Seite:Die Gartenlaube (1884) 364.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

in Alarm versetzt wird. Wären Angst und Sorge geringer und die stillschweigende Beachtung der Vorsichtsmaßregeln größer, es wäre für manche Mutter besser und manche Epidemie würde im Keime unterdrückt werden können.

Leicht zu vermeiden ist es freilich nicht, solche winzige Partikelchen aus dem Krankenzimmer zu verschleppen, und es wäre wohl viel besser, wenn die Mutter oder Pflegerin jeden Verkehr mit den gesunden Familienmitgliedern aufgeben, wenn sie sich mit dem Kranken isoliren könnte. In den seltensten Fällen aber dürfte dies durchführbar sein, ebenso wenig wie der Arzt, bei aller Sorgfalt, mit der er sich vor dem Verlassen des Krankenbettes zu desinficiren bemüht ist, dies vollkommen genug thun kann, um nicht selbst zum Träger der Infection Anderer zu werden. Es ist nicht unmöglich, daß der Arzt selbst, während er von Haus zu Haus eilt, um den Leidenden Genesung zu bringen, auch Ansteckungsstoffe mit sich trägt, welche Anderen, ja vielleicht seiner eigenen Familie Verderben drohen.

Aerztliche Besuche sind aber wenigstens eine Nothwendigkeit. Nichtärztliche Krankenbesuche, oft nur der Ausdruck conventioneller Theilnahme, könnten und sollten eingeschränkt werden.

Wie die Menschen, so können auch Thiere Träger der Ansteckung sein. In den Haaren des Hundes oder der Katze, in den Federn des Vogels können sich Krankheitskeime hartnäckig festsetzen und so aus dem Zimmer verschleppt werden. Hat man doch beobachtet, daß selbst die Stubenfliege diese Rolle übernehmen kann, indem sie Spaltpilze und Sporen weiter- und auf Nahrungsmittel überträgt.

Ein Schleichpfad der Ansteckung, auf den erst in dem letzten Jahrzehnt hingewiesen wurde, ist die Verwendung von Wasser aus inficirten Brunnen. Man hat Epidemien in solchen Familienkreisen entstehen sehen, welche aus einem bestimmten Landgute die Milch bezogen, und gefunden, daß ein Zusatz von verdorbenem Wasser hieran Schuld trug. Auch der innerliche Gebrauch von Eis aus verunreinigten Teichen hat zu Epidemien Veranlassung gegeben.

Ueberhaupt ist es oft nur dem Arzte, der so viel bei Hoch und Niedrig verkehrt, möglich, einen Einblick in manche verborgene Ursache der Ansteckung zu gewinnen. Wenn er sieht, wie unmittelbar neben dem Verkaufsraum eines Bäckers oder Victualienhändlers, in der Werkstätte einer Schneiderin und in dem ärmlichen Dachstübchen, wo irgend eine Haus-Industrie betrieben wird, Kinder mit Scharlach, Diphtherie, Masern, Keuchhusteu etc. liegen, wo die Eltern ab und zu gehen und Alles in diesem Raum inficirt sein muß, dann wird er sich nicht wundern, wenn mit den Waaren auch die an Allem haftenden Mikrokokken in Hunderte von Häusern wandern und dort gleiche Krankheiten erregen, deren Ursprung ganz räthselhaft erscheint.

Aussichtsthurm auf dem Astenberg.
Originalzeichnung von Richard Püttner.


Die Wenigsten sind sich überhaupt dessen bewußt, welche Rolle die Einrichtungsgegenstände eines Krankenzimmers bei dem Festhalten und Weiterverbreiten von Ansteckungsstoff spielen. Monate lang haftet er in den Tapeten, an Möbels, in Polstern; Betten und Vorhänge – letztere bekanntlich förmliche Staubfänger – gewähren ihm ein beliebtes Asyl. Selbst durch ein Clavier, das im Krankenzimmer verblieb und in seinem Innern nicht gereinigt werden konnte, wurde er weiter getragen. Mit Löffeln wandert er von Mund zu Mund, mit der Leibwäsche, besonders mit Hand- und Taschentüchern durch andere Räume der Wohnung, mit Lese-Journalen und Leihbibliothekbüchern von Haus zu Haus, und gar manches arme Kind, dem die Kleider oder Spielsachen eines verstorbenen Altersgenossen geschenkt wurden, empfing damit ein gefährliches Geschenk. Man hat Briefe, die aus inficirten Wohnräumen kamen, Briefmarken, die kranken Kindern gehört hatten, Droschken, in denen kleine Patienten dem Krankenhause zugeführt wurden – kurz, die verschiedensten Dinge der indirecten Uebertragung des Krankheitsgifts beschuldigt – oft gewiß mit Recht und auf Grund guter Beachtung. Als Curiosum muß freilich beigefügt werden, daß bei der letzten Cholera-Epidemie eine aus Alexandrien abgesandte Depesche vierundzwanzig Stunden später in Wien anlangte, weil sie unterwegs desinficirt worden war. Der wahren Verbreitungswege giebt es jedoch so zahllose, daß sie sich in einer kurzen Schilderung gar nicht erschöpfend anführen lassen.

