Seite:Die Gartenlaube (1866) 143.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

darbot, als das Hinaufklimmen, und auch noch manche andere Fährlichkeiten zu bestehen waren. Auf dem Grand-Plateau ließ es sich Loppé nicht nehmen, noch einige Gletscher-, Eis- und Schneefelderstudien zu zeichnen, die wir in ihrer Ausführung später auf Genfer Ausstellungen wegen ihrer überwältigenden Naturwahrheit bewundern konnten. In der Hütte an den Grands-Mulets wurde zwei Stunden ausgeruht und ein stärkendes Mahl eingenommen, während sich draußen ein Gewitter entlud, und um sieben ein halb Uhr Abends langten die Reisenden, zwar ermüdet, aber höchst befriedigt von ihren Erlebnissen und den gewonnenen reichen Eindrücken aller Art, in Chamounix wieder an.[1]

Ein von der Direction der Führercompagnie zu Chamounix am Schluß der Saison 1865 aufgestelltes Verzeichniß giebt die Gesammtzahl der Montblancbesteigungen von 1786 bis heute auf zweihundertdreiundneunzig an; einhundertundsiebenundachtzig waren von Engländern, neununddreißig von Franzosen und Savoyarden, einundzwanzig von Amerikanern, neunzehn von Deutschen und neun, von Schweizern ausgeführt worden. Eine der merkwürdigsten und in socialer Hinsicht für unsere Zeit charakteristischesten Besteigungen fand im September 1865 statt, als eine Anzahl in Chamounix in Dienst stehender Kellner und Commis, denen sich mehrere Modistinnen (wahrscheinlich die schon oben erwähnten vier Damen) anschlossen, dieses Wagniß fast ohne Führer unternahm und, wenn auch mit vielen Schwierigkeiten, doch glücklich überstand. Damit wären also jene kühnen Unternehmungen, welche bis zur neuesten Zeit immer noch einen gewissen exclusiven Beigeschmack trugen, vollständig demokratisirt und auch an der Geschichte der Montblancbesteigungen der Culturfortschritt schlagend nachgewiesen worden. Aristokraten unter den Bergsteigern, die immer gern etwas Apartes für sich haben wollen, suchen sich bereits neue, gewagtere Ziele, und der englische, schweizerische und andere Alpenclubs sorgen dafür, daß unsere Nachkommen schwerlich noch jungfräuliche Alpengipfel zu überwinden finden werden.

W. Lampmann.




Blätter und Blüthen.


Ein Aschermittwoch unter Vagabunden. In dunkler, regnerischer Nacht verließ ich eine der stillen, gartenreichen Vorstädte, die London umkränzten, um einer eigenthümlichen Versammlung beizuwohnen. Scheußliche Scenen, die im Lambether Armenhause spielen, waren unlängst in der „Pall-Mall-Gazette“ mit grausiger Treue abconterfeit worden und hatten die Stadt, ja ganz England in Aufregung versetzt. Die größte Theilnahme erregte die Angabe, daß eine Menge obdachloser, auf den Verbrecherpfad getriebener Knaben in den „casual wards“ (Schuppen) jenes Armenhauses allnächtlich mit den abgefeimtesten alten Schurken und Strolchen zusammenlagern, daß sie dort in Nichtswürdigkeiten jeder Art unterrichtet werden und daher die Welt der Diebe, der Garottirer und der Galgenvögel gewissermaßen ihre nächtliche Hochschule in diesen traurigen Schlafhöhlen aufgeschlagen hat.

