ (61). Aristoteles ist wieder von Xenophon abhängig, Maier 77ff.; ,damit sind alle Zeugnisse für eine „Begriffsphilosophie" des S. hinfällig‘.

Wieder einmal hat der Phaidros und die mit ihm zusammenhängenden, in ihm besonders greifbaren Interpretationsschwierigkeiten der sog. platonischen Entwicklung auf ein anderes Gebiet übergegriffen und Verwirrung gestiftet; deshalb muß ganz kurz schon hier auf Platon ein Blick geworfen werden, zumal da auch mir die Übereinstimmung dieser Xenophonworte mit dem Phaidros, freilich mit einer anderen Stelle und in anderem Sinne als bei H. Maier, die Entscheidung über das Wesen sokratischer Dialektik bedeutet.

Die Frage, ob der Phaidros früher oder später, vor oder nach dem Staat, abgefaßt ist, darf nicht in der üblichen Weise entschieden werden, daß man die Entscheidung so oder so – heutzutage wohl meist im Sinne der späten Abfassung – fällt und dann sich bemüht, die gegnerischen Ansichten und Gründe als ,unverständlich‘ und abwegig zu kennzeichnen. Schleiermacher und Usener hatten schon ihre guten Gründe für ihre Ansicht, und auch Natorp für seinen Mittelweg; die Verzweiflungsauskunft der doppelten Bearbeitung (O. Immisch Neue Jahrb. 1915, 553, wo frühere Vertreter dieser Ansicht genannt sind), so wenig ich mich ihr anschließen kann, scheint mir doch symptomatisch für gewisse stilistische Eigentümlichkeiten des Phaidros, die irgendwie interpretiert werden müssen. Ich muß mich hier auf eine kurze Skizze derjenigen Ansichten beschränken, die ich in der Abhandlung ,über den Zusammenhang des Dichterischen und Religiösen‘ bei Platon, Schles. Jahrb. 1924, 143, sowie in meinen beiden Büchern Studien zur Entw. d. plat. Dialektik von Sokrat. zu Aristoteles, Breslau 1917, Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, Leipzig 1924 genauer begründet habe. In der Abhandlung ,Zur Logik des Sokrates‘ (Jahresber. d. Schles. Gesellsch. f. vaterländ. Kultur 1916) habe ich bereits für die ,archaische Logik‘ des S. einige Folgerungen aus der Entwicklung der platonischen Dialektik gezogen und den Wert der Auffassung H. Maiers von der sokratischen ,Begriffsphilosophie‘, der von seiner Quellenanalyse unabhängig ist, hervorgehoben; zu dieser Frage weiteres in dem Artikel Logik; zur Logik des S. auch Antike I 264. Die Entwicklung Platons verläuft in gewissem Sinne umgekehrt, als man gelegentlich annehmen [860] wollte; anstatt daß Umdeutungen, Fortentwicklung, Kritik früherer, vorsokratischer Probleme am Anfang seiner Entwicklung greifbar sind, finden wir ihn umgekehrt, je selbständiger er allen historischen Größen gegenübersteht, immer ,historischer‘ werden, wir sehen ihn immer mehr sich in die Geschichte des griechischen Geistes vertiefen und in seine Gedanken die der Vorzeit einschmelzen, je weiter er sich von S. zeitlich entfernt. Es ist also nicht verwunderlich, daß er auch an demjenigen Phänomen, dem er zunächst in einfacher Darstellung und μίμησις sich hingegeben hatte, seine bewußtere Deutungsweise der Vergangenheit einmal geübt hat, an S. Das Zeugnis dieser von einer ebenso großen Liebe wie Tiefe des Verständnisses zeugenden Auseinandersetzung mit dem großen Lehrer ist der Phaidros; dessen inneres philosophisches Formproblem ist die bewußte Umdeutung der sokratischen Haltung in die platonische Dialektik, wie sie inzwischen sich entwickelt hatte. Von diesen höchst vielseitigen Beziehungen soll hier im Hinblick auf die zu behandelnde Xenophonstelle nur eine Seite herausgegriffen werden. Platon entdeckt erst in seinem Alter eine logische Methode der Definition, die dem immanenten Hindernis alles Definierens (Zahl und Gestalt S. 117), daß man zu immer weiterem Portschreiten in der Bestimmung der bisherigen Bestimmungsstücke gedrängt wurde, durch das zum ἄτομον εἶδος führende Teilungsverfahren Rechnung trägt. Die Beziehung der Begriffsbestimmung auf das ἀδιαίρετον, ἄτομον εἶδος ist der springende Punkt für die Dialektik des Phaidros, Sophistes, Politikos. Wäre Xenophon in diesen Dialogen ,zu Hause‘ gewesen, hätte er dies bemerken müssen; von dieser charakteristischen Note steht aber nicht die geringste Andeutung bei Xenophon. Dabei ist es klar, daß gerade für Xenophon, der endgültige Definitionen sucht, erst dieser Abschluß der diäretischen Definitionsmethode eine Antwort auf die definitorische Frage gibt, die auch S. gestellt, aber in einer anderen Weise, wie wir sahen, noch innerhalb der sprachgebundenen Bedeutungssphäre im Sinne des archaischen λόγος gelöst hat. Platon hat mit größter Kunst diese ihm eigentümliche Erfüllung der sokratischen Forderung, das Motiv des ἄτομον εἶδος, zwischen die echten Züge des sokratischen λόγος gemischt, und durch eine klüglich berechnete Skala aller Phasen, die die sokratische Fragestellung bei ihm durchlaufen hatte, einen fließenden Problemzusammenhang herzustellen gewußt und sich demjenigen Ideal, das wir o. S. 836 bezeichnet haben, den sokratischen Typus nach allen Seiten gleichmäßig weiterzutreiben, in keinem Dialoge so genähert wie im Phaidros. Und so finden wir denn in der Tat alle die Züge des im platonischen Phaidros dargestellten S. bei Xenophon wieder – bis auf das eine unsokratische des ἄτομον εἶδος, das allein eine Benützung Platons durch Xenophon und damit die historische Unbrauchbarkeit der Memorabilien an dieser Stelle erweisen könnte. Tatsächlich ist aber auf die Teilung eines Begriffes in mehrere andere, auf die in jener Periode platonischer Dialektik alles ankommt, bei Xenophon auch nicht mit der leisesten Andeutung hingewiesen; es ist lediglich der gemeingriechische [861] Sinn von διαιρεῖν (disserere, auseinandersetzen! s. u. S. 863) hier im Zusammenhang mit διαλέγεσθαι benützt, um das Festhalten einer Bedeutung im Gegensatz zu einer anderen zu bezeichnen. Es ist also genau die anfangs geschilderte, noch unmittelbar mit der Sprache verbundene ,Logik‘, als Lehre vom λέγειν. Da es also bei Xenophon auf das Teilen eines Begriffes in Unterarten u. dgl. nicht im geringsten ankommt, sondern nur auf die ,Feststellung‘ eines τί ἐστιν, wie ja die unmittelbare Fortsetzung lehrt, so darf die xenophontische Stelle eher mit einer anderen des Phaidros verglichen werden, mit jener vielbehandelten Stelle im großen Mythos 249 b. Im Zusammenhange der Seelenwanderung wird der Unterschied zwischen Mensch und Tier bestimmt; es ist also schon die gedankliche Umgebung ganz ähnlich wie bei Xenophon; dort handelt es sich auch um die Überwindung des tierischen Lebens in der ἐγκράτεια, σοφία und σωφροσύνη. Die letztere spielt bekanntlich im Phaidros eine eigentümliche Rolle; wäre nicht Xenophon sichtlich der Vertreter weitverbreiteter Ansichten, so könnte man fast glauben, Platon meinte mit seiner zornigen Verurteilung der bürgerlichen σωφροσύνη Xenophon; doch dazu ist alles zu allgemein. Das Wesen des Menschen wird Phaidros 248 b so bestimmt: δεῖ γὰρ ἄνθρωπον συνιέναι κατ’ εῖδος λεγόμενον, ἐκ πολλῶν ἰὸν αἰσθήσεων εἰς ἓν λογισμῷ συναιρούμενον. Die Fortsetzung, der Bezug dieser Tätigkeit auf die ἀνάμνησις, wird uns später beschäftigen, sie spielt hier keine Rolle; es wird zunächst nur das ξυνιέναι τὰ λεγόμενα bezeichnet, wie Xen. Apol. 16 (s. o. S. 821). Nun ist durch Theophr. d. sens. 25 Diels 14 B 1 a, überliefert, daß der pythagoreische Arzt Alkmaion von Kroton, dem bei seinen anatomischen Studien derartige Reflexionen recht wohl zuzutrauen sind, den Unterschied zwischen Mensch und Tier ganz genau so erklärt hat: ἄνθρωπον γάρ φηςι τῶν ἄλλων διαφέρειν ὅτι μόνον ξυνίησι, τὰ δ’ ἄλλα αἰσθάνεται μέν, οὐ ξυνίησι δέ. Daß Platon statt γένος εἶδος setzt, ist bei seinem Sprachgebrauch (vgl. C. Ritter Neue Untersuchungen zu Platon 228ff.) nicht verwunderlich. Nun haben wir ja dieselbe sensualistische Abstraktionstheorie, die wir auch im Phaidon 96 b mit deutlichem Anklang an Alkmaion (ἐγκέφαλος!) lesen, an der oben behandelten Stelle der Memorabilien IV 3. 11 ganz genau wiedergefunden. W. Jaeger hat DLZ 1915, 386 mit vollem Rechte auf das hübsche ἔτυμον hingewiesen, durch das S. bei Xenophon eine so schöne Ableitung des διαλέγεσθαι aus der logischen Grundfunktion des sondernden Verstandes ermöglicht; διαλέγειν im Aktivum ist sonst ungebräuchlich. Mit gewissem Recht sagt also W. Jaeger: ,Vergleicht Maier daher mit dieser etymologischen Pointe Xenophons das farblos-gewöhnliche κατὰ γένη διαιρεῖσθαι in Soph. 253 d, so könnte rein methodisch der philologische Schluß nur auf Abhängigkeit Platons von Xenophon lauten: das stilistisch pointierte ἅπαξ εἰρημένον der xenophontischen Wortdefinition scheint auf keinen Fall aus Platons Sachdefinition geschöpft, der es meines Wissens nicht kennt‘. Nun hat sich inzwischen das platonische διαιρεῖσθαι als eine von anderer Seite her angeregte logisch-technische Methode des [862] späteren Platon herausgestellt, die freilich zu der Fragestellung des S. durch ihre Bedeutung für das Definitionsproblem eine gewisse Beziehung hat. Von der Gesamttendenz des Phaidros aus gesehen stellt sich nun der Zusammenhang so dar: Platon sah in der ganz allgemeinen, von S. vielleicht geschärften Fassung des ,Sonderns‘ im λόγος, des: ,Auseinandersetzens‘ der Bedeutungen, ,Sichauseinandersetzens‘ mit anderen in der Verständignng und so seines διαλεγεῖν sich Bewußtwerdens – dies der Sinn des Mediums - eine Vorform seiner technischen diäretischen Definitionsmethode. Deshalb – und nur von dieser Voraussetzung aus ist sein Schritt begreiflich – konnte er es wagen, S. mit einem für die Platondeutung schwierigen Raffinement sogar mit seiner Lehre vom ἄτομον εἶδος, d. h. mit seiner διαίρεσις-Methode in Beziehung zu setzen, wobei er diese Methode, wie wir gleich sehen werden, mit anderen somatischen Motiven verband und so das Unsokratische verdeckte. Somit ist also, etwas anders als Jaeger damals schloß, in der Tat der Phaidros ein Beweis dafür, daß Auffassungen über διαλέγειν und διαλέγεσθαι, wie sie Xenophon hier berichtet, tatsächlich als sokratische Platon bekannt waren; wobei alle Möglichkeiten offenbleiben, auf welche Zeugnisse er sich hierbei neben der eigenen Erinnerung vielleicht gestützt haben mag. Daß Xenophon umgekehrt aus dem in allen Farben auch hier schillernden Bilde des platonischen Phaidros die echten sokratischen Züge und jene etymologische Pointe gewonnen haben könnte, erscheint mir psychologisch und sachlich unmöglich. Denn der Phaidros hat gerade den wichtigsten Zusammenhang des sokratischen λόγος, nämlich den mit der Sprache, mit voller Absicht zunächst zurücktreten lassen, um ihn freilich im zweiten Teile als Theorie des wirklichen πείθειν im größten Ausmaß wieder herzustellen. Nur durch die Beziehung auf den λόγος des S., auf das Gemeinschafts- und Verständigungsproblem im weitesten Sinne, das Lehre und Politik umspannt, erklärt sich ja die Behandlung der Rhetorik im zweiten Teil dieses am meisten synthetischen Dialoges, der sich die Vereinigung des früher von Platon selbst für unvereinbar Gehaltenen auf jedem Gebiete zum Ziele setzt. (Diese vorläufige Antwort auf die Frage v. Arnims Gnomon I 73). Vielleicht ist Platon sich darüber ganz klar gewesen, daß der ihn den ganzen Phaidros hindurch beschäftigende innere Widerspruch gesteigerter Geistigkeit, der ja allein die Disposition des Ganzen erklärt (Antike I 270), bereits im Logos, im δια–λέγεσθαι liegt; vielleicht ist ihm bereits im Phaidros an dem Sinn des λογίζεσθαι = rechnen die paradeigmatische Paradoxie des Zählens für den λόγος-Begriff überhaupt klar gewesen: Zählen heißt trennen, um vereinigen (,συνιέναι‘) zu können; λέγειν ,sammeln‘ blieb ja im Bewußtsein der Sprache durch συλλέγω usw. ganz lebendig; δια–λέγειν als Paradoxon wäre des S. würdig. Platon hat diese ursprüngliche sokratische Dialektik für den Wissenden – an den sich der Phaidros mehr als alle anderen Dialoge wendet – deutlich unter seiner eigenen bewußteren Logik hervorschimmern lassen, 265 d: εἰς μίαν τε ἰδέαν συνορῶντα ἄγειν τὰ πολλαχῇ διεσπαρμένα, ἵνα ἕκαστον ὁριζόμενος [863] δῆλον ποιῇ περὶ οὗ ἂν ἀεὶ διδάσκειν ἐθέλῃ . . . τὸ πάλιν κατ’ εἴδη δύνασθαι διατέμνειν κατ’ ἄρθρα ᾗ πέφυκεν usw. Den einfachen somatischen, von er platonischen διαίρεσις noch ganz freien (vgl. Studien 49), Sinn der Dialektik bezeichnen Stellen des Staates wie die 454 a: δοκοῦσι μοι εἰς αὐτὴν (sc. τὴν ἀντιλογισκήν) καὶ ἄκοντες πολλοὶ ἐμπίπτειν καὶ οἴεσθαι οὐκ ἐρίζειν ἀλλὰ διαλέγεσθαι, διὰ τὸ μὴ δύνασθαι κατ’ εἴδη διαιρούμενοι τὸ λεγόμενον ἐπισκοπεῖν, ἀλλὰ κατ’ αὐτὸ τὸ ὄνομα διώκειν τοῦ λεχθέντος τὴν ἐναντίωσιν, ἔριδι οὐ διαλέκτῳ πρὸς ἀλλήλους χρώμενοι. Hier ist die Wurzel der sokratischen Dialektik in der Sprache ebenso deutlich wie die allmählich bei Platon zu eigentümlichen Konsequenzen führende Loslösung der ,reinen Bedeutung‘ von dem Wort; wie dazu der historische S. steht, ist o. S. 821 ff. gezeigt worden, διαιρεῖν ist in der logischen Bedeutung des ,Auseinandersetzens‘, des ,bestimmte Worte Gebrauchens‘, also im eigentlichen Sinne des λέγειν τι bei Herakleitos B 1 vielleicht noch etwas feierlicher Stil, bei Herodot und Thukydides aber sicher schon eine ganz gewöhnliche Wendung (Herodot. VII 16, 103. Thuk. V 25); dafür διαλέγειν zu sagen und so den Zusammenhang mit διαλέγεσθαι herzustellen, liegt also durchaus in der Richtung des griechischen Sprachgeistes. Offenbar ist διαιρεῖν für S. und Xenophon bereits eine abgebrauchte Wendung; sie erhält erst durch die platonische, an der Atomistik, wo dieses Wort eine Rolle spielt (vgl. Kranz Index s. v.), orientierten Diairesis einen besonderen technischen Sinn, von dem S. und Xenophon offenbar nichts wissen.

