Page:Schlick - Gesammelte Aufsätze (1926 - 1936), 1938.djvu/41

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was dieser versagt ist (sie können im Gegenteil nur weniger aussagen), sondern dadurch, daß sie nicht nur ausdrücken, sondern zugleich etwas anderes erreichen wollen. Sie wollen nämlich in letzter Linie Erlebnisse anregen und hervorrufen, das Reich des Erlebens in bestimmten Richtungen bereichern; die Erkenntnis ist für die Geisteswissenschaften (obwohl sie dies manchmal ungern zugeben) nur Mittel zum Ziel; die Dichtung erreicht das Ziel sogar ohne jedes Mittel durch direkte Erregungen. Nicht mit Unrecht stellt man daher manchmal dem Erkennen der exakten Wissenschaften das „Verstehen“ der Geisteswissenschaften gegenüber, welch letzteres eine Art von Erleben ist, das sich an gewisse Erkenntnisse anschließt. Der Historiker hat einen geschichtlichen Vorgang „verstanden“, wenn er sich die Erlebnisse verschafft (nacherlebt) hat, von denen er glaubt, daß sie auch in den an jenem Vorgange beteiligten Personen stattgefunden haben. Über das Wertverhältnis mag man denken wie man will — mir persönlich versteht es sich von selbst, daß Bereicherung des Erlebens immer die höhere Aufgabe, ja die höchste überhaupt bildet — nur hüte man sich vor der Verwechslung dieser so scharf getrennten Sphären: tiefes Erleben ist nicht deshalb wertvoller, weil es eine höhere Art der Erkenntnis bedeutete, sondern es hat mit Erkenntnis überhaupt nichts zu tun; und wenn Welterkenntnis nicht mit Welterlebnis identisch ist, so nicht deshalb, weil die Erkenntnis ihre Aufgabe nur schlecht erfüllte, sondern weil dem Erkennen seinem Wesen und seiner Definition nach von vornherein seine spezifische Aufgabe zufällt, die in ganz anderer Richtung liegt als das Erleben.

Erlebnis ist Inhalt, das Erkennen geht seiner Natur nach auf die reine Form. Unbewußte Einmengung des Wertens in reine Wesensfragen verführt immer wieder dazu, beides zu vermischen. So lesen wir bei H. Weyl[1]: „Wer freilich in logischen Dingen nur formalisieren, nicht sehen will — und das Formalisieren ist ja die Mathematikerkrankheit — , wird weder bei Husserl noch bei Fichte auf seine Rechnung kommen.“ Aber uns ist

  1. 1) Jahresber. d. deutsch. Mathemat. Vereinigg. 28, 1919. S. 85. Aus der neuesten Publikation Weyls jedoch (ich füge dies bei der zweiten Korrektur hinzu), seiner vortrefflichen „Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft“ in dem „Handbuch der Philosophie“, München und Berlin 1926, geht hervor, daß er mit den Voraussetzungen unserer obigen Ausführungen im Grunde völlig übereinstimmt. a.a.O. S. 22, Zeile 9—30.