Ein Versuch sollte nun gemacht werden, die jugendlichen Vagabunden zu einem Meeting zusammenzubringen. Ihre Zahl beläuft sich in London auf etwa zehntausend. Zehntausend obdachlose Knaben treiben sich als verlorene Straßenläufer, wahre Bilder des Elendes, in dem hiesigen Menschen-Ocean herum! In den „Workhouses“ (sog. Arbeitshäusern), wo ein Theil von ihnen gelegentlich des Nachts Schutz sucht, hatten die Oberaufseher, durch die Direction des „Refuge for Homeless and Destitute Children“ (Asyl für obdachlose und mangelleidende Kinder) dazu aufgefordert, eine Mittheilung ergehen lassen, es werde in dem genannten Zufluchtshause am diesjährigen Aschermittwoch, den 14. Februar, eine solche Versammlung stattfinden. Indessen bedurfte es natürlich eines Lockungsmittels. Das Versprechen eines guten Nachtessens wurde gewählt; bei dieser Gelegenheit wollte man den zerlumpten, barfüßigen, ausgehungerten Bettelbuben und frühreifen „Zuchthausbesen“ einen Beweis des Mitleids geben und ihnen den Weg zu besserem Lebenswandel öffnen. Unter den schönsten Tugenden Englands – welches auch sonst seine Fehler sein mögen – ist die Mildthätigkeit zu nennen. Sein Fabrik-Proletariat ist ein schreckliches; in seinen großen Städten haust eine grimme, verthierte Armuth; aber sobald im gegebenen Falle ein Aufruf zur Hülfe erlassen wird, fehlen auch die Gaben nicht. Darin, wie in der Opferwilligkeit für Staats- und Parteizwecke, leuchtet England in Europa, leuchtet aber die amerikanische Republik allen anderen Völkern voran. Zahllose Wohlthätigkeitsanstalten sind aus britischem Boden hervorgegangen. Die zweimalige Gabe jedoch, die ein in London seßhafter amerikanischer Kaufmann, Hr. Peabody, für solche Zwecke in England gespendet hat, übertrifft alles je von Engländern Geleistete. Drei Millionen Gulden (250,000 Pfd. Sterl.) hat er der Verbesserung des Looses der arbeitenden Classen gewidmet; eine Schenkung, die „fürstlich“ zu nennen wohl eine Unterschätzung wäre.

Als ich in dem „Zufluchtshause für obdachlose und arme Kinder“ in Great Queen Street anlangte, fand ich bereits den größeren Theil der herbeigeladenen vagabundirenden Knaben um die schmalen Tische gereiht, das versprochene Nachtessen erwartend. Die Räumlichkeit war ehemals eine Wagenschuppen gewesen; hölzerne Pfosten stützten die niedrige Decke; die Beleuchtung war eine schwache. Am anderen Ende des Saales waren zwei Polizeimänner aufgestellt.

Da saßen sie, die Verlorenen und Verlassenen, die Auswürflinge des unaussprechlichsten Elends, eine Musterkarte von Zerrissenheit und ungewaschener, ungekämmter Verwahrlosung bildend. Sie waren übrigens still und ruhig, fast in peinlicher Weise. Sie harrten dem „Futter“ entgegen. Allmählich trollten noch ein Paar Spätlinge herein, schlotternden Ganges oder mit sonderbar ausgespreizten Beinen. Ein Wald von Haarwuchs bedeckte die Köpfe Aller. Einige trugen Wämmser, die ihnen bis an die Knöchel reichten; die Hosen waren nur noch stückweise zu erkennen. Ein paar hatten kaum das Hemd auf dem Leib, um die Hüften hingen sonderbare Fahnenfetzen; klappernd vor Kälte wackelten sie in den Saal herein und lugten mit thierisch scheuem Blick umher. Einige hatten verkrüppelte Glieder. Die Krücke diente dem Einen oder dem Anderen, um herbeihumpeln zu können; die Mehrzahl schien jedoch kräftigen Gliederbaues zu sein. Man sah blasse, abgehärmte Gesichter, eingefallene Wangen, auch einige Antlitze, auf denen sich, wenn der Schein nicht trog, frühzeitige Verworfenheit malte. Im Ganzen war die Gesichtsfarbe jedoch nicht schlecht; Manche freilich zeigten eine hektische Röthe und geisterhaft glänzende Augen. Es waren ein paar höchst confiscirte Physiognomien, aber auch nicht wenige ausdrucksvolle Köpfe dabei, mit nobel geschnittenen Zügen. Die im Allgemeinen schöne Form des englischen Stammes ließ sich selbst unter diesem Abschaum nicht verkennen. Irländer, däuchte mir, waren kaum da, obwohl diese celtische Nationalität den ärmsten Pöbel Londons bildet. Sie mochten fürchten – und diese Befürchtung, wie sich nachher herausstellte, hatte in der That Viele vom Kommen abgehalten, es sei von der Polizei eine Falle gestellt worden, um bei dieser Gelegenheit einen Fang zu thun oder wenigstens gewissen Geheimnissen der armen Gäuche auf die Spur zu kommen. Der Irländer ist von Herzen gewöhnlich gutmüthiger, als sein englischer Cumpan, aber doch auch wieder eher zum Mißtrauen geneigt.