Zu denjenigen Zügen der im Phaidros gelehrten Dialektik, die nach allem, was wir sonst von S. wissen, durchaus zu seiner Lehre passen, die wir deshalb auch bei Xenophon finden, die also Platon aus seiner ganzen, oben angedeuteten Tendenz im Phaidros vorsichtig mit seiner neuen Dialektik in Einklang setzen muß, gehört die ,Unterscheidung‘, die Trennung von Gut und Böse. Sie, keine ,Logik‘, ist bei Xenophon an unserer Stelle der eigentliche Zweck der ganzen Begriffsbestimmung: διαλέγοντας κατὰ γένη τὰ μὲν ἀγαθὰ προαιρεῖσθαι, τῶν δὲ κακῶν ἀπέχεσθαι. Im Phaidros wird an der bereits angeführten Stelle 265 e die Teilung der Begriffe an der Unterscheidung eines linken schlechten und rechten guten Eros verdeutlicht. So klar vor allen durch das ἄτμητον, 277 b, aber auch hier durch die aus dem Sophistes, z. B. 264 e, und Politikos, 302 d, bekannte Bezeichnung des rechten und linken Weges beim dichotomischen Teilungsverfahren die Dialektik des Phaidros sich mit diesem spezifisch platonischen Gesichtspunkt vertraut zeigt, so gewiß ist diese Teilung von guten und schlechten Arten der ὁμώνυμα ein ursprünglich sokratisches Motiv; denn es ist der nächste und einfachste Zweck, den eine aufs Praktisch-Ethische gestellte, noch gar nicht theoretisch interessierte Begriffsbestimmung haben kann. Prüft man die Beispiele der Bedeutungsscheidungen des Prodikos, an den ja S. häufig anknüpft (H. Maier 374), die im Protagoras 337 a gegeben werden – übrigens heißt die Kunst des Prodikos Laches 197 d, Charmides 163 d ὀνόματα διαιρεῖν –, so sind es stets Unterscheidungen nach Gut und [864] Böse: ἀμφισβητεῖν - ἐρίζειν, εὐδοκιμεῖν - ἐπαινεῖσδαι, εὐφραίνεσθαι - ἥδεσθαι; bedeutungsgeschichtlich zum Teil falsch, die Absicht der Wertung aber ist unverkennbar. Die ,Definitionen‘ beweisen diese Absicht ganz deutlich (vgl. noch die Beispiele bei Alexander zur Topik B 6, 112 b 22 (bei Diels 77 A 19 mit dem richtigen Urteil: νομοθετούντων δέ ἐστι τοῦτο, ἀλλ’ οὐδὲν ὑγιὲς λεγόντων). Versetzt man sich in die Sphäre, aus der wir die sokratische Dialektik erklärt haben, so ist diese erste Absicht der Bedeutungsunterscheidung, des ὁρίζεσθαι, so natürlich wie möglich; und wir finden genug Beispiele in den platonischen Dialogen (Gorgias 488 d. 500 d. 517 d; zu 464 b folgende vgl. Artikel Logik S. 1007, wo die Stelle ausführlich behandelt ist). Von hier aus ist auch das ἔργῳ διαλέγειν τὰ γένη usw. verständlicher. Derjenige, der zwischen zwei Arten der Lust die richtige wählt, der unterscheidet die Dinge durch die Tat, ,er folgt dem Logos, der ihm bei der Überlegung der beste scheint‘, Plat. Kriton. 46 b; und von einer neuen Seite ist der praktisch tätige Sinn des sokratischen λόγος nun verständlicher geworden. Aber von diesem Punkte aus kann auch die ,Wesenslehreω des S., die Natur seines τί ἐστι, noch deutlicher in dem mannigfaltig vorbereiteten Sinne verstanden werden. Durch die innere Beziehung des διαιρεῖν zum προαιρεῖσθαι des Bessern ist die Verständigung und gegenseitige Belehrung über diese Wesensbegriffe unmittelbar staatserhaltend und gemeinschaftsbildend. Es ist ein Weg gefunden, auch die dialektische Bedeutung der platonischen Idee des Guten aus der sokratischen Wurzel zu begreifen, und damit die Lehre des S. rückläufig klarer zu fassen, die Lehre von der sieghaften Macht der Erkenntnis für alles ethische Handeln; denn in jeder richtig erkannten, sinnvollen ,Bedeutung‘, jedem τί ἐστιν realisiert sich dieselbe Kraft, die eine ,gute‘ Entscheidung des sich vernünftig bestimmenden Willens auslösen soll, die Kraft also, welche dem Leben des einzelnen und dem der Gemeinschaft ὠφελία und σωτηρία verschafft. Blicken wir noch einmal auf den Problemzusammenhang zurück, den wir S. 838f. in drei Teilbestände zerlegt haben, so hat sich uns nun gerade durch den letzten Gedankengang die bei S. vorauszusetzende innere Verknüpfung und Einheit der drei Dinge, Inneres und handelndes Selbst des Menschen, ,reine Bedeutung‘ des τί ἐστιν, Verständigungsgemeinschaft neu dargestellt. Aus welchen Gründen die negative Seite der sokratischen Dialektik bei Xenophon im Hintergrunde blieb, auch das hat sich aus seiner allgemeinen Haltung erklärt. Da seine ganze Tendenz darauf geht, die negative Seite der elenktischen Dialektik des S. durch die positive Förderung und Belehrung, die seine Freunde von ihm erfuhren, zu ergänzen, ja zu überdecken, so ist seine Darstellung gerade durch die deutlichen Spuren jenes Negativen wichtig als ein Beweis, daß keine Darstellung dieses Moment ganz verdrängen kann. Also sind wir auch nach der Betrachtung des xenophontischen S. berechtigt, die platonische Darstellung von dem Problem des Nichtwissens her gemäß den angegebenen Punkten zu untersuchen. [865]

IV. Die Quellen. Platon. Die frühplatonischen Schriften bedürfen nach H. Maiers, sich in erster Linie auf sie stützender Darstellung, keiner besonderen ausführlichen Behandlung; denn der entscheidende Punkt, an dem meines Erachtens diese umsichtige Darstellung ergänzt werden muß, ist bereits deutlich geworden, und von ihm aus ist alles gleichmäßig zu verrücken. Für Maier manifestiert sich in S. die Loslösung der Sittlichkeit vom Gesellschaftswillen und der religiösen Autorität (S. 320); für Maier ist sie vollzogen; hier sollte gezeigt werden, welche besonderen Formen diese Loslösung auf dem Grunde der religiös-politischen πόλις annehmen mußte – wobei sich der Sinn dieser Loslösung freilich wesentlich ändert. Für die griechische Lokalfarbe dieser Lösung war nun gerade das Bild des xenophontischen S. wichtig. Das Bild, das Xenophon von S. entwirft, wie es die Interpretation der Euthydemosdialoge ergeben hat, mußte bereits mannigfach aus den frühplatonischen Schriften und mit besonderen Vorbehalten auch aus dem Phaidros beleuchtet werden, und diese Ergänzung könnte natürlich sehr viel breiter ausgeführt werden. Nach dem entwickelten Plane greifen wir aber die Interpretation der platonischen Zeugnisse an einem Punkte an, an dem bereits eine weitere Entfernung von dem sokratischen Grunde erwogen werden muß. Von dem anderwärts geschilderten Linienzug der platonischen Entwicklung sei hier nur soviel vorausgeschickt, daß die Fragen nach einer ,Erfindung‘ der Ideenlehre, und nach dem Zeitpunkt, wann eine solche anzunehmen ist, falsch gestellte Probleme scheinen; das anfangs entwickelte Bild des S., sein Verhältnis zur Sprache und zur Gemeinschaft, enthielt bereits die Grundzüge einer Bedeutungslehre, aus der sich auch die ,Absonderung‘ des gemeinten Gegenstandes aus den Akten kollektiven und individuellen Meinens als ein für das antike gegenständliche Denken notwendiger Fortgang ergeben konnte, so wenig sie S. selbst als eine theoretische Metaphysik reiner Formen vollzogen hat. Aber auch Platons sog. Ideenlehre entspricht ursprünglich dieser Auffassung meines Erachtens nur in sehr engen Grenzen. Doch das soll die nun zu schildernde Auseinandersetzung zwischen Schüler und Meister ja gerade erst zeigen. (Zu der Frage der vorplatonischen Ideenlehre vgl. bes. die englische Forschung, deren sehr erwägenswerte Aufstellungen freilich durch eine vorsichtige Kritik der ältesten griechischen Mathematik nachgeprüft werden müssen; Taylor Varia Socratica, Oxford 1911. Burnet Anfänge d. Griech. Philosophie. Deutsche Ausgabe S. 280; die dort gegebene Phaidon-Interpretation stellt Probleme, deren Lösung freilich auch in anderer Richtung erfolgen könnte.) Hat eine solche Auseinandersetzung tatsächlich stattgefunden? Gibt es Stellen, Motive, Wendungen, aus denen hervorgeht, daß Platon zwischen sich und S. eine Grenze zieht? Ist diese Frage zu bejahen, so sind diese Stellen der gegebene Anknüpfungspunkt, um Platons Dialoge als Quellen für die S.-Lehre auszuwerten (ein erster Versuch nach dieser Richtung Stenzel Studien 123 = Bericht der Schles. Gesellschaft für vaterländ. Kultur 1916.) [866]

Wir wählen für den Ansatz der Untersuchung die klassische Schilderung des sokratischen ,lähmenden‘ Nichtwissens im Menon, sowie die entsprechende Schilderung im 1. Buch des Staates im Thrasymachos-Gespräche; dieses steht ja in irgendeinem Zusammenhange mit dem Kleitophon, in dem der mißvergnügte Schüler gerade zum Thrasymachos übergehen will.

Menon 80 a die bekannte νάρκη-Episode. S. repliziert: diese νάρκη lähmt sich selbst auch; also will er sein ,Nichtwissen‘ als ehrlich bezeichnen. Aber er will mit dem Menon, der jedenfalls jetzt nicht weiß, was die ἀρετή ist, gemeinsam forschen (also nur der einzelne ist unwissend, das συξητῆσαι, διαλέγεσθαι hilft weiter). Einwand des Menon ist der sophistische ἐριστικὸς λόγος: was man nicht weiß, kann man nicht suchen; was man weiß, braucht man nicht zu suchen. (Wir kennen dieses Motiv aus dem Schluß des Charmides 175 c τὸ ἀδύνατον εἶναι ἅ τις μὴ οἶδεν μηδαμῶς, ταῦτα εἰδέναι ἁμῶς γέ πως. Platon kennt also bereits im Charmides für diese sokratische Schwierigkeit, die er deshalb steigert, eine neue Lösung). S. hat von weisen Männern und Frauen περὶ τὰ θεῖα πράγματα einen wahren und schönen λόγος gehört 81 a: daß die Seele des Menschen unsterblich ist und immer wieder entstehe. Und S. selbst zieht daraus die weitere Folgerung, daß sie deshalb über reichere Erfahrungen verfügt, von früheren Einkörperungen her und aus den Zwischenzeiten ,im Hades‘; dort hat sie alles gesehen und gelernt, und kann sich erinnern an das, was sie früher wußte.

Bei der Verwandtschaft alles natürlichen (ἅτε τῆς φύσεως ἁπάσης συγγενοῦς οὔσης 81 e) kann die Seele, an eines erinnert, den ganzen Zusammenhang wieder zurückfinden, wenn sie tapfer ist und nicht ermüdet im Lernen. Denn das Forschen und Lernen ist gänzlich Erinnerung. Deshalb darf man dem eristischen λόγος nicht folgen, denn er macht die Menschen träge (ἀργούς); dieser λόγος der Anamnesis aber macht sie tätig und suchfreudig (ἐργατικούς τε καὶ ζητητικούς). Es folgt die mathematische Katechese des Burschen, die zeigt, daß dem Nichtwissenden richtige Vorstellungen,ἀληθεῖς δόξαι, von dem, was er nicht wußte, innewohnen (85 e); anders ausgedrückt, mit den Worten des Charmides: das was der Nichtwissende nicht weiß, weiß er zugleich auf irgendeine Weise; das Rätsel des Lernens ist demnach gelöst, durch Demonstration und durch die metaphysische Theorie der ἀνάμνησις.

Was hat diese Lehre von Unsterblichkeit, Präexistenz, Anamnesis mit S. zu tun? Platon hat allmählich mit vollem Bewußtsein als das eigentlich sokratische Problem das μανθάνειν aufgefaßt (vgl. etwa Phaidon 114 e: τὰς ἡδονὰς περὶ τὸ μανθάνειν σπουδάζειν), in dem er Wissen und Nichtwissen vereinigte, und er hat im ἔρως diesen ,Übergang‘ als das Wesen der menschlichen Seele entwickelt. S. und Platon haben das Lernen als einen wunderbaren geheimnisvollen Vorgang aufgefaßt, Platon hat diese Seite verstärkt. Daß mit dem μανθάνειν, das übrigens in der griechischen Sprache – wieder echt sokratisch – den Akt des Verstehens bezeichnet, aus dem das Lernen sich aufbaut, ein anderes, [867] über den einzelnen weit hinausreichendes Reich, ein geheimnisvolles Etwas in die Seele tritt und sie über sich hinaushebt, dieser Gedanke kann in sehr verschiedener metaphysischer Färbung gemeint und ausgedrückt werden; man lese in diesem Zusammenhang die höchst interessanten Bemerkungen Kierkegaards im Anfang der ,Philosophischen Brocken‘, Werke, dtsch. bei Diederichs VI 10ff, die sich mit diesem Problem und ausdrücklich mit S. beschäftigen (leider ist die Arbeit Kierkegaards über die Ironie des Sokrates deutschen Lesern immer noch nicht zugänglich). Daß Platon zur Verdeutlichung dieses Lernvorgangs Lehren heranzieht, die in dieser Form außerhalb des sokratischen Gedankenkreises lagen, ist heute die allgemeine Meinung.

