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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 10.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


Als sie aus dem Hause fort war, stürzte er sich gewaltsam in seine patriotische Thätigkeit. Er correspondirte und conferirte viel, wenn aber das Ave-Maria-Läuten verklungen und die Sonne gesunken war, dann wandelte die hohe Gestalt Karl Hornemann’s mit dem wunderlich langen Rocke, in dessen Taschen er die Hände zu bergen pflegte, und der wackelnden Troddel auf dem Käppchen durch die Arbeiterquartiere, wo Blaukittel und ärmliche Weiber und schreiende Kinder im Abenddufte der Straßen lustwandelten und sich tummelten zwischen den engen Häuschen des Windbuckels, einer ziemlich hohen Terrainwelle, welche die Stadt mit in ihr Bereich gezogen hatte. Hier wohnte die Armuth der Weber, Spinner und Spuler. Mitunter fand man ihn auch um die Abendstunde in der Gegend am Flusse, wo das kleine Handwerk sich aufgehäuft hatte. Es war eine schwere Zeit; frühere Mißernten hatten nur spärliche Vorräthe der nöthigsten Lebensbedürfnisse hinterlassen. Fleischer, Bäcker, Höker und gewissenlose Speculanten machten sich den Mangel zu Nutze und steigerten die Preise zu unerträglicher Höhe; es war Karl Hornemann’s Verdienst, daß man bisher Krawalle verhütet hatte, welche jener Classe von Leuten anderwärts bereits gefährlich geworden waren. Auf seinen Rath hatten die vermögenden Häupter der demokratischen Bewegung ein Unterstützungssystem eingerichtet, dessen Seele er schon um seiner genauen Localkenntniß willen geworden war; sein früherer Verkehr mit der städtischen Armuth hatte jene Idee geboren. Und wie praktisch erwies sich dieselbe! Nichts war leichter, als sich auf diesem Wege die Sympathien zu binden, die vorzeitige Entladung von Zündstoff zu verhüten und die Garantie zu schaffen, daß der geeignete Moment die Vollzahl der Kämpfer hinter der flatternden Fahne finden würde. Billig war die Organisation freilich nicht; es hatte daher guten Grund, wenn man um einen oder den andern Halbmillionär der Union warb.

Auf diesem Boden war der Club entstanden, der sich für einige Zeit wieder in seine Elemente aufgelöst hatte, und er wurde jetzt weiter gepflegt in kleinen Versammlungen von einem Dutzend Menschen. Zwischen den großen, kräftig-geschmeidigen Gestalten, welche der Menschenschlag jener Gegend lieferte, saß der Pascha, umgeben von jener zutraulichen Ehrfurcht, wie sie der echte Volksmann genießt, die Zeitung oder irgend einen Brief in der Hand, und sprach in seiner klaren Weise, der eine merkwürdige Kraft innewohnte, von seinen Idealen wahrer Volksfreiheit und den parlamentarischen Vorgängen in der Hauptstadt, von den jüngsten zwei königlichen Botschaften, welche noch immer nichts von der unbegrenzten Controle der Steuerzahler über die Staatsfinanzen wissen und die Berufung des vereinigten Landtags der Cabinetswillkür vorbehalten wollten, vom Dissidenten- und Preßmaßregelungen, von Judenemancipation und der Strafgesetznovelle. Er pries die muthige Haltung der Abgeordneten und erzählte mit flüsternder Stimme von dem heimlichen Bruderbunde in allen Ländern, der still die Minengänge bohrte und das Pulver hineinstreute, bis die Freiheitsfackeln lodern und die dunkeln unterirdischen Schlangen sich entzünden und aufjauchzend die Zwingburgen der Knechtschaft auseinander splittern würden.

Mit Urban, der dem Bunde unentgeltlich seine Thätigkeit als Arzt zur Verfügung gestellt hatte und der sonst im engsten Anschlusse an den Pascha zu wirken pflegte, war dieser noch nicht wieder zusammengetroffen. Sie mieden sich instinctmäßig. Die Leute, welche der Verkehr mit dem Doctor zusammenführte, fanden ihn bald ungewöhnlich lustig, bald in sich gekehrt, zerstreut, bissig und ungenießbar, und seine Patienten klagten mehr denn je über rücksichtslose Behandlung. Man sagte ihm nichts davon, denn man fürchtete seine Zunge.

Er hatte von Emilie noch ein einziges Lebenszeichen bekommen – den Abschiedsbrief, ein kurzes Billet, dessen Inhalt ihm das Räthsel ihrer Trennung nicht löste. Es lautete: „Innig Geliebter – es ist das letzte Mal, daß ich Dich so nennen darf, denn wir sind geschieden für immer; es giebt keine Brücke mehr zwischen uns, nur einen Abgrund, und ich fühle die Kraft zu verhüten, daß wir in denselben stürzen. Zehren wird mein Gatte; es waltet ein Verhängniß, das es so will; versuche nichts, um meinen Entschluß zu erschüttern! Du würdest nur das Eine erreichen: mein Unglück schwerer zu machen. Mein Herz ist todt, und ich lebe nur noch meiner Pflicht, und diese würde mir gebieten, jeden Brief, den ich von Dir erhalten würde, ungelesen den Flammen zu übergeben. Vergiß, daß wir uns geküßt haben und daß mein Herz Dir gehört hat! Die verwelkten Blätter meines Glückes gebe ich dem Winde. Emilie.“

Das Billet war am Tage nach dem Fluchtversuche geschrieben worden. Einmal nur waren sie einander auf der Straße begegnet, und Urban war mit raschem Entschlusse auf sie zugetreten, aber sie hatte ihn fremd und verwundert angeblickt, wie einen Unbekannten, ohne seinen Gruß zu erwidern, und war mit beschleunigtem Schritte weiter gegangen. Und wie er sich besonnen gehabt, mit blassen Lippen und das Herz voll tiefen Grolles, da hatte er sich zweierlei mit schwerem Eide gelobt: „Ich werde sie dennoch sprechen, und ihn – ihn werde ich verderben.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_157.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2019)