Gegen zweihundert Knaben, im Alter bis zu sechszehn Jahren, waren an den Tischen versammelt. An einem Ende des Saales saßen achtzig reguläre Bewohner des Zufluchtshauses beisammen, und der Contrast zwischen diesen gewaschenen, gekämmten, anständig gekleideten Jungen, die doch ehemals gerade solche verstruppte Straßenwildlinge gewesen waren, und den zur Speisung geladenen Lazarussen war außerordentlich. Zwanzig Knaben des Zufluchtshauses machten die Aufwärter. Das Abendessen bestand aus einer schönen Portion saftigen Rindfleisches, mit einem Laibchen Weißbrod, einer kleinen Kanne Kaffee und einem Pfund Plumpudding. Ein stämmiger Krieger hatte nicht mehr verzehren können.

Stille, nur durch Hüsteln unterbrochen, hatte bis dahin geherrscht, und noch größere Stille, wo möglich, trat ein, als es an das Leeren der Teiler ging. Man konnte übrigens bemerken, daß derjenige, der an einem Tische das Weiterreichen zu besorgen hatte, dies stets mit Sorgfalt, selbst mit Geschick that und nichts für sich nahm, bis Alle versehen waren, und daß kein Versuch gemacht wurde, dem Aufwärter mehr abzunehmen, als für einen Tisch bestimmt war. Auch mit Gabel und Messer hantirte diese ruppige Gesellschaft ganz manierlich. Was an Unterhaltung vorkam, geschah in dem „Unterton“, der in englischer Privatconversation Sitte ist; man hätte fast glauben mögen, die Caricatur eines „stuck-up dinner“ (eines prätentiösen Gastmahls) sei beabsichtigt. Nur das verdächtige Kratzen am Kopf und an anderen Körpertheilen gehörte nicht zur Rolle. Gabel und Messer wurden zu häufig niedergelegt, um diese unaufschieblichen Geschäfte zu verrichten. Der Geruch, den die Versammlung verbreitete, war zudem, namentlich am oberen Ende der Räumlichkeit, fast überwältigend – „zoologisch“ im gefährlichsten Sinne des Wortes. Er streifte manchmal in’s Zibetkatzenartige über, und gern schöpfte man am Eingange von Zeit zu Zeit Luft.

War es still gewesen während des Fleisch-, Brod- und Kaffeegenusses, so verwandelte sich die Scene plötzlich, als das Nationalgericht, der Plumpudding, unerwartet hereinkam. Da brachen die armen Schwartenhälse, die dergleichen wohl lange nicht genossen haben mochten, in ein lang anhaltendes „Hurrah“ aus, daß der Saal erzitterte und es den Aufsehern alle Mühe kostete, die Ruhe wieder herzustellen. Viele Gesichter zitterten förmlich krampfhaft vor Vergnügen. Die Tollsten renkten sich fast Arme und Beine aus, um ihren Gefühlen Luft zu machen. Es war ein Kappenschwenken und Jauchzen, wie von den glücklichsten der Erdensöhne.

In den Pausen setzte ich mich an den und jenen Tisch, um durch Fragen Auskunft über das Loos der Obdachlosen Londoner „Beduinen“ zu erlangen. Aus der Unterhaltung einiger anderen anwesenden Herren mit diesem jugendlichen Volk der Hadern hörte ich ebenfalls manches Traurige. Vater und Mutter hatten die Meisten verloren oder nie gekannt.

„Wo sind Deine Eltern?“

„Weiß nicht!“

„Wann hast Du sie zum letzten Male gesehen?“

„Kann mich nicht mehr erinnern!“

„Wie heißt Du?“

„Man nennt mich Langkopf; die anderen Kerle haben mir den Spitznamen gegeben.“

„Wo schläfst Du?“

„In einem Loch in den Lambether Töpfereien.“

„Und Du?“

  1. Sowohl die sehr gelungene Abbildung wie überhaupt die Anregung zu dem obenstehenden Artikel verdanken wir Herrn Rudolf Bunge in Köthen, der vor einigen Jahren unter besonders ungünstigen Umständen bis nahe zur Spitze des Montblancs gelangte und uns über diese seine interessante Bergsteigung ein reichhaltiges Material übergab, dessen Benützung wir uns vorbehalten.
    Die Redaction.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_143.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)