W. Jaeger hat (Aristoteles 20ff.) sehr prägnant die Mächte bezeichnet, die in Platons Lehre zu der sokratischen φρόνησις hinzutraten. Diese charakterisiert er als wurzelnd, in dem von griechischer Wissenschaft und Philosophie bis dahin unentdeckten Bereich des absoluten sittlichen ,Normbewußtseins‘. Platon hat durch den ‚Dualismus des orphischen Seelenmythos, dem er nach seiner ganzen Lebensstimmung zuneigte und der in dem Nährboden des neuen, übersinnlichen Seinsbegriffs neue Wurzeln schlug‘ nach Jaeger auf ,die wissenschaftlichen Normalmenschen seiner Zeit‘ gewirkt wie ,ein Mischprodukt aus Poet, Tugendlehrer, Kritiker und Prophet‘. Aber S. hat auf die Zeitgenossen, und nicht nur die Normalmenschen, sondern auch auf Aristophanes und die Sokratiker einschließlich Platon wie ein θρέμμα ποίκιλον gewirkt, und die meines Erachtens für unseren Zusammenhang hier entscheidende Frage ist nicht die: was hat Platon Neues hinzugetan? sondern: welcher Zug, welche Absicht, welche Anlage in Sokrates gab ihm das objektive (oder mindestens subjektive Recht), einen Zug nach dieser oder jener Richtung zu verstärken, den Ansatz einer Linie zu verlängern. Jaeger lehnt dann weiter ,die Wohlweisheit‘ ab, die ,mit einer unzureichenden Vorstellung von der Kompliziertheit der Wege des Geistes Platon, den schöpferischsten Revolutionär des philosophischen Denkens aus der Geschichte der Wissenschaft streichen möchte, weil er nicht bloß neue Tatsachen und Ergebnisse vorgelegt, sondern völlig neue Dimensionen entdeckt hat‘. Zu dieser für alle Fragen der sokratischen Philosophie gleichmäßig berechtigten Warnung, Dinge durch Anlegen bequemer moderner Maßstäbe zu vereinfachen und zu verkümmern, sei nur noch hinzugefügt, daß alle die neuen ,Dimensionen‘ für Platon zwangsläufig bei seinem Bestreben μανθάνειν τὸν τοῦ Σωκράτους βίον aus dem noch nicht in faßbarer, ,abmeßbarer‘ Entfaltung wirkenden dynamischen Kern der sokratischen Persönlichkeit sich ergeben haben. Das gilt von dem Platonbilde, das nach der Verwertung des VII. Briefes heute bereits in deutlicheren Umrissen sichtbar zu werden beginnt, mit größerem Rechte als von dem, das eine Zeitlang die wissenschaftliche Meinung beherrschte, dem Bilde eines reinen Logikers und Erkenntnistheoretikers. Diese Phase der Platondeutung hat für die Erkenntnis des Platon und damit des S. Unverlierbares [868] geleistet, und niemand entzieht sich ungestraft dem Durchgange durch diesen Bereich der Forschung. Aber, um es für unsere Zwecke formuliert zu sagen: Platon blieb bis an sein Lebensende mehr als es scheint sokratisch in der Grundrichtung seiner παιδεία und φρόνησις die Jaeger (S. 22) als schöpferisches Wissen bezeichnet, indem er S. und den Platon des VII. Briefes ausdrücklich in Vergleich stellt, und zwar durch den Gedanken einer tätigen, im συζῆν ihre Aufgabe suchenden Gemeinschaft.

Damit sind wir an dem Quellpunkt der sokratischen Lehre wieder angelangt, an dem sie griechische Philosophie ist. Wem die hier gegebene Ableitung der sokratischen Persönlichkeit aus allgemein griechischen Zügen dem Recht der Individualität des S. nicht genug zu tun scheint, der sei darauf hingewissen, daß die Wirkung einer großen Persönlichkeit nur darin bestehen kann, von anderen Persönlichkeiten in sachliche, überpersönliche Dimensionen gegenständlich projiziert zu werden, wie es Platon mit S. tat. Daß diese Wirkung die stärkste Ausprägung volksmäßiger Eigenart in allen aufeinander wirkenden Personen als höchster Verständigungsgrundlage zur Voraussetzung hat, sei, verbreiteten Mißverständnissen der Ziele einer humanistischen, d. h. auf den ἄνθρωπος αὐτός gerichteten Betrachtungsweise gegenüber, ausdrücklich hervorgehoben. Während also die allgemeine Aufgabe der Platoninterpretation ist, die spezifisch hellenische Eigenart platonischen Denkens auch in seinen höchsten und allgemeinsten Leistungen zu erfassen, ist die unserer vorliegenden Aufgabe zugewandte Teilfrage die: sind die in dem sokratischen βίος bereits festgestellten spezifisch griechischen Züge auch in der Umbildung und Weiterführung Platons faßbar, oder werden sie vielleicht gar in dem Vergrößerungsσpiegel platonischen Denkens noch deutlicher sichtbar? Diese allgemeine Frage soll zunächst für die metaphysische Unterbauung des ,μανθάνειν‘ durch die ἀνάμνησις beantwortet werden.

An zwei Stellen des Menon läßt Platon den S. ausdrücklich innerhalb der dargestellten Lehren eine Grenze ziehen zwischen dem, was er für richtig und verbindlich hält und dem, worauf er nicht ,bestehen‘, was er nicht ,fest‘ stellen, festmachen könnte; διισχυρίζεσθαι ist hierfür an mehreren parallelen Stellen der platonische Ausdruck.

Die erste Stelle (86 b) schließt sich an die Katechese des Burschen an; S. hat zunächst 82 b –84 d eine voreilige falsche Meinung über die Verdoppelung des Quadrates durch Demonstration beseitigt; wie im Euthydemosgespräch die Elenktik durch Belehrung abgelöst wird, so hier, nur daß in dem maieutischen Motiv, in der Problematik des Lernens das Nichtwissen und Wissen durch viel engere Beziehungen überbrückt sind. So findet also der Knabe den mathematischen Satz aus sich heraus, freilich mit starker Hilfe des S., er hat sich ,erinnert‘. Οὐκοῦν εἰ ἀεἰ ἡ ἀλήθεια ἡμῖν τῶν ὄντων ἐστὶν ἐν τῇ ψυχῇ, ἀθάνατος ἂν ἡ ψυχὴ εἴη, ὥστε θαρροῦντα χρὴ ὃ μὴ τυγχάνεις ἐπιστάμενος νῦν–τοῦτο δ’ ἐστὶν ὃ μὴ μεμνημένος–ἐπιχειρεῖν ζητεῖν καὶ ἀναμιμνῄσκεσθαι; – Εὖ μοι δοκεῖς λέγειν, ὦ Σώκρατες, [869] οὐκ οἶδ’ ὅπως. – Καὶ γὰρ ἐγὼ ἐμοί, ὦ Μένων. Καὶ τὰ μέν γε ἄλλα οὐκ ἂν πάνυ ὑπὲρ τοῦ λόγου διισχυρισαίμην ὅτι δ’ οἰόμενοι δεῖν ζητεῖν ἃ μή τις οἶδεν βελτίους ἂν εἶμεν καὶ ἀνδρικώτεροι καὶ ἧττον ἀργοὶ ἢ εἰ οἰοίμεθα ἅ μὴ ἐπισάμεθα μηδὲ δυνατὸν εἶναι εὑρῖν μηδὲ δεῖν ζητεῖν, περὶ τούτου πάνυ ἂν διαμαχοίμην, εἰ οἷός τε εἴην καὶ λόγῳ καὶ ἔργῳ. Damit ist die ganze Anamesislehre zwar nicht preisgegeben, aber als unverbindlich bezeichnet; es bleibt, ähnlich wie Phaidon 114 d, nur die Verpflichtung des Lernens übrig, dessen Möglichkeit S. λόγῳ καὶ ἔργῳ – wir kennen diese Formel aus Xenophon zur Genüge – so stark wie möglich behaupten will; denn die Wahrheit der Dinge ist ,in der Seele‘, so lautete der Anfang, die Voraussetzung des potentialen Schlusses auf die Unsterblichkeit der Seele, ἡ ἀλήθεια . . . ἐστίν (Modus realis), ἀθάνατος ἂν ἡ ψυχὴ εἴη (Modus potentialis). Die Prämisse ist nicht bloß möglich, deshalb der Schluß, sondern die Prämisse ist sicher, der Schluß aber noch nicht zwingend. Das Moment der ἀργία, bezw. der Tätigkeit, der Forschungsbereitschaft, war in der ersten Fassung der Unsterblichkeitslehre (80 e) bereits ausdrücklich hervorgehoben worden, so daß die nun erfolgende Einschränkung mit der anfänglichen Meinung des S. durchaus nicht in schroffem Widerspruch steht. Ob S. an die Unsterblichkeit der Seele – in unseren Sinne – ,geglaubt‘ hat, diese Frage ist, wie übrigens noch für Platon, falsch gestellt; eine individuelle persönliche Unsterblichkeit beweist auch der Phaidon nicht (alles Wesentliche darüber bei Jaeger Aristoteles S. 48ff.); er ,glaubte‘ andererseits nicht an die Verbindung des Seelenkernes mit ewigen, immer gültigen Dingen, an die ἀλήθεια τῶν ὄντων ἐν τῇ ψυχῇ, sondern die sah er im μανθάνειν ja unmittelbar wirksam. Die Zurückhaltung des S. in der Apologie (S. 40 cff.) gegenüber der Frage nach dem Wesen des Todes, genauer des Totseins (τεθνάναι), weist nach derselben Richtung; entweder ist der Tod ein ewiger traumloser Schlaf, dann ist er ein großes Glück, oder er ist für S. jedenfalls weitere unverdrossene Tätigkeit, Fortsetzung des Lernens, Fragens, Prüfens, d. h. also Auswirkung der in der Seele befindlichen ἀλήθεια. Die erste, mit so eigentümlicher Übertreibung als höchstes Glück bezeichnete Möglichkeit ist gerade als Gegenvorstellung zu der rastlosen Tätigkeit des ewig fragenden S. begreiflich; die zweite Möglichkeit begegnet uns an dieser Menonstelle: die Seele ,schaut‘ nicht in aller Ruhe selige Gesichte; sie arbeitet, sie hat alles gesehen, auf Erden, im Hades alles gelernt. Die bekannten erkenntnistheoretischen Einwände, z. B. schon Leibnitz Nouveaux essais I § 5, gegen diesen metaphysischen Psychologismus, der ja das Problem des Lernens nur zurückschiebt, können an der Tatsache nichts ändern, daß Platon gerade das sokratische ἐργατικός und ζητητικός in den Begriff der Seele aufnehmen wollte; und diese Kontinuität der inneren seelischen Bewegung auf die in ihr liegende Wahrheit hin ist es, auf der allein S. bestehen will. In der ganz anderen platonischen Inszenierung bestätigt sich also der uns bekannte sokratische Zug: sein λόγος ist [870] Tätigkeit, Leidenschaft des ἔργον, wenn man will ἐνέργεια, geistige Wachheit und Lebendigkeit.

Der zweiten, völlig parallelen Stelle, 98 b, geht eine Untersuchung voraus über die doppelte Möglichkeit des ἐργατικὸν εἶναι. Platon-S. entschließt sich zu dem Zugeständnis, daß es Staatsmänner geben mag, die ohne eigentliche Kenntnis des Guten, der πολιτικὴ ἀρετή, also z. B. ohne ihre Söhne diese Kunst lehren zu können, ihre Stadt gefördert haben (über Aischines’ möglichen Anteil an dieser Sinnesänderung gegenüber dem Gorgias vgl. Pohlenz Aus Platons Werdezeit 184). Freilich erfolgt diese Wirkung aus ,richtiger Meinung‘ heraus, θεῖᾳ μοίρᾳ, nicht aus Wissen. Aber diese Meinungen sind keine ,Feststellungen‘ seiender Dinge, sie können davonlaufen, wie die Bildsäulen des Daidalos. Binden, feststellen kann sie nur die Überlegung über den Grund, der λογισμὸς αἰτίας 98 a, τοῦτο δ’ ἐστίν, ὦ μένων ἑταῖρε, ἀνάμνησις, ὡς ἐν τοῖς πρόσθεν ἡμῖν ὡμολόγηται. ἐπειδὰν δὲ δεθῶσιν, πρῶτον μὲν ἐπιστῆμαι γίγνονται, ἔπειτα μόνιμοι· καὶ διὰ ταῦτα δὴ τιμιώτερον ἐπιστήμη ὀρθῆς δόξης. – Νὴ τὸν Δία, ὦ Σώκρατες, ἔοικεν τοιούτῳ τινί. – Καὶ μὴν καὶ ἐγὼ ὡς οὐκ εἰδὼς λέγω, ἀλλὰ εἰκάζων· ὅτι δέ ἐστίν τι ἀλλοῖον ὀρθὴ δόξα καὶ ἐπιστήμη, οὐ πάνυ μοι δοκῶ τοῦτο εἰκάζειν, ἀλλ’ εἴπερ τι ἄλλο φαίην ἂν αεἰδέναι – ὀλίγα δ’ ἂν φαίην – ἓν δ’ οὖν καὶ τοῦτο ἐκείνων θείην ἂν ὧν οἶδα.

Wieder ist die Erklärung des λογισμὸς αἰτίας durch die ἀνάμνησις als nicht sicher hingestellt; aber die ἐπιστήμη wird als höheres Prinzip unbedingt anerkannt. Alle scheinbaren Konzessionen in der Richtung der θεῖοι ἄνδρες, οἳ νοῦν μὴ ἔχοντες πολλὰ καὶ μεγάλα κατορθοῦσιν ὧν πράττουσι καὶ λέγουσι (99 c), werden schließlich wieder aufgehoben; ,wenn es einen Staatsmann gäbe, der einen anderen seine ἀρετή zu lehren imstande wäre, der würde sich zu allen den θεῖοι ἄνδρες verhalten wie Teiresias zu den schwirrenden Schatten (100 a). Wir haben alle diese Zugeständnisse gemacht, weil wir noch nicht wissen, was die Tugend an sich ist‘. Das ist der Schluß; von dem orphischen Seelenmythos, der wie ein Phantasma auftauchte, bleibt nur übrig die Verpflichtung zu lernen, was die ἀρετή sei. Der Menon gibt Veranlassung auf das S.-Bild eines dritten Sokratikers einen Blick zu werfen. Pohlenz 186ff. hat es wahrscheinlich gemacht, daß die Ablehnung der θεῖοι ἄνδρες mit dem S.-Bilde des Aischines zusammenhängt; nach frg. 11 Dittmar scheint Aischines das ,Dämonische‘ in S. auf Kosten seines λόγος betont, S. also selber zum θεῖος ἀνήρ gemacht zu haben; an dieser Entwicklung des S. mag das mißverstandene Daimonion die Schuld haben (vgl. den [Plat] Theages). Der Menon arbeitet, wie der Ion und gewisse Stellen der Apologie, besonders 22 b c gerade die Überlegenheit des sokratischen λόγος und νοῦς über jede bloße ,Genialität‘ heraus; und im Menon muß dies ganz besonders betont werden, weil die ἀνάμνησις-Lehre das Wissen auf ein θεῖον πράγμα, auf Unsterblichkeit der Seele zurückzuführen scheint; der ja auch im ersten Teile des Menon ganz deutlich ausgedrückte Gedanke, daß gerade die Besinnung auf jene ,mystische‘ Vergangenheit der Seele ihre Selbsterkenntnis und Selbstgewißheit [871] in der Rechenschaft über Gründe bedeutet, muß deshalb durch die Kritik der Θεῖοι ἄνδρες außer allen Zweifel gestellt werden. Hierzu dient die ausdrückliche Berufung auf die Denkpraxis des S.

Fassen wir nun das Ergebnis der Menonbetrachtung für S. zusammen, so ergibt sich für die S. 838f. formulierten Punkte 1 und 3 eine ganz klare Antwort. Das Nichtwissen des S. steht im Mittelpunkt; es gibt Anlaß zu einer Theorie des Lernens, auf deren metaphysische Grundlage kein entscheidender Wert gelegt wird. Denn daß die Seele in sich die Wahrheit birgt, das ist unmittelbar gewiß, dazu ist für S. eine Erklärung ebensowenig nötig, wie für den Unterschied von zufällig richtiger Meinung und festem Wissen; diese beiden von S. festgehaltenen Thesen ergeben sichaus dem λόγος der Seele, durch den sie ihren inneren Grund sieht; der λογισμὸς αἰτίας ist die Besinnung auf die in der Seele ruhenden, im Wissen und Lernen aufgeregten Gehalte.

Aber der zweite Punkt von S. 838 ist noch nicht geklärt; was hat diese Jenseitsmystik, was hat die Selbstgewißheit des Seelen-λόγος mit der πόλις zu tun? Ist nicht in den Gedankengängen des Menon in der Tat auch das sittliche Normbewußtsein, orientiert an der puren Selbstgewißheit mathematischen Schließens und mathematischer Anschauung, reine Selbstverständigung der Seele über die in ihr liegende Wahrheit, wie es wörtlich hieß? Bestätigt etwa gar Platon hierin H. Maiers S.-Auffassung, nach der S. die ,Säkularisation der sittlichen Norm‘ und ihre Entpolitisierung, ihre Überführung in individuelle Lebensbereiche erstrebt und für sich vollendet hätte?

Es ließe sich bereits aus dem Gesamtaufbau des Menon der Beweis dafür erbringen, daß das Wissen, von dem Platon hier redet, seine eigentliche Funktion erst als ἀρετὴ πολιτική entfaltet, daß von nichts anderem als von dem Wissen des πολιτικός die Rede ist, daß am Schluß ja die platonische Verallgemeinerung des Topos von den unerzogenen Söhnen großer Staatsmänner bereits deutlich genug zu dem platonisch-akademischen Problem der Philosophen als Staatsmänner erweitert ist (v. Wilamowitz Platon I 280). Aber alles Platonische ist eine φύσις ξυγγενής, und gerade die entscheidende Rolle, die die Mathematik seit dem Menon zu spielen beginnt, bedürfte umständlicher Überlegungen, deren Richtung hier nur angedeutet werden kann. Mathematik ist für Platon niemals nur reine Wissenschaft, sondern ein höchst kompliziertes Bildungsmittel als inneres Ordnungsbewußtsein; wie der Staat zeigt, ist sie das Band zwischen παιδεία μουσική und γυμναστική, Formungsmittel eines bestimmten ἦθος. Nimmt man das alles zusammen, so sieht man, daß sich bei Platon die sokratische Grundlage des tätigen λόγος, des wissenden Tuns der ἀρετὴ πολιτική) zwar mächtig gehoben und verbreitert hat, daß ihre Grundzüge aber noch deutlich erkennbar sind. Freilich bleibt noch eine wesentliche Seite des S. hierbei im Hintergrunde. Daß die Tätigkeit und das Wissen des S. die πολιτικὴ ἀρετή, die Bildung der Gemeinschaft zum Ziel, zum τέλος hat, das ließ sich auch aus dem Menon unschwer zeigen. Doch das war ja für S. gar nicht die Hauptsache. Daß der einzelne bei höchster Anspannung seines bewußten Denkens, seiner [872] aktiven wissenden Sittlichkeit zugleich leidend die Einwirkung einer ideellen Kraft der Gemeinschaft, einer ihn tragenden φύσις erfährt, erst diese, für uns nicht ohne weiteres einsichtige Metaphysik der πόλις, löste die Paradoxien des sokratischen βίος auf und ist aus Platon nun zu verdeutlichen. Es wird sich zeigen, daß derjenige, der am meisten willkürlicher, rationalistischer Staatskonstruktor zu sein scheint, gerade diese Seite des S. am reinsten widerspiegelt. Dies kann auch in dem hier gebotenen Rahmen durch eine parallele Betrachtung einiger anderer Stellen erläutert werden, an denen Platon ausdrücklich den S. an bestimmten Fassungen seiner Gedanken Zweifel und Zurückhaltung zeigen läßt.

Da nur die Zusammenfassung weitausgreifender Interpretationen hier gegeben werden kann, soll ihr gemeinsames Ziel vorausgeschickt werden. Platon sieht den Inbegriff des sokratischen Tat- Logos in einer zentralen Idee, der des Guten; S. beschränkt sich darauf, diese Idee als das dynamische Zentrum des wissenden Handelns ἔργῳ καὶ λόγῳ aufzuweisen, als die Einheit und den Zusammenhang der religiös fundierten Gemeinschaft, in der der einzelne sich selbst, sein Selbst ,bewahrt‘, gerettet, gefördert sieht, wenn er durch richtige Belehrung zur Einsicht in diese Ordnung gebracht wird. Einen angebbaren Inhalt kann diese dynamische Idee für S. nicht haben, weil der Mannigfaltigkeit der göttlich gelenkten Wirklichkeit gegenüber eine endgültige Formulierung niemals möglich ist (schlichtester Ausdruck dieser Überzeugung bei Xenophon: Gebet um ἀγαθά, kein Vorgreifen durch deren Bestimmung). Platon hingegen will der Idee des Guten einen bestimmten Inhalt geben, ohne ihr die dynamische Kraft der Verwirklichung, der Taterzeugung, zu nehmen. Er will eine material bestimmte παιδεία, erfüllt mit dem Inbegriff der Kultur und Wissenschaft schaffen, er will die ,Tugend‘, weil sie für den sie ausübenden etwas Gewußtes ist, wirklich zum Wissen, lehrbar machen; nicht so, daß er die wissenschaftliche Betätigung im Sinne seiner Zeit oder in unserem Sinne, als Sittlichkeit oder Religion auffaßt (H. Maier 520); umgekehrt, er sucht eine andere bestimmte Wissenschaft zu finden, die diesem Zwecke genügt, d. h. die sich unter der umfassenden Idee des Guten als παιδεία begreifen läßt (über die logischen Kategorien, die diese Absicht zeitigt, einiges im Art. Logik). Nun soll gezeigt werden: überall, wo Platon das Wesen und Wirken des Guten, von dem S.s λόγος handelt, in eine theoretische höchste Wissenschaft aufzunehmen sucht, deutet er die Grenze zwischen sich und S. an.

1. Phaidon 99 c ff. τὴν δὲ τοῦ ὡς οἷόν τε βέλτιστα αὐτὰ τεθῆναι δύναμιν οὔτω νῦν κεῖσθαι, ταύτην οὔτε ζητοῦσιν (die bisherigen Naturphilosophien) οὔτε τινὰ οἴονται δαιμονίαν ἰσχὺν ἔχειν, ἀλλὰ ἡγουνται τούτου Ἄτλαντα ἄν ποτε ἰσχυρότερον καὶ ἀθανατώτερον καὶ μᾶλλον ἅπαντα συνέχοντα ἐξευρεῖν, καὶ ὡς ἀληθῶς τὸ ἀγαθὸν καὶ δέον συνδεῖν καὶ συνέχειν οὐδὲν οἴονται (zur Terminologie Xen. mem. IV 3, 13 ὁ τὸν ὅλον κόσμον συντάττων καὶ συνέχων, ἐν ὧ πάντα καλὰ καὶ ἄγαθά ἐστι …). ἐγὼ μὲν οὖν τῆς τοιαύτης αἰτίας ὅπῃ ποτὲ ἔχει μαθητὴς ὁτουοῦν ἥδιστ’ ἂν γενοίμην· ἐπειδὴ δὲ ταύτης ἐστερήθην καὶ οὔτ’ [873] αὐτὸς εὑρεῖν οὔτε παρ’ ἄλλου μαθεῖν οἷός τε ἐγενόμην, τὸν δεύτερον πλοῦν ἐπὶ τὴν τῆς αἰτίας ζήτησιν ᾗ πεπραγμάτευμαι βούλει σοι, ἔφη, ἐπίδειξιν ποιήσωμαι; es folgt die Hypothesenlehre, s. o. S. 858; den Übergang von den πράγματα zu den λόγοι macht S. mit; den einheitlichen letzten λόγος findet er nicht, den λόγος, der πάντα συνέχει und συνδεῖ; ὁ δεύτερος πλοῦς im Sinne des Platon ist tatsächlich Verzicht auf die höchste μέθοδος; zur ὑπόθεσις gehört hier, besonders nach 1 99 c und 101 d, unzweifelhaft bereits das ἀνυπόθετον ἀγαθόν als platonische Gegenvorstellung; es ist die αἰτία des λογισμὸς αἰτίας des Menon, d. h. die Besinnung auf das ἀγαθὸν συνδέον καὶ συνέχον, die für Platon zusammenfällt mit der Besinnung auf die φύσις ξυγγενής, den Zusammenhang aller ὄντα (vgl. Studien 128); über das Verhältnis dieser Stelle zur vorsokratischen Philosophie Antike I 264. Die dort für den Eleatismus entwickelte Überwindung von Denken und Sein in der umfassenden Ganzheit alles Wirklichen ist sinngemäß auf die Idee des Guten zu übertragen; die einzelnen ὑποθέσεις sind ,Gedanken‘, das ἀνυπόθετον als Ganzheit alles Gedachten ist zugleich ὑπέκεινα τῆς οὐσίας, auch aller Wirklichkeit; s. u. Für die Konsequenzen, die sich aus der Verkennung der Grenze zwischen S. und Platon ergeben, ist lehrreich E. Caird Die Entwicklung der Theologie in der griechischen Philosophie, dtsch. von Wilmanns, Halle; 1909, 95ff.

2. Staat 336 c. Der typisch sophistische Angriff des Thrasymachos (vgl. Kleitophon 410 c; das oben behandelte Hippiasgespräch περὶ δικαίου Xen. mem, IV 4, 10); der sophistische Wissenschaftsbegriff – der vielleicht ,moderner‘ ist als der platonische – wird dem sokratischen entgegengesetzt: . . . ἀλλ’ εἴπερ ὡς ἀληθῶς βούλει εἰδέναι τὸ δίκαιον ὅτι ἐστί, μὴ μόνον ἐρώτα μηδὲ φιλοτιμοῦ ἒλέγχων, ἐπειδάν τίς τι ἀποκρίνηται, ἐγνωκὼς τοῦτο, ὅτι ῥᾷον ἐρωτᾶν ἢ ἀποκρίνεσθαι, ἀλλὰ καὶ αὐτὸς ἀπόκριναι καὶ εἰπέ, τί φῂς εἶναι δὸ δίκαιον· καὶ ὅπως μὴ έρεῖς, ὅτι τὸ δέον ἐστὶ μηδ’ ὅτι τὸ ὠφέλιμον μηδ’ ὅτι τὸ λυσιτελοῦν μηδ’ ὅτι τὸ κερδαλέον μηδ’ ὅτι τὸ ξυμφέρον, ἀλλὰ σαφῶς μοι καὶ ἀκριβῶς λέγε ὅτι ἂν λέγῃς. . . Von diesem offenbar immer wieder dem S. gemachten Einwand aus, auf den Platon im Menon mit der ἀνάμνησις und Präexistenz antwortete, entwickelt sich die Erörterung des δίκαιον, also der ganze Gedankengang der Politeia; sie schließt mit dem sokratisch doppelsinnigen εὖ πράττωμεν, dies nunmehr erweitert auf die metαphysische Sphäre des Mythos, in die der Menon bereits wies.

Vor dem Höhepunkt der Politeia, der Schilderung der Idee des Guten im VI. Buch, finden wir die bei weitem komplizierteste Abgrenzung des Platon und S. Das VI. Buch, das in unerhörter Konzentration alle Fäden der vorhergehenden, auf verschiedenen Wegen wandelnden Erörterungen neu knüpft, beginnt mit der Frage nach dem Wesen des Philosophen und seiner Tauglichkeit zur Staatslenkung. Nach allem, was über S. bisher entwickelt worden ist, wird die Zusammenstellung folgender Momente auch ohne weitläufige Erklärung ihren inneren Zusammenhang leicht erhalten durch den Gedanken an S.s [874] Lehre, wie sie o. S. 838 in jene drei Punkte gegliedert wurde.

484 c. Der Philosoph trägt ein παράδειγμα πόλεως in der Seele; dadurch regiert er sehend, nicht blind. Deshalb ist er wahrheitsliebend und φιλομαθής 485 d; Einwand gegen den Philosophen 487 b: er bringt durch ein geschicktes ,Brettspiel der λόγοι‘, durch kleine Zugeständnisse, die er erreicht und am Schlusse zusammenfaßt, unmerklich den Gesprächsgegner zu ὁμολογήματα, die dessen eigner Meinung strikt entgegengesetzt sind. Das macht die Philosophen verhaßt! Man kann nicht leugnen, daß das elenktische Verfahren des S. in vielen Gesprächen äußerlich genau so verläuft, wie es hier geschildert wird; es ist eine technisch genauere Schilderung des ναρκᾶν. Der eigentliche Kern der sokratischen Schale, der Platon über allen Zweifel erhaben ist und den er bereits im Charmides als das Gute bezeichnet, bildet ja das Ziel der Erörterung; die Kritik des sokratischen Verfahrens trifft also nur die, welche die Schale für den Kern hielten. Also darf auch S. die Unvollkommenheit der geschilderten Methode zugeben, und das ganze folgende ist zunächst von dem Thema beherrscht: warum gibt es keine τέλειοι φιλόσοφοι? Woher ihre ἀχρηστία? Weil es keine positive Lehre der Philosophie gibt, keine hohe Schule der πολιτικὴ ἀρετή, keine Schulgemeinschaft, die den richtigen φύσεις die richtige τροφή darreicht. Kunstvoll wird die Lösung dieser höchsten Schwierigkeit durch die Idee des Guten vorweggenommen und bereits im wörtlichen Anklang an 508 d. e geschildert, 490 a. b: Ἆρ’ οὖν δὴ οὐ μετρίως ἀπολογησόμεθα ὅτι πρὸς τὸ ὃν πεφυκὼς εἴη ἁμιλλᾶσθαι ὅ γε ὄντως φιλομαθής, καὶ οὐκ ἐπιμένοι ἐπὶ τοῖς δοξαζομένοις εἶναι πολλοῖς ἑκάστοις, ἀλλ’ ἴοι καὶ οὐκ ἀμβλύνοιτο οὐδ’ ἀπολήγοι τοῦ ἔρωτος, πρὶν αὐτοῦ ὃ ἔστιν ἑκάστου τῆς φύσεως ἅψασθαι ὧ προσήκει ψυχῆς ἐφάπτεσθαι τοῦ τοιούτου – προσήκει δὲ συγγενεῖ – ὧ πλησιάσας καὶ μιγεὶς τῷ ὄντι ὄντως, γεννήσας νοῦν καὶ ἀλήθειαν, γνοίη τε καὶ ἀληθῶς ζῴη καὶ τρέφοίτο καὶ οὕτω λήγοι ὠδῖνος, πρὶν δ’ οὔ (wir werden diese Stelle auch zur Erläuterung des Symposions benützen müssen). Hier wird bereits genau bezeichnet, was später als Überbietung und Erfüllung aller ἰδιωτικὴ παιδεία entwickelt wird; diese ist den Gefahren der Öffentlichkeit in den bestehenden Staaten nicht gewachsen, 492 c. Die folgenden, nach dem VII. Brief nun deutlicher als Selbstbekenntnisse Platons zu verstehenden Ausführungen übergehen wir, und heben nur das für das S.-Problem Wichtigere heraus; kurz nach der Erwähnung des Theages spricht S. von seinem δαιμόνιον 496 c: τὸ δ’ ἡμέτερον οὐκ ἄξιον λέγειν, τὸ δαιμόνιον σημεῖον. Das ist für die Bedeutung des Gedankenganges charakteristisch; denn die Erörterung strebt auf die rationale Bewältigung des ἀγαθόν, des Göttlichen, zu; da wird das δαιμόνιον in seiner Bedeutung noch weiter herabgedrückt. Nun wird bereits die vollendete, langwährende παιδεία skizziert, 497 a – 498 c. Dabei fällt wieder der Name des Thrasymachos, der mit dem Gesagten nicht einverstanden sein dürfte, nach Ansicht des Adeimantos; wir hören aber nichts von einem Widerspruch. S. hatte mit ihm seit jenem Ausfall im I. Buche sich ,befreundet, ohne vorher verfeindet gewesen zu sein‘, 498 c. Das spielt auf [875] 450 b an; bei der Frage des S., ob er weiter seinen λόγος ausdehnen sollte, hatte der hier als sehr interessierter Zuhörer geschilderte Thrasymachos durchaus weitere λόγοι hören wollen; seine Befürchtung, daß S. sich auf elenktisches Fragen beschränken würde, ist ja ganz und gar nicht eingetroffen. (Ohne weitergehende Folgerungen daraus hier zu ziehen, möchte ich auf einige Stellen in des Thrasymachos Verfassungsrede hinweisen, Diels 78 B 1: daß die mythische Zeit vorüber, daß die großen Ereignisse nunmehr von den sich sorgenden Menschen, nicht mehr von den Göttern und der Tyche abhängen, daß wir das, was über unsere γνώμη geht, von den Altvordern übernehmen müssen, weiter die sehr interessanten Ausführungen über die ὁμόνοια, über den Wahn der ἄνευ γνώμης φιλονικοῦντες, die nicht merken, daß sie dasselbe tun [πράττειν! und daß der λόγος der anderen in ihrem eignen λόγος enthalten ist. Alles das kann für Platon ebenso interessant gewesen sein, wie es für uns wichtige Parallelen zu sokratischen Gedanken sind.)

Nach dieser Erinnerung an das eristische Motiv durch den Namen Thrasymachos lenkt die Erörterung noch deutlicher in sokratische Gedankengänge ein, um das Bild der πόλις καὶ ἤθη ἀνθρώπων (501 a) rein zu zeichnen und das παράδειγμα, von dem im VI. Buch ausgegangen war, zu entwerfen. Mit dem für die Disposition platonischer Werke so wichtigen Neuanheben eines Gedankenganges (ὥσπερ ἐξ ἀρχῆς 502 e) wird die μακροτέρα περίοδος der παιδεία (504 b, vgl. mit 435 d) nun begonnen, und zwar mit der alten Frage nach der Einheit der Tugend, hier eines höheren Prinzips, das über den Tugenden der einzelnen Seelenteile noch ausdrücklicher als δικαιοσύνη und σωφροσύνη die ἀρετή der Seele selbst ist, ihre eigentliche Leistung und Tauglichkeit, ihr lebendiger Kern. Die ganze Problematik des sokratischen λόγος wird aufgerissen durch den scheinbaren Widerspruch, daß dieses letzte nicht die σοφία (504 a), nicht die φρόνησις (505 b) ist, und doch ein μάθημα, τὸ μέγιστον μάθημα, μεῖζον δικαιοσύνης τε καὶ ὧν διήλθομεν (504 d). Und die ganze Problematik des Verhältnisses von Platons Lehre zu der des S. wird darin sichtbar, daß dieses μάθημα weiterhin als Gegenstand δαιμονίας ὑπερβολῆς (509 c) behandelt wird, zugleich aber als etwas Bekanntes erscheint, genau so wie die einzelnen Ideen im Phaidon 76 d. πάντως αὐτὸ οὐκ ὀλιγάκις ἀκήκοας· νῦν δὲ ἢ οὐκ ἐννοεῖς ἢ αὖ διανοῇ ἐμοὶ πράγματα παρέχειν ἀντιλαμβανόμενος. οἶμαι δὲ τοῦτο μᾶλλον· ἐπεὶ ὅτι γε ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα μέγιστον μάθημα, πολλάκις ἀκήκοας, ἧ δὴ καὶ δίκαια καὶ τἆλλα προςχρησάμενα χρήσιμα καὶ ὠφέλιμα γίγνεται … ἢ οἴει τι πλέον εἶναι πᾶσαν κρῆσιν ἐκτῆσθαι, μὴ μέντοι ἀγαθήν;ἢ πάντα τἆλλα φρόνειν ἄνευ τοῦ ἀγαθοῦ, καλὸν δὲ καὶ ἀγαθὸν μηδὲν φρόνειν; (505a).

In der Tat haben wir das oft gehört; z. B. im Menon 87 c wird das χρῆσις-Motiv ganz ähnlich ausgedrückt, wie ja der Zusammenhang von ἀγαθόν und ὠφέλιμον durchaus auch für den platonischen S. charakteristisch ist. 88 a: ἔτι τοίνυν καὶ τὰ κατὰ τὴν ψυχὴν (wie vorher ὑγίεια, ἰσχύς, κάλλος, πλοῦτος) σκεψώμεθα. σωφροσύνην τι καλεῖς καὶ δικαιοσύνην καὶ ἀνδρείαν καὶ εὐμαθίαν καὶ μνήμην καὶ μεγαλοπρέπειαν καὶ πάντα τὰ τοιαῦτα [876] (alles dieses soll der Wächter als Grundlage haben; im Wortlaut ganz ähnliche Aufzählung, Staat 487 a) – Ἔγωγε – Σκοπει δή, τούτων ἅττα σοι δοκεῖ μὴ ἐπιστήμη εἶναι ἀλλ’ ἄλλο ἐπιστήμης, εἰ οὐχὶ τοτὲ μὲν βλάπτει, τοτὲ δὲ ὠφελεῖ; οἷον ἀνδρεία, εἰ μὴ ἔστιν φρόνησις ἡ ἀνδρεία ἀλλ’ οἷον θάρρος τι· οὐκ ὅταν μὲν ἄνευ νοῦ θαρρῇ ἄνθρωπος, βλάπτεται, ὅταν δὲ σὺν νῷ, ὠφελεῖται; – Ναί. – Οὐκοῦν καὶ σωφροσύνη ὡσαύτως καὶ εὐμαθία· μετὰ μὲν νοῦ καὶ μανθανόμενα καὶ καταρτυόμενα ὠφέλιμα, ἄνευ δὲ νοῦ βλαβερά; 88b wird die εὐδαιμονία mit dem ὠφέλιμον gleichgesetzt; 89 a noch einmal ausdrücklich das ἀγαθόν im Bereich des Seelischen mit der φρόνησις gleichgestellt.

Gerade durch diese Nebeneinanderstellung einer sichtlich früheren Darstellung der sokratischen Zentrallehre wird die Absicht der späteren an unserer Stelle klar, und man versteht auch, inwiefern die Idee des Guten im Staate etwas Neues, Unerhörtes ist und doch irgendwie nur die alte sokratische Forderung nach Einheit des Wissens und Einheit des Wollens aller erfüllt. Ist die φρόνησις schlechthin Tapferkeit, macht sie schlechthin alles gut und nützlich? Was heißt μετὰ νοῦ? Diese Fragen stellt der Menon, aber er beantwortet sie nur durch den Zusammenhang der noch lose nebeneinandergestellten Motive der ἀνάμνησις und des λόγισμος αἰτίας. An der zitierten Stelle, die inhaltlich unmittelbar dem Hinweis des S. an unserer Stelle des Staates entspricht, bleibt in der Tat die große Frage offen: was ist der Gegenstand dieser ,Besinnung‘? Sie soll alles gut machen, die χρῆσις zum Guten lenken; enthält aber die φρόνησις schlechthin jenes Letzte? Ist, ganz schlicht gefragt, φρόνησις und ἀγαθόν wirklich einfach dasselbe? Wir haben gesehen, daß der Charmides dieselbe Kombination von Wissen um das eigene Selbst, gesteigerter ἐπιστήμη und Wissen um das Gute behandelt. Genau diese Frage beantwortet das nächste Kapitel des Staates, 505 bff. Man hat bisher immer hier mehr ein polemisches Intermezzo gesehen, eine Auseinandersetzung mit den Kyrenaikern und Megarikern. Ἀλλὰ μὴν καὶ τόδε γε οἶσθα, ὄτι τοῖς μὲν πολλοῖς ἡδονὴ δοκεῖ εἶναι τὸ ἀγαθόν, τοῖς δὲ κομψοτέροις φρόνησις. Tatsächlich steckt noch etwas mehr dahinter. Platon hat sich nicht gescheut, auch seine eigene frühere Lehre gelegentlich zusammen mit denen anderer zu kritisieren (die berühmte Diskussion der εἰδῶν φίλοι im Sophistes 246 b gehört hierher). Hier wendet er dasselbe Verfahren gegen S. selbst. Der philosophische Typus des S. konnte in der Denkbetätigung durchaus das Gute sehen; zur Form seines in allen möglichen Erscheinungsweisen sich darstellenden Nichtwissens passte es vorzüglich, die Betätigung schlechthin, ohne bestimmtes, ein für allemal formuliertes Ziel für die Aufgabe des Menschen zu halten; dazu treten noch die erwähnten religiösen Gesichtspunkte, die das Gute in der Form des von Menschen Nichtgewußten erscheinen ließen. So sicher dies der Form des S. entsprach, ebenso ungenügend ist dieselbe Lehre nur als theoretischer Satz, wie ihn Eukleides von Megara, einer der frühesten Schüler des S. (falls Gellius Noct. Att. 6, 10 recht hat, vgl. Praechter Grundriß12 156), nach Diogenes 2, 106 ausgesprochen hat: οὗτος ἓν τὸ [877] ἀγαθὸν ἀπεφαίνετο πολλοῖς ὀνόμασι καλούμενον· ὁτὲ μὲν γὰρ φρόνησιν, ὁτὲ δὲ θεὸν καὶ ἄλλοτε νοῦν. In der Tat ist das Bemühen Platons kaum besser zu bezeichnen, als dadurch, daß er diese Begriffe, die in dem sokratischen Tun zu persönlicher Einheit gebracht waren, in theoretischer Durchdringung zu systematischer Einheit gestalten wollte. Mit dem bloßen Umbenennen freilich ist ihm nicht gedient, und so kritisiert er, sehr geschickt den Eukleides vor das eigentlich sokratische Problem schiebend, an unserer Stelle weiter (505b): καὶ (οἶσθα) ὅτι γε οἱ τοῦτο ἡγούμενοι οὐκ ἔχουσι δεῖξαι ἥτις φρόνησις, ἀλλ’ ἀναγκάζονταιτελευτῶντες τὴν τοῦ ἀγαθοῦ φάναι. Καὶ μάλα ἔφη, γελοίως. Πῶς γὰρ οὐχί, ἦν δ’ ἐγώ, εἰ ὀνειδίζοντές γε, ὅτι οὺκ ἴσμεν τὸ ἀγαθόν, λέγουσι πάλιν ὥς εἰδόσι; φρόνησιν γὰρ αὐτό φασὶν εἶναι ἀγαθοῦ, ὡς αὖ ξυνιέντων ἡμῶν ὅτι λέγουσιν, ἐπειδὰν τὸ τοῦ ἀγαθοῦ φθγξωνται ὄνομα. Im ursprünglichen sokratischen λόγος-Begriff hatte die Berufung auf das, was sich doch jeder mit dem Worte ἀγαθόν denkt, ihren Sinn. Die von Platon immer weitergetriebene Entfaltung dieses λόγος in seine innere Gliederung, diese Durchbildung der aus den Wortbedeutungen erschlossenen ,reinen Bedeutungen‘ zum Ideenreich, erforderte nun auch dieser Idee gegenüber eine neue wissenschaftliche Behandlung. Freilich ist die nächste Charakteristik des Guten, die Sokr. 505 d gibt, dieser eigentümlichen ,Bedeutungsintuition‘ des S. noch merkwürdig ähnlich. Doch die Gedankenfügung des Staates ist an dieser Stelle so streng und bündig, daß die Erwähnung der ,Kyrenaiker‘, richtiger des in der Sokratik so wichtigen Lustmotivs (s. O. Bd. XII S. 143), erst in ihrer ganzen Bedeutung erfaßt sein muß, ehe jene Charakteristik des Guten verstanden werden kann.

S. macht über die ἡδονή nicht viele Worte. Wie wichtig ihm sachlich die ἡδονή ist, lehrt nicht nur der spätere Philebos, der noch einmal das φρόνησις–ἡδονή-Problem in seiner ganzen Tiefe aufrollt, sondern sofort eine merkwürdige Stelle, 509 A. Platon hat weder sachliche noch persönliche Veranlassung, den Glaukon als beschränkt und δυσμαθής darzustellen; deswegen kommt allen Stellen, an denen er uns so erscheint, eine große sachliche Bedeutung zu. Kurz vor dem Höhepunkte der Darstellung, dem berühmten ἐπέκεινα τῆς οὐσίας, scheint Glaukon noch einmal bei sich zu erwägen, ob S. am Ende nicht doch mit jenem Ungeheuerlichen die ἡδονή meint! Er bezweifelt es selbst: Ἀμήχανον κάλλος λέγεις, εἰ ἐπιστήμην μὲν καὶ ἀλήθειαν παρέχει, αὐτὸ δ’ ὑπὲρ ταῦτα κάλλει ἐστίν· οὐ γὰρ δήπου σύ γεἡδονὴν αὐτὸ λέγεις. – Εὐφήμει usw. Warum wird doch noch einmal diese Möglichkeit der Auffassung erwähnt? Offenbar weil die ἡδονή (über deren philosophische Rolle in der damaligen Philosophie auch hier auf den Artikel RE siehe verwiesen sei) gerade diejenige Funktion des ἀγαθόν am sinnfälligsten ausdrückt, auf die es Platon ganz besonders ankommt: das Tatbewirkende, zum Handeln reizende, also dasjenige Moment am λόγος, was auf seine Verwirklichung drängt. Diese dynamische Rolle der ἡδονή muß nämlich die ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ unter allen Umständen übernehmen, sie muß überhaupt die [878] ἡδονή in veränderter Form in sich aufnehmen, nicht als scheinbare, trügerische Lust des einzelnen, sondern als die richtige Lust der Gemeinschaft, die auf gegenseitiger Korrektur und Sicherung der Antriebe und Ziele des einzelnen beruht und ihm erst dauernde Erfüllung seines Luststrebens gewährt. (Man erinnere sich des oben über die χάρις Bemerkten!)

