Page:Schlick - Gesammelte Aufsätze (1926 - 1936), 1938.djvu/54

From Wikisource
Jump to navigation Jump to search
This page has been proofread, but needs to be validated.

Der künftige Historiker der Philosophie des XIX. und XX. Jahrhunderts wird festzustellen haben, daß in den auf Kant folgenden Systemen auch dort sehr wenig von dem Geiste der kritischen Philosophie übriggeblieben ist, wo man sich unmittelbar auf Kant berief oder seine Gedanken weiterzuführen glaubte. Von den auf Kant folgenden Systemen der Metaphysik bis Schopenhauer und weiter dürfte dies ziemlich klar sein. Es gilt aber auch von den Lobrednern Kantischer Methoden, die seine an der Newtonschen Physik orientierte Erkenntnistheorie auf die Geisteswissenschaften übertragen zu können meinten; und ebenso gilt es von den Kritikern Kants, die sich seiner Terminologie bedienen, ihr aber eine neue Bedeutung geben möchten.

Das große Verdienst, welches sich Kant zweifellos dadurch erworben hat, daß er seinen Begriff des a priori in der klarsten Weise abgrenzte und anwendete, wird in unserer Zeit besonders von den Phänomenologen verkannt und mißachtet, indem sie das Wort a priori in einer völlig unkantischen Weise verwenden und sich neue Definitionen dafür erdenken. Scheler z. B. schreibt, offenbar in guter Übereinstimmung mit der Ansicht Husserls („Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.“ 2. Auflage, Seite 43): „Als ,Apriori’ bezeichnen wir alle jene idealen Bedeutungseinheiten und Sätze, die unter Absehen von jeder Art von Setzung der sie denkenden Subjekte und ihrer realen Naturbeschaffenheit und unter Absehen von jeder Art von Setzung eines Gegenstandes, auf den sie anwendbar wären, durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zur Selbstgegebenheit kommen.“ Es wäre natürlich völlig unerlaubt, hier das Wort a priori zu verwenden, wenn das durch diese Definition Gegebene gar nichts mit der von Kant festgelegten Bedeutung gemeinsam hätte. Und es ist sicherlich auch die Ansicht der Phänomenologen, daß eine solche Gemeinsamkeit vorhanden ist. Und zwar besteht sie offenbar darin, daß mit diesem Wort ebenso wie bei Kant, die Quelle schlechthin allgemeingültiger Sätze bezeichnet werden soll. Scheler und seine Gesinnungsgenossen sprechen