In der Familie und zwar besonders in dem gut situirten Hause, wo Reinlichkeit, Lüftung und Desinfection zu Gebote stehen, werden krankheiterregende Pilze nicht Zeit und Gelegenheit haben, sich massenhaft anzusammeln und weiter zu entwickeln. Anders in den engen, überfüllten Wohnungen der Armen, in Localen, welche weder an Sauberkeit, noch an Ventilation den nöthigen Ansprüchen genügen. Hier findet gewissermaßen eine Verdichtung der Ansteckungsstoffe statt, und daher die viel stärkere, verheerendere Wirkung derselben in solchen Kreisen. Aehnlich liegen die Verhältnisse auf Schiffen, in Schulen, Spielschulen und Kinderbewahr-Anstalten. Es ist ganz natürlich, daß in allen Räumen, wo größere Mengen von Menschen vereinigt sind, die Krankheitskeime concentrirter und dann, selbst durch Ventilation und Desinfection, viel schwerer zu bekämpfen sind. Ein Zerstreuen und Isoliren der Kranken verdünnt und schwächt die Ansteckungskeime, ebenso wie dies gegen das Ende von Epidemien dadurch geschieht, daß die empfänglichen Personen alle durchseucht sind. Die Wirkung des Krankheitsgiftes läßt auch dabei, ähnlich wie in Folge der Impfung, nach.

Das englische Sprüchwort: „Prevention is better than cure“ (Verhüten ist wichtiger als behandeln), ist gerade bezüglich der ansteckenden Kinderkrankheiten ein Wahrwort. Denn hier gilt es aufzuklären und zu belehren, damit die Kenntniß und Fertigkeit in allen nöthigen Schutzmaßregeln jeder Mutter rechtzeitig geläufig sei, ehe etwa bei einem dringenden Fall Gefahr im Verzuge ist oder überhaupt jede Maßregel zu spät kommt. Es ist geradezu bedauernswerth, wie eine Hausfrau, die sich in den Tagen der Gesundheit ihrer Kinder absolut um Nichts kümmert, was sie über Ansteckung und Desinfection wissen und können sollte, plötzlich bei dem Hereinbrechen der Seuche in ihren Familienkreis vollständig den Kopf verliert und Alles gethan zu haben glaubt, wenn sie „vor Angst keine ruhige Stunde hat“ und das Uebertriebenste unternimmt. „Mein Killd wird mir doch nicht krank werden?“ Diese halb fragende, halb gegen jeden Eingriff einer höheren Macht gegen Leben und Gesundheit ihrer Kinder, für die sie wohl einen Ausnahmsschutz beansprucht, fast frevelhaft protestirende Aeußerung ist die ganze Summe ihrer mütterlichen Fürsorge.

Würde sich dieselbe Frau in gesunden Tagen ruhig die Frage vorlegen: „Was kann ich thun, um mein Kind vor Ansteckung zu schützen?“ und nun ruhig, bedächtig, umsichtig einfach ihre Pflicht thun, so würde die Gefahr nicht nur viel seltener an das Glück ihres Hauses herantreten, sie würde auch gefaßt, wohlbewandert, voll Geistesgegenwart dem Eindringling gegenüberstehen und in ihrer Pflichterfüllung stets den besten Halt, die beste Ueberzeugung finden, nach menschlichem Wissen Alles zur Vorbeugung oder Einschränkung der Infection gethan zu haben.




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_364.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2021)