Dies müssen wir wissen, um die nun folgende Beschreibung des Guten zu verstehen, von der S. meint, daß sie in allem Streit über das ἀγαθόν wohl allen einsichtig ist: alle Menschen wissen, was sie damit ,meinen‘; durch den vollen, das Begehren einschließenden, Doppelsinn dieses deutschen Wortes kann die Tatverwandtschaft des sokratischen λόγος gut bezeichnet werden; 505 d: τόδε οὐ φανερόν, ὡς δίκαια μὲν καὶ καλὰ πολλοὶ ἂν ἕλοιντο τὰ δοκοῦντα, κἄν εἰ μὴ εἴη, ὅμως ταῦτα πράττειν καὶ κεκτῆσθαι καὶ δοκεῖν, ἀγαθὰ δὲ οὐδενὶ ἔτι ἀρκεῖ τὰ δοκοῦντα κτᾶσθαι, ἀλλὰ τὰ ὄντα ζητοῦσιν, τὴν δὲ δόξαν ἐνταῦθα ἤδη πᾶς ἀτιμάζει; Nirgends ist der ,dynamische Realismus‘ der Idee deutlicher als in diesem, auch sonst von Platon angestellten Gedankengang: jeder Mensch will in dem Guten Wirklichkeit, er erkennt in ihm seine ἀρετή und sein τέλος, sein innerstes, ernstestes Wollen. Es ist der Ort, an dem er den Maßstab für das Wirkliche, Sinnvolle, ihn selbst Bejahende sucht und findet, eine Sphäre, wo die Lüge und der Irrtum sich selbst aufheben, wo der handelnde, denkende Mensch selbst und die Dinge selbst sich als Welt und Wirklichkeit vereinigen: ὃ δὴ διώκει μὲν ἅπασα ψυχὴ καὶ τούτου ἕνεκα πάντα πράττει, ἀπομαντευομένη τι εἶναι und bei dessen Unklarheit ἀποτυγχάνει καὶ τῶν ἄλλων εἴ τι ὄφελος ἦν. Bezeichnenderweise schwankt noch nach dieser Darlegung Glaukon 506 b: πότερον ἐπιστήμην τὸ ἀγαθὸν φῂς εἶναι ἢ ἡδονήν; ἢ ἄλλο τι παρὰ ταῦτα. Nun folgt die für das Verhältnis von Platon zu S. entscheidende Stelle. Glaukon verlangt von ihm eine genaue Antwort, da er sich doch so lange mit dem Guten beschäftigt habe: Οὐδὲ γὰρ δίκαιον μοι, ὦ Σώκρατες, φαίνεται τὰ τῶν ἄλλων μὲν ἔχειν εἰπεῖν δόγματα, τὸ δ’ αὑτοῦ μή, σοσοῦτον χρόνον περὶ ταῦτα πραγματευόμενον. – Τί δέ, δοκεῖ σοι δίκαιον εἶναι περὶ ὧν τις μὴ οἶδεν λέγειν ὠς εἰδότα; Glaukon tröstet ihn, er brauche ja nur seine Meinung darüber zu sagen. S. zitiert den Menon: soll ich blinde Meinungen δόξας ἄνευ νοῦ, ἄνευ ἐπιστήμης (506c) sagen? βούλει οὖν αἰσχρὰ θεάσασθαι, τυφλά τε καὶ σκολιά, ἐξὸν παρ’ ἄλλων ἀκούειν φανά τε καὶ καλά; Glaukon: Um Gottes willen, stehe nicht kurz vor der Entscheidung ab; es genügt uns, wenn Du so wie über die Gerechtigkeit und σωφροσύνη so auch über die Idee des Guten sprichst. Es folgt also zunächst die bekannte ,Abschlagszahlung‘, τόκος, ἔκγονος τοῦ ἀγαθοῦ, das große Lichtgleichnis. Über den Sinn der Idee des Guten in genauerer Interpretation zu handeln, ist hier nicht der Ort, obwohl sie mehr als es bisher geschehen ist, als eine gewaltige Analyse des sokratischen λόγος auf einer höheren Fläche philosophischer Bewußtheit erwiesen werden kann und muß. Auf dieses Ergebnis deuten die formalen Erwägungen, die Platon hier anstellt und die wir kurz wiedergegeben haben, unzweideutig hin. Es handelt sich um [879] S.s innerstes Thema, das wird ausdrücklich gesagt, aber er kann es nicht als Wissender sagen; er sagt es gleichsam als θεῖος ἀνήρ, der mehr weiß als er weiß. Von diesem psychologischen Motiv eines der ἀνάμνησις entsprechenden Zustandes macht ja Platon im Phaidros ausdrücklich stärksten Gebrauch, und es ist an dieser Stelle klar, wie scharf Platon den Sachverhalt der ἐπίπνοια psychologisch zu analysieren weiß, mit Hilfe des Begriffsapparates des Menon und: der δόξα-Lehre. Das deutliche Selbstzeugnis Platons für die bewußte Umformung des somatischen λόγος in eine andere Form ist natürlich für die Erfassung von S.s und Platons Philosophie gleich wichtig; wer von einer Kritik des S. redet, verfehlt den entscheidenden Gedanken, daß Platon auseinanderlegt, was für ihn in des S. βίος und seiner gesamten Absicht unentfaltet beschlossen lag. Darum liegt in den zitierten Worten 506 c, so deutlich Platon damit auf sich weist, gar keine Überhebung. Man kann einem Lehrer einen schöneren Dank nicht abstatten, als es Platon gerade damit tat, daß er so über ihn hinausging. Mit ein paar Zügen soll dieser Zusammenhang der Idee des Guten mit dem λόγος des S. angedeutet werden, als Übergang zu der ganz parallelen Situation in der Diotimarede des Symposions. Zunächst sei an die S. 874 zitierte Stelle 490 b erinnert, die genau an 508 e anklingt. Dem Licht, das alles sichtbare wirklich geschehen macht, entspricht die Idee des Guten, die das Denkbare wirklich gedacht macht, wobei die drei Participia praesentis γιγνωσκομένοις und γιγνωσκοντι, dann ὡς γιγνωσκομένης unübersetzbar sind und in ihrer Häufung eine besondere Absicht Platons unzweideutig bezeichnen: Τοῦτο τοίνυν τὸ τὴν ἀλήθειαν παρέχον τοῖς γιγνωσκομένοις καὶ τῷ γιγνώσκοντι τὴν δύναμιν ἐποδιδὸν τὴν τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέαν φάθι εἶναι· αἰτίαν δ’ ἐπιστήμης οὖσαν καὶ ἀλήθειαν ὡς γιγνωσκομένης μὲν διανοοῦ. Vorher war das Aufleuchten der ἀλήθεια und des ὃν den Aoristen ἔγνω und ἐνόησε zugeordnet worden; also der Augenblick des Verstehens und Erkennens als eines Geschehens, der im Erkenntnisakte gegenwärtige ωοῦς ist es, von dem Platon hier in halbenthüllten Bildern redet. Die Unmittelbarkeit des sokratischen λόγος, der in dem einzelnen das ,Aufleuchten‘ der Erkenntnis bewirkt, dadurch, daß er sich unterredet, sich verständigt, wird hier erfaßt als ein immer gegenwärtiges Geschehen, das in sich das ruhende Sein erzeugt, und so ist das Gute ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει. So gewährt es γένεσις, αὔξη und τροφή, ähnlich wie das Sonnenlicht nicht nur sehen läßt, sondern auch wachsen und gedeihen. So steht hinter diesem Vergleich jene früher 505 c berührte Kraft des Guten, die den Schein vertreibt und nur Wirkliches zuläßt, die wie das Licht als ein Medium zwischen den Seelen und wahren Dingen Gemeinschaft und ,Allgemeinheit‘, Wahrheit erzeugt, über die man sich verständigen kann und dadurch mit anderen verbunden wird: diese ὁμόνοια ist auch für Platon noch das Urbild, von der die ὁμόνοια πρὸς ἑαυτόν erst abgeleitet ist; für Spätere mag sich das anders darstellen, Diels Vors. 80 B 44 a. Diejenige Allgemeinheit des Begriffes, die zunächst Platon im Auge [880] hat, ist diese hier beschriebene: was als identischer Bedeutungsgehalt, als gemeinter, gewollter Sinn in verschiedenen ψυχαί derselbe ist, ὁ αὐτός λόγος, sie also verbindet und durch ein Gemeinsames bindet, ist zugleich die ,Wahrheit‘,ὁ λόγος αὐτός, das Reich des ,Selbst‘, der αὐτὰ τὰ πράγματα und zugleich der αὐτὴ ἡ ψυχή. Aus diesem Licht, das Einsicht erleben, ἰδέας und εἴδη schauen läßt, und zugleich als nährendes und mehrendes Licht die Erhaltung und Steigerung dieser Kraft im διαλέγεσθαι, auch zwischen den Generationen, schafft, formt sich die platonische παιδεία.

Daß καλὸς κἀγαθός ein Begriff ist, ist bekannt; daß man das καλὸν αὐτό als engste Parallele zum ἀγαθὸν αὐτό auffassen und zur gegenseitigen Erhellung benützen muß, ergibt sich danach als selbstverständliche Pflicht des Interpreten.

3. Symp. 209 e Ταῦτα μὲν οὖν τὰ ἐρωτικὰ ἴσως, ὧ Σώκρατες, κἂν σὺ μυηθείης· τὰ δὲ τέλεα καὶ ἐποπτικά, ὧν ἕνεκα καὶ τοῦτα ἔστιν, ἐάν τις ὀρθῶς μετίῃ, οὺκ οἶδ’ εἰ οἷός τ’ ἂν εἴης. ἐρῶ μὲν οὖν, έφη, ἐγὼ καὶ προθυμίας οὐδὲν ἀπολείψω· πειρῶ δὲ ἕπεσθαι, ἂν οἷός τε ᾖς. Hier ist derselbe gedankliche Zusammenhang wie im Staate, das Vorhergehende erhält erst letzten Sinn durch das, was S. nicht ganz versteht; die ἐπίπνοια wird hier ersetzt durch die Diotimaerzählung. Nach der Rede vorbildliches Verhalten des S. πρὸς τὰ ἐρωτικά; man könnte sagen: ἔργῳ, οὐ λόγῳ ἀπεφήνατο τὴν γνώμην περὶ ταῦτα; deshalb die Alkibiadesrede.

Was steht vor der deutlichen Caesur 209 c, was nachher? Der überreiche Gehalt der Diotimarede soll auf einige Formeln zusammengezogen werden. Eros ist Übergang, Vermittlung. μεταξύ 204 b, Streben an sich, nie am Ziele sein, aber immer das Ziel wollen; im besonderen φιλοσοφία im wörtlichen Sinne, nicht σοφία (S. ist gerade nach dem, was zur Politeia bemerkt wurde, der typische φιλόσοφος; hierin bleibt S. für Platon dauernd Vorbild. In den letzten Phasen scheint Platon sich erneut in den λόγος der sokratischen Persönlichkeit zu vertiefen [s. o. S. 859 zum Phaidros]; von diesem Punkte aus wird ihm immer wieder das Hinausgehen zur θεωρία problematisch, und er fühlt sich auf S. zurückverwiesen). Verbindung von Gegensätzlichem, Syndesmos der φύσις συγγενής wie im Menon, 202 e: ὥστε τὸ πᾶν αὐτὸ αὑτῷ συνδεδέσθαι. 204 d - 205 e: Allgemeine Bedeutung des ἐρᾶν analysiert. 205 e: Ziel des ἐρᾶν; Kombination früherer Motive (Staat 505 b. c), ἔρως nicht τοῦ ὅλου, nicht τοῦ οἰκείου, nicht τῶν ἑαυτοῦ, ἐἂν μὴ τυγχάνῃ γέ που ἀγαθὸν ὄν . . . ὡς οὐδέν γε ἄλλοἐστὶν οὗ ἐρῶσιν ἄνθρωποι ἢ τοῦ ἀγαθοῦ, und zwar genauer, als Gegenvorstellung gegen das rastlose Streben, das im ἔρως liegt, τὸ ἀγαθὸν αὑτῷ εἶναι ἀεί. Das die sokratische Maieutik gewaltig erweiternde Bild: κύησις γέννησις τόκος ἐν καλῷ), 207 A scharfer Einschnitt, neues Gespräch, neuer Gedankengang. Σωτηρία, Erhaltung der Form, der Stoff vergeht ewig wechselnd; 1. in der Erhaltung des γένος als der Gattung, 2. in der Erhaltung des εἶδος, der Formbestimmtheit des einzelnen Individuums (207 d); 3. philosopisch besonders wichtig: ἔρως hält κατὰ τὴν ψυχήν das geistige Individuum [881] als eine Denk- und Lebenseinheit zusammen; οἱ τρόποι, τὰ ἤθη, δόξαι, ἐπιθυμίαι, ἡδοναί, λῦπαι, φόβοι, τούτων ἕκαστα οὐδέποτε τὰ αὐτὰ πάρεστιν ἑκάστῳ. Auch ἐπιστῆμαι! sie wechseln, der ἔρως, hier also Kontinuität des Bewußtseins, bewirkt, daß sie eine scheinen, σῴζει τὴν ἐπιστήμην. 4. Bis jetzt biologisch-psychologische Wendung, nun historische: über die Generationen hinaus bleibt ein lebendiger Kulturzusammenhang, ein Streben nach geistiger Unsterblichkeit, nach κλέος ἐς τὸν ἀεὶ χρόνον ἀθάνατον. Schließlich wird der eigentliche ἔρως im engeren Sinne geschildert, als Gemeinschaft stiftendes Band zwischen jüngeren und älteren Männern, Erzeuger höchster ἀρετή und φρόνησις (209 a): πολὺ δὲ μεγίστη καὶ καλλίστη τῆς φρονήσεως ἡ περὶ τὰ τῶν πόλεών τε καὶ τῶν οἰκήσεων διακόσμησις, ᾗ δὴ ὄνομά ἐστι σωφροσύνη τε καὶ δικαιοσύνη; . . . der liebende ἐυπρορεῖ λόγων περὶ ἀρετῆς … καὶἐπιχειρεῖ παιδεύειν, stiftet eine viel größere Gemeinschaft (κοινωνία, c) als die durch leibliche Kinder.

Bis zu dieser Schilderung einer vom männlichen ἔρως durchwalteten Gemeinschaft, einer durch παιδεία als Einheit gedachten πόλις, die der ,Staat‘ mannigfach ausgestaltet, rechnet Diotima sicher auf das Verständnis des S., wie ihn ja auch der Staat ohne Vorbehalt alle die politischen Einrichtungen, die παιδεία und die für die Zwecke der Bindung der Gemeinschaft besonders ausgestaltete Erotik darstellen läßt; erst als es sich um eine theoretische, zusammenfassende Idee handelt, wird im Staate und genau so hier im Symposion, die Grenze gezogen. Die Parallele zwischen dem αὐτὸ τὸ καλόν und αὐτὸ τὸ ἀγαθόν zur Interpretation beider so wichtigen platonischen Lehren auszuwerten, ist hier nicht der Ort, und außerdem ist es ja gerade das, was über S. hinausweist. Auch im Symposion wird von einem höchsten μάθημα gesprochen (211 e), und eine ἐπιστήμη ist es, die sich dieses Schönen bemächtigt (210 d), so stark hier die Farben der mystischen Schau von Platon aufgetragen sind. Freilich wäre nichts verkehrter, als die eigentümliche ἐπαγωγή von den schönen Leibern (genauer: Individuen, σώματα im griechischen Sinne) zu den Seelen, ἐπιτηδεύματα νόμοι usw. bis zum ἀὐτὸ τὸ καλόν als irgend eine Art induktiver Abstraktion aufzufassen, wozu manche Erklärer neigen. Wenn oben gesagt wurde, daß das ,Allgemeine‘ des Platon – und natürlich auch das des S. – dasjenige ist, was in verschiedenen konkreten Personen der gemeinsame sie verbindende geistige Gehalt ist, so kann auch diese ,Induktion‘ über die verschiedenen ἐρώμενοι usw. nur das Einordnen des ἔρως in eine alle bindende Ordnung sein; diese bezieht alle persönlichen Empfindungen auf einen allgemeinen Quellpunkt, aus dem alle Kraft der Bindung ausstrahlt, auf den hin jedes Streben des Menschen gerichtet ist. In welchem Sinne tatsächlich Platon das Aufgeben des persönlichen ἕρως für notwendig hielt, könnte erst eine genauere Durchforschung der Erotik der Politeia von den Gesichtspunkten des Symposion aus verdeutlichen. Inwiefern S. zu dieser Steigerung des Eros über die individuelle Erotik hinaus – die alles andere als Entsagung ist – wieder in seinem βίος, also [882] ἔργῳ, ein Beispiel gab, das lehrt der letzte Teil des Symposions; und so kann dieser Dialog als eine letzte Bestätigung für den aus einem göttlichen Quell gespeisten Tatlogos des S. angesehen werden; dem S., nicht seiner Lehre, wohl aber seinem Tun darf zuerkannt werden, womit die Diotimarede schließt: τίκτειν οὐκ εἴδωλα ἀρετῆς, ἀλλὰ ἀληθῆ, … τεκόντι ἀρετὴν ἀληθῆ καὶ θρεψαμένῳ θεοφιλεῖ γενέσθαι καὶ εἴπέρ τῷ ἄλλῳ ἀνθρώπων ἀθανάτῳ καὶ ἐκείνῳ.

V. Die aristotelischen Zeugnisse. Zwei Gruppen von Zeugnissen lassen sich deutlich unterscheiden, diejenigen über die Wissensethik und die nach mancher Richtung wissenschaftlich interessanteren über die Logik des S. Alle Zeugnisse sind von H. Maier 77 zusammengestellt und behandelt. Als Beispiel der ersten Gruppe genüge Eth. Nik. VI. 13. 1144 b 18ff. διόπερ τινές φασι πάσας τὰς ἀρετὰς φρονήσεις εἶναι, καὶ Σωκράτης τῇ μὲν ὀρθῶς ἐζήτει τῇ δ’ ἡμάρτανεν· ὅτι μὲν γὰρ φρονήσεις ᾤετο εἶναι πάσας τὰς ἀρετάς, ἡμάρτανεν, ὅτι δ’ οὐκ ἄνευ φρονήσεως, καλῶς ἔλεγεν. σημεῖον δέ· καὶ γὰρ νῦν πάντες ὅταν ὁρίζωνται τὴν ἀρετήν, προστιθέασι τὴν ἕξιν, εἰπόντες καὶ πρὸς ἅ ἐστι, τὴν κατὰ τὸν ὀρθὸν λόγον· ὀρθὸς δ’ ὁ κατὰ τὴν φρόνησιν. Eth. Eudem. XV 1216 b, 2ff. Σ. μὲν οὖν ὁ πρεσβύτης ᾤετο εἶναι τέλος τὸ γινώσκειν τὴν ἀρετήν, καὶ ἐπεζήτει τί ἐστιν ἡ δικαιοσύνη καὶ τί ἡ ἀνδρεία καὶ ἕκαστον τῶν μορίων αὐτῆς. Dazu Große Ethik I 1, 1182 a, 15ff. II 6 1200 b, 25.

Die Forschung ist überwiegend interessiert für die Quellenfrage: Woher stammen diese Nachrichten? Wie ist innerhalb der Stellen im aristotelischen Corpus die Abhängigkeit? Dann im besonderen, da Platon als Quelle anzunehmen am nächsten liegt, welche Stellen beziehen sich ausdrücklich auf den platonischen S.? Den Versuch von Taylor Varia Socratica, First series, Oxford 1911, 42ff., ὁ Σωκράτης auf die platonische Dialogfigur, Σωκράτης auf den historischen zu beziehen, und das Tempus zu beachten, φησί auf die Figur, ἐζήτει aber auf den historischen zu beziehen, möchte ich nicht so abweisen wie H. Maier 80, 2; obwohl keine absolute Sicherheit hierin möglich ist, können Zusätze wie ὁ πρεσβύτης alles klären. Die Versuche, bestimmte platonische Dialoge, gar bestimmte Stellen als die Quellen zu erweisen, erscheinen mir aussichtslos; Aristoteles wird, wie meist der antike Mensch, aus dem Gedächtnis zitiert haben und nach der Gesamtvorstellung, die sich ihm aus der Lektüre Platons und einer reichen, uns verlorenen sokratischen Literatur, und, wie man doch nicht vergessen sollte, aus Gesprächen mit Platon und anderen Zeitgenossen des S. gebildet hat. Daß das ,Zerwürfnis mit Platon‘ Aristoteles irgendwie in seinem Glauben an dies oder jenes S.-Bild bestimmt haben könnte, braucht heute nicht mehr erwogen zu werden. Die Aufgabe, die meines Erachtens vor allem der Forschung auch hier erwächst, ist wieder die formale: Wie hat der veränderte Typus des aristotelischen Philosophierens, der ihn schon Platons Philosophie in derselben Weise wie diesen die sokratische innerlich umformen ließ, auch eine Metamorphose des S. ins Aristotelische bewirkt? Da diese Aufgabe für das Verhältnis von Platon [883] und Aristoteles noch in weitem Umfange ungelöst ist, ist eine zulängliche Behandlung dieses Teilproblemes kaum möglich. Nach allem hier Entwickelten ist aber aus den beiden zitierten Stellen die weitgehende Aufspaltung des sokratischen Tatlogos ganz sichtbar. Die kompakten, wirklich konkreten Begriffe der archaischen Logik, wie sie z. B. an der γνώμη aus allgemeinem Sprachgebrauch aufgewiesen werden konnten, fallen dem Fortschritt der Analysis, dem unausweichbaren Verhängnis der ,Geistverfeinerung‘ (W. v. Wilhelm von Humboldt) anheim, das nun durch die notwendig immer schwerer werdende Synthesis des Zerstreuten aufgehoben werden muß. Aristoteles hat diese Leistung der geschlosseneren Form der platonischen Philosophie gegenüber vollbracht; zu einer Reflexion auf die φρόνησις des S. war der Weg der Geistesgeschichte bereits zu weit geworden und die Anspannung historischer Rückschau zu gering. Und so stellt Aristoteles an jenen Stellen lediglich fest, daß φρόνησις nicht mehr Handeln und Wissen zugleich ist, weil seine eigene Vorstellung von φρόνησις sich gewandelt hat, weil die Entwicklung zur θεωρία geradlinig (Jaeger Arist. 418) weitergegangen ist.

Für die logische, Lehre des S. steht es nicht viel anders. Die beiden entscheidenden Stellen sind Metaph. A 987 b 1 Σωκράτους δὲ περὶ μὲν τὰ ἠθικὰ πραγματευομένου, περὶ δὲ τῆς ὅλης φύσεως οὐδέν, ἐν μέντοι τούτοις τὸ καθόλου ζητοῦντος καὶ περὶ ὁρισμῶν ἐπιστήσαντος πρώτου τὴν διάνοιαν, ἐκεῖνον ἀποδεξάμενος (Πλάτων) διὰ τὸ τοιοῦτον ὑπέλαβεν ὡς περὶ ἑτέρων τοῦτο γιγνόμενον καὶ ὐ τῶν αἰσθητῶν· ἀδύνατον γὰρ εἶναι τὸν κοινὸν ὅρον τῶν αἰσθητῶν τινός, ἀεί γε μεταβαλλόντων.

In Metaph. M 3 ausführlicher, erst dieselben Anfangsworte, 1078 b 17, dann 23: ἐκεῖνος εὐλόγως ἐζήτει τὸ τί ἐστιν· συλλογίζεσθαι γὰρ ἐζήτει, ἀρχὴ δὲ τῶν συλλογισμῶν τὸ τί ἐστιν. διαλεκτικὴ γὰρ ἰσχὺς οὔπω τότ’ ἦν ὥστε δύνασθαι καὶ χωρὶς τοῦ τί ἐστιν τἀναντία ἐπισκοπεῖν, καὶ τῶν ἐναντίων εἰ ἡ αὐτὴ ἐπιστήμη (die letzten sieben Worte, καὶ – ἐπιστήμη hält H. Maier Syllogistik II 2, 168, 4 für einen Einschub, trotz [Alexander] 741, 15 Hayd.). δύο γάρ ἐστιν ἅ τις ἂν ἀποδοίη Σωκράτει δικαίως, τοὺς τ’ ἐπακτικοὺς λόγους καὶ τὸ ὁρίζεσθαι καθόλου. ταῦτα γάρ ἐστιν ἄμφω περὶ ἀρχὴν ἐπιστήμης. ἄλλ’ ὁ μὲν Σωκράτης τὰ καθόλου οὐ χωριστὰ ἐποίει οὐδὲ τοὺς ὁρισμούς . . .

Diese Stellen Bind von H. Maier Sokr. 91 auf Grund seiner im wesentlichen festgehaltenen Interpretationen der ,Syllogistik des Aristoteles‘ ausführlich besprochen worden. Der grundsätzliche Wandel seiner sonstigen Anschauungen ergibt sich etwa aus dem Vergleich von Sätzen wie Syllogistik II 2, 109: ,Aristoteles greift, indem er der Ideenlehre diese Wendung (zur Immanenz) gibt, über Platon auf S. zurück. Gewiß ist, daß in der aristotelischen Begriffsmetaphysik erst der Grundgedanke des sokratischen Philosophierens zu voller Wirklichkeit gelangt.‘ Dagegen Sokrates 102: ,Aristoteles ist selbst der Urheber jener Geschichtskonstruktion geworden, die S. als den Begründer der Begriffslehre betrachtet, die platonische Ideenlehre als eine Weiter- oder vielmehr Umbildung derselben und damit als eine Abweichung von der sokratischen Linie beurteilt, in der aristotelischen Begriffsmetaphysik dagegen [884] die gradlinige Fortsetzung und Vollendung der sokratischen Begriffsphilosophie erblickt – einer Konstruktion, die die Historiker bis zum heutigen Tage irregeführt hat.‘ Während also bei der früheren Auffassung Maiers Platon aus der Linie S.-Aristoteles herausfällt, scheint jetzt S. in der Tat aus der natürlichen Linie der Entwicklung hinausgedrängt zu werden, von der ,klassischen Linie Platon–Aristoteles zum Kynismus‘. W. Jaeger DLZ 1915, 388.

Dies sind allgemeine Bedenken gegen H. Maiers Ergebnisse. Aber auch seine Quellenbehandlung, von der oben schon gesprochen wurde anläßlich der Interpretation von Xenoph. mem. IV 6, muß von vornherein als unwahrscheinlich gelten. Aristoteles soll zu seiner ,in hohem Grade sonderbaren‘ Behandlung des S. an der späteren Metaphysikstelle durch seine enge Abhängigkeit von diesem Memorabilienkapitel geführt worden sein. Dieses Kapitel soll aber – wir glauben gezeigt zu haben, daß diese Annahme unbegründet ist – von Platonstellen abhängig sein. Dann wäre es aber doch viel natürlicher, Platon selbst als Quelle anzunehmen, was nach Maier bei den ethischen Stellen ja auch der Fall ist. Doch unabhängig von diesen Bedenken ist die auf rein aristotelischem Boden sich bewegende Erklärung der äußerst schwierigen Stelle über die διαλεκτικὴ ἰσχύς, in der H. Maier ohne Zweifel den richtigen Weg gewiesen hat. Man muß dialektische Syllogismen von apodeiktischen unterscheiden, vorwissenschaftliche und im engeren Sinne wissenschaftliche (Syllogistik II 2, 64), d. h. solche, deren Prinzip der Wesensbegriff ist (ebd. 168). Ist diese Erklärung richtig – und die bei H. Maier reichlich nachgewiesenen Parallelen machen es überaus wahrscheinlich – so hat Aristoteles durchaus mit seinem Begriff der Dialektik hier gearbeitet, der von dem platonischen und gar von dem sokratischen an der oben S. 856f. besprochenen Xenophonstelle sehr weit abliegt. Denn für des S.s λόγος war ja gerade charakteristisch, daß sein διαλέγεσθαι, ,sich unterreden‘, unmittelbar ,Sinn‘-Suchen und -Erwecken war; wie sollte er bloß dialektische, vorbereitende Hinführung zum Wissen und eigentliche Wissenschaft bei seinem Gegenstande, den ἠθικά und πολιτικά, haben scheiden können! Das ist erst eine aristotelische Scheidung, und wahrscheinlich entsprungen aus der Überbietung der platonischen diäretischen Dialektik durch seine eigene Syllogistik (H. Maier Syll. II 6, 70. Stenzel Studien 58). Was bei dieser Erklärung nun zunächst frappiert, ist die eigentümliche Konstellation, die in dem ,noch nicht‘ sich ausdrückt: Es gab noch nicht eine vorwissenschaftliche Dialektik; es gab nur Dialektik, die auf das τί ἐστιν gerichtet ist! Die Erklärung ergibt sich aus der ganzen Tendenz, in der die Nachrichten über S. bei Aristoteles aufzufassen sind. Nach W. Jaeger Aristoteles 98 schreibt Aristoteles in der Opposition gegen eine akademische Richtung, die bei dem Versuche, Sokratisches und Platonisches zu scheiden, dem S. jede eigentliche Lehre abgesprochen hatte. Daher sagt Aristoteles: Zweierlei muß man dem S. der Gerechtigkeit wegen lassen, die Induktionen und die allgemeinen Begriffsbestimmungen.[885] Bedenkt man, daß in der Chorismospolemik Aristoteles immer dem S. gegen die Platoniker recht gibt, so wird man in der merkwürdigen Stelle über die ἰσχὺς διαλεκτική vielleicht eine Spitze gegen die Platoniker sehen dürfen. Wer dem S. wissenschaftliche Lehren absprach, der konnte eigentlich nur auf den bekannten Vorwurf bloß eristischer Elenktik zurückgreifen, und es ist anzunehmen, daß auch diese Richtung in der platonischen Akademie, gegen die sich Aristoteles wandte, das Nichtwissen gegen ihn ausspielte. Nun gewinnt unsere Stelle eine leicht ironische Färbung, wie sie Aristoteles oft genug in solchen Fällen hat. S. versuchte zu schließen (συλλογίζεσθαι, wie Maier Sokr. 92, 2 zeigt, auch hier im allgemeinen Sinne, wie häufig in den platonischen Dialogen, also ähnlich wie λογίζεσθαι); er wurde daher auf das τί ἐστιν geführt; denn die (platonische) Kunst der Dialektik ohne Wesensbegriff gab es noch nicht; was ihr Platoniker dem S. vorwerft, Scheinbeweise geführt zu haben, trifft gerade eure diäretische Definitionsmethode, durch die ihr S. überbieten wollt (ἰσχύς scheint bei Aristoteles kein spezifischer Ausdruck für geistige Kraft zu sein, würde sich also in diese ironische Sinngebung fügen). Dieser Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß S.s ὀρίζεσθαι, wie o. S. 864 gezeigt, zunächst in der Abgrenzung des einen Begriffes gegen sein Gegenteil bestand, meistens mit einem Wertgesichtspunkt verbunden. S. sah ein – und das rühmt Aristoteles –, daß man etwa zur Frage, ob die Lust ein Gut oder ein Übel ist (so erläutert Alexander 741. 15 das τἀναντία σκοπεῖν) erst die ἠδονὴ καθόλου erfassen müsse. Daß S. dies zunächst durch Bedeutungserfassung des Wortes erreichen wollte, durch den lebendigen Gebrauch der Rede, daß weiter Platon diese sokratische Manier aufs treueste schildert, das brauchte den Aristoteles in der komplizierten Situation der damaligen S.-Kontroverse durchaus nicht zu hindern, diesen archaischen ὁρισμός des S. gegen die aktuelle diäretische Form der platonischen Dialektik auszuspielen. Wie weit Aristoteles hier über gewisse Absichten der Diairesis hinweggeht und sie zu ganz anderen logischen Leistungen umbildet, als ihr ursprünglich zugrunde liegen, das bleibe hier unerörtert. Seine Einwände gehen nach folgender Richtung: in der Diairesis werden unter einen Oberbegriff zwei ἐναντία gebracht; der entscheidende Schluß, ob ein Lebewesen sterblich oder das Gegenteil ist, wird erschlichen; das Definiendum, das τί ἐστιν wird bei dieser Wahl als bekannt vorausgesetzt, andererseits ist die Bestimmung des τί ἐστιν, das ἄτομον εἶδος Ziel des Verfahrens – das sind die Einwände, die Aristoteles gegen die Diairesis, diesen ἀσθενὴς συλλογισμός erhebt (Analyt. pr. A 31 p. 46 a 31ff.). Wenn, wie es o. S. 860 wahrscheinlich gemacht wurde, Platon im Phaidros der sokratischen Definitionstechnik durch seine διαίρεσις, sein ἄτομον εἶδος nachhelfen zu können glaubte, so gewinnt diese Konfrontation nun eine sehr scharfe Pointe. Wenn wir an den Kratylos denken und die Bedeutung, die er für das Verhältnis von somatischem und platonischem λόγος-Begriff hat, für die allmähliche Transzendenz der reinen ,Wesenheiten‘ über die immanenten ,Bedeutungen‘ [886] des S. – immanent dem konkreten Meinen im lebendigen Zusammenhang wirklicher sinnerfüllter Rede und Verständigung –, so ermißt man die gewaltige Umdeutung der Gedanken, durch die Aristoteles von seinem ganz anderen Immanenzgedanken her den sokratischen λόγος neu deutet. So hat denn auch Aristoteles die hier zugrundegelegte Auffassung bestätigt, daß S. ein seinem Wesen nach mehrdeutiges, in die Sprache der jeweiligen Begrifflichkeit übersetzbares Phänomen ist. Diese Erkenntnis ist kein Skeptizismus, sondern der einzige Weg zum historischen S., der z. B. nun zur äußeren Übereinstimmung der innerlich so verschiedenen aristotelischen und xenophontischen Zeugnisse für die Ethik des S. geführt hat. Eine ‚Rückübersetzung‘ hat zur Voraussetzung, sich auf verschiedene philosophische Stile, ,Formen‘ (W. Jaeger) einzustellen – eine Unternehmung, die wegen der inneren Kompliziertheit gerade der sog. einfachen philosophischen Sachverhalte hier ihre besonderen Schwierigkeiten hat. So stoßen in dem Punkte, den S. mit unerschütterlicher Zähigkeit zum Mittelpunkt seiner Gedanken machte, dem zielgerichteten Ton, der sinnvollen Handlung eigentlich alle denkbaren systematischen Schwierigkeiten der Logik, Psychologie und Ethik zusammen, Gebiete, die im Rahmen der griechischen Kultur noch stark auf die Grenzgebiete der Ästhetik und Politik – wenn man will Soziologie – hinübergreifen und außerdem eine nicht einfache Situation der Einzelwissenschaften (Medizin, Mathematik, Akustik) bereits voraussetzen.

Die Entfaltung des sokratischen Kernes in den Schülern steht unter zwei Gesetzen. 1. Unter dem Gesetz der Differenzierung und Reaktion; bei der Rolle, die die Person als Problem und das historische Faktum S. selbst im sokratischen Logos spielte, ist es möglich, daß eine Richtung seiner Schüler auf seine persönliche ἕξις den entscheidenden Nachdruck legte, und sich der Entfaltung des Wissens im theoretischen λόγος beharrlich widersetzte; das entfaltete Wissen ging in der Tat ja über S. selbst hinaus (Der Gegensatz von Antisthenes und Platon). 2. Die elementare Wucht, mit der S. sich über die gesamte bereits widerspruchsvoll gewordene Wissenschaft und Aufklärung hinwegsetzte, einen neuen Anfang stabilierte und doch im Grunde die in der griechischen Philosophie angelegte Bewegung zur Befreiung, d. h. Selbstbindung des Geistes nur gewaltiger fortsetzte, mußte bei allen seinen Schülern zu einem Einmünden in die Wege der ionischen Wissenschaft und Aufklärung führen. So geht nach der produktiven Stauung durch die attische Philosophie, d. h. durch S.,die gesamt-griechische Bewegung der Philosophie ihren Gang weiter. Je nach der Tiefe, mit der die Sokratiker die Tat des S. begriffen haben, sind sie leichter oder schwerer dem Druck der gesamtgriechischen Entwicklung unterlegen, ohne die sokratische Kraft zur Umformung voll zu nutzen. So ist es Antisthenes und Aristippos nicht gelungen, die eigentliche sophistische Vergangenheit zu überwinden, Eukleides bleibt stark elea-tisch. Platon hat am umfassendsten zugleich S. und vorsokratische und zeitgenössische Philosophie in seiner Lehre zum Ausdruck gebracht; [887] daß beides in einem Philosophen zusammengehen kann, ist für Platon, S. und die Sache der Philosophie von tiefer Bedeutung. Dies bedeutet keine Herabsetzung der sog. kleinen Sokratiker, die als Vermittler der attischen Philosophie mit den persönlichen und politischen Mächten des Hellenismus von höchster Wichtigkeit sind; der absolute Herrscher und der stadtfremde Individualist können mit den schillernden Farben des sokratischen Lebens gemalt werden. Es sei wieder an die drei bei S. so merkwürdig in eins gesetzten Probleme erinnert, um dem naheliegenden Einwand zu begegnen, es werde die durchgehends hier zugrunde gelegte politische Orientierung des S. durch die apolitischen Motive der sokratischen Schulen widerlegt. Man denke sich nur das von S. mit der gläubigen Tatkraft und dem Tatglauben des alten Attikers hergestellte, von Platon mit tiefer spekulativer Kraft aufrechterhaltene Gleichgewicht jener drei Züge gestört, und man kann, je nach der Betonung des einen oder anderen Zuges, die skeptisch-dialektischen, ekstatischen (Aischines) oder ethisch-subjektivistischen Möglichkeiten der anderen Sokratiker aus jener Tafel ablesen. Weil die Polis-Vorstellung des S. und Platon so innerlich erfaßt war und auch bei ihnen zur Ausbildung des individuellen Selbstbewußtseins beitrug, konnte bei den veränderten politischen Aspekten der ganzen Zeit und der einzelnen Sokratiker – die zum Teil Nicht-Attiker waren! – aus dem sokratischen Ideal die Überspannung der Autarkie entstehen. Daß die kyrenaische Lustlehre nicht ,eine polare Umkehrung der sokratischen Ethik‘ ist (so. Cassirer-Hoffmann in Dessoirs Lehrbuch der Philos. Gesch. d. Phil. 137), sondern die individualistische Verengung eines sokratischen Grundzuges, ergab sich oben aus der Interpretation von Staat 505 b. Von derselben Stelle aus fiel einiges Licht auf die eigentümlich nominalistische Lehre der Megariker, die das Gute als eleatisches Eins dem Namen Gottes, der φρόνησις, des νοῦς entgegengestellten (Diog. II 106), wie andererseits die große Bedeutung der Sprache für die Lehre des S. mit antisthenischen Lehren zusammenging. Die gegenseitige Erhellung der zwar fragmentarischen, dafür auf scharfe Formeln gebrachten Dogmata einerseits, der ganz erhaltenen, aber in ihren problemhistorischen Pointen nicht ohne weiteres durchsichtigen Schriften andererseits, ferner die vergleichende Betrachtung von Problemzusammenhängen und größeren Motivgruppen scheint mir der gegebene Weg zu sein, um hinter die konkreten philosophischen Absichten eines Antisthenes, Eukleides, Aristippos zu kommen. Wahrscheinlich würde eine zusammenfassende Untersuchung der unechten oder verdächtigen Schriften Platons für die gesamte Sokratik noch mancherlei ergeben. Neben der Gewinnung von ,Fragmenten‘ durch Aufweis einzelner ,Anspielungen‘ und ,literarischer Fehden‘ – Dingen, die bei der trümmerhaften Überlieferung über eine Wahrscheinlichkeit selten hinausgeführt werden können – kann die in dieser Darstellung versuchte formale Betrachtung paralleler Gedankenreihen, systematisch auf die anderen Sokratiker ausgedehnt, für den überall identischen sokratischen Kern noch weitere Ergebnisse [888] liefern, grade für des S. Verhältnis zur Sprache, von dem hier ausgegangen wurde. Zu den in diesen Bereichen auftretenden logischen Problemen vgl. Hönigswald Philos. d. Altert. 123–344. Zur Überlieferung die (ungedruckte) Breslauer Diss. 1922 von E. Clausnitzer De Socraticor. min. memor., mit Fragmentnachweisen.

Von diesem durch verschiedene Medien und individuelle Gesichtspunkte mannigfach gebrochenen Bilde des S. aus sind auch die modernen S.-Bilder zu verstehen. Es ist klar, daß auch die scheinbar diametral entgegengesetzten Deutungen sich einfach genug erklären lassen. Wer glaubt, an einer Quelle sich orientieren zu dürfen, muß notwendig von seinem modernen Denken aus die Übertreibung seiner Quelle noch weiter steigern. So erklären sich die einseitig religiösen, wie die wissenschaftstheoretischen, politischen, eristischen Auffassungen. Sie sind unter den willkürlich gewählten Voraussetzungen alle gleich möglich; der λόγος des S. hat in der Tat die Geschichte dieses Wortes in sich vorweggenommen: er faßt Religiöses und Logisches zusammen. Die religiösen Deutungen können stärker oder schwächer modernisieren. Man kann an S. mit dem Apparat moderner Religionspsychologie herangehen, wie E. Horneffer Der junge Platon, H. Gomperz in seiner schon genannten psychoanalytischen Betrachtung, auch E. Howald Platons Leben, Zürich 1923, 15ff.; gemildert in der ,Ethik des Altert.‘ 26ff. (Handb. d. Philosophie, herausg. von A. Baeumler und M. Schroeter); man kann andererseits S. zum Anhänger antiker Mysterien machen, Taylor Varia Socratica first series 129ff. und alle Züge des S. aus dem Phaidon auf den historischen S. übertragen. Die Beweise, die Taylor aus den Wolken für seine Auffassung bringt, rollen die Frage des aristophanischen Bildes von einer neuen Seite auf. Gibt man, wie nötig, der Komödie das Recht der Übertreibung, so kann man sich wohl damit einverstanden erklären, daß auch der historische S. wie der platonische von Mythen sprach, allerdings so: τὸ μὲν οὖν ταῦτα διισχυρίσασθαι οὕτως ἔχειν ψς διελήλυθα, οὺ πρέπει νοῦν ἔχοντι (Phaidon 114 d). Die Bedeutung, die nach dieser Richtung den Wolken zugesprochen werden kann, gibt zu denken; jedenfalls kann unmöglich aus den letzten Endes doch bloß äußerliche Züge bietenden anderen Komödienfragmenten, die von S. sprechen, der Schluß gezogen werden, daß die zeitgenössische Komödie das kynische S.-Bild bestätige und deshalb dieses ,das richtige‘ wäre (so H. Gomperz Histor. Ztschr. 129. 423).

VI. Bildnisse des Sokrates. v. Wilamowitz sagt Antigonos v. Karystos 148: ,Das bizarr häßliche und doch faszinierende antlitz war keineswegs bloß für den künstler ein problem bedeutender unschönheit, oder auch der Schönheit ohne schöne form: sokrates’ körperbildung hat notorisch den anstoß zur physiognomik gegeben, und wer sein geistiges bild festhalten wollte, der konnte nicht das zufällige abstreifen: denn hier war alles charakteristisch, man mochte ihn porträtieren in welchem stile man wollte, als heros oder hanswurst, nur durch das, was sonst als kleinlich fortfallen mußte, ward dies porträt ähnlich‘. Von keines Philosophen Äußerem wird [889] so viel wie von dem des S. gesprochen; auch darin spricht sich seine Lehre aus: sie war das Leben des individuellen Menschen, zu dessen Eidos der Leib notwendig gehört.

In den verschiedensten platonischen Dialogen finden sich Anspielungen auf des S. äußere Erscheinung. S. wird im symp. 215 aff. ganz allgemein mit dem Silen verglichen; im xenophontischen Symposion V 7 vergleicht sich S. selbst mit dem Silen. Als charakteristische Eigentümlichkeiten werden erwähnt die stumpfe Nase, die hervorquellenden runden Augen. Plat. Theait. 143 e sagt Theodoros von Theaitetos: προσέοικε δὲ σοὶ τήν τε σιμότητα καὶ τὸ ἔξω τῶν ὀμμάτων· ἧττον δὲ ἢ σὺ ταῦτ’ ἔχει. ,Und das Tertium comparationis mit der äußeren Erscheinung der Krampfroche, im Menon (80 a) können nur die großen runden, nach außen gestellten? Fischaugen sein: καὶ δοκεῖς μοὶ παντελῶς, εἰ δεῖ τι καὶ σκῶψαι, ὁμοιότατος εἶναι τό τε εἶδος καὶ τἆλλα ταύτῃ τῇ πλατείᾳ νάρκῃ τῆ θαλαττίᾳ (Kekulé v. Stradonitz Die Bildnisse des Sokrates, Abhdl. d. kgl. preuß. Akad. d. Wiss. 1908, 37). Xenoph. symp. V 5. 6: οἱ μὲν σοὶ [ὀφθαλμοί] τὸ κατ’ εὐθὺ μόνον ὁρῶσιν, οἱ δὲ ἐμοὶ καὶ τὸ ἐκ πλαγίου διὰ τὸ ἐπιπόλαιοι εἶναι . . οἱ μὲν γὰρ σοὶ μυκτῆρες εἰς γῆν ὁρῶσιν, οἱ δὲ ἐμοὶ ἀναπέπτανται, ὥστε τὰς πάντοθεν ὀσμὰς προσδέχεσθαι. Τὸ δὲ δὴ σιμὸν τῆς ῥινὸς . . . οὐκ ἀντιφράττει, ἀλλ’ ἐᾷ εὐθὺς τὰς ὄψεις ὁρᾶν ἃ ἂν βούλωνται. Großer Mund mit wulstigen Lippen: Xenoph. a. O. τοῦ γε μὴν στόματος, ἔφη ὁ Κριτόβουλος ὑφίεμαι. εἰ γὰρ τοῦ ἀποδάκνειν ἕνεκα πεποίηται, πολὺ ἂν σὺ μεῖζον ἢ ἐγὼ ἀποδάκοις. διὰ δὲ τὸ παχέα ἔχειν τὰ χείλη οὐκ οἴει καὶ μαλακώτερόν σου ἔχειν τὸ φίλημα; Fettleibigkeit: II 19 ἢ τόδε γελᾶτε, εἰ μείζω τοῦ καιροῦ τὴν φαστέρα ἔχων μετριωτέραν βούλομαι ποιῆσαι αὐτὴν. Aus Aristot. Histor. animal. 491 b, 17 führt Kekulé noch die ,nach außen in die Höhe gespannten Augenbrauen‘ an; dort ist freilich nur vom εἴρων allgemein die Rede.

Eine größere Anzahl von plastischen Darstellungen des S. ist uns erhalten. Ob auch nur eine von ihnen, die trotz aller Verschiedenheit sämtlich den Silenscharakter mehr oder weniger betonen, auf einem nach dem Leben gefertigten S.-Bildnis beruht, darüber gehen die Meinungen der Archäologen völlig auseinander. (Die einzige, zudem noch in den Zeitbestimmungen unklare Nachricht über eine nach S.s Tode von den sofort reuigen Athenern gestiftete S.-Statue des Lysippos bei Diog. Laert. II 43.) Es wird im allgemeinen jetzt angenommen, daß das beste der erhaltenen S.-Bildnisse, eine Herme im Louvre (Kekulé a. O. nr. 14/15) und ihre Varianten (Kekulés 1. Reihe) auf ein Porträt Lysippi-schen Stiles zurückginge, und daß der 2. Reihe Kekulés, deren bedeutendste Repräsentanten eine Neapler Büste und ein Münchner Bronzekopf sind (Kekulé nr. 16 bezw. 38), ein älteres, womöglich zeitgenössisches Porträt zugrunde läge, während der Hauptvertreter der 3. Reihe Kekulés, ein Kopf aus der Villa Albani in Rom (Kekulé nr. 20) eine zwar gute, aber durch ihre übertreibende Betonung des charakteristischen Silenstypus späte Arbeit sei. Ganz neuerdings ist durch eine Erwerbung des Britischen [890] Museums eine Statuette bekannt geworden (Journ. hell. stud. XLV [1925] pl. X-XIII. p. 255. Arndt-Lippold Griech. u. röm. Porträts. Taf. 1049–50), die Studniczka dem Lysippos zuschreibt und zu der der Pariser Kopf passen soll – doch sind auch hier die Meinungen strittig. Vgl. im übrigen die archäologische Literatur in Praechters Grundriß12 132.

VII. Literatur. Die einzelnen Sokratiker werden bereits als Personen und nach ihrer Schulzugehörigkeit behandelt, als Kyniker, Kyrenaiker, Megariker; auf diese Artikel sei also verwiesen, sowie auf den die archaische Logik darstellenden Art. Logik.

Die unübersehbare Literatur ist von P. Bizoukides Ἐπιστμμονικαὶ πηγαὶ περὶ Σωκράτους, Lpz. 1921 alphabetisch zusammengestellt worden; die bloßen Titel umfassen 31 Seiten; die höchst wichtigen Darstellungen, die nicht den Namen des S. im Titel enthalten, sind gelegentlich herangezogen; so Ed. Meyer Gesch. d. Altertums IV; bei einer Ergänzung würde es sich empfehlen, bei so allgemeinen Werken die Seite (hier 429) anzugeben. Die Platonliteratur ist natürlich oft viel wichtiger als Zeitschriften- und Zeitungsaufsätze über Sokrates. Schließlich sind alle zusammenfassenden Darstellungen der griechischen Philosophie gelegentlich auch für Einzelfragen von Interesse. Für diese ist sonst auf Praechters ebenso selbständige wie in den Literaturangaben ausreichend vollständige Übersicht im ,Grundriß‘ von Überweg-Heinze wie immer in erster Linie zu